Umgang mit Sterblichkeit

Dem Tod das Leben entgegensetzen

04:33 Minuten
Ein Urnengab, ausgelegt mit grünem Kunstrasen und dekoriert mit Blütenblättern.
Wir sollen den Tod nicht schönreden, aber ihn auch nicht verdrängen, meint die Religionsphilosophin Gesine Palmer. © laif / Katja Hoffmann
Überlegungen von Gesine Palmer · 04.12.2020
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Der Tod macht vielen Menschen Angst. Deshalb vermeiden sie es, über den Tod als Bestandteil des Lebens zu sprechen. Unsere Autorin Gesine Palme hält dagegen: Unser Leben würde besser, wenn wir es im Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit lebten.
Wer an sommerlichen Tagen einmal in den Sophienhöfen in Berlin Mitte einen Kaffee getrunken hat, mag vielleicht ein gelbes Schild bemerkt haben, das dort an einer Ziegelwand angebracht ist. In schwarzen Lettern, die auf solchen Schildern üblicherweise Regeln für das richtige Verhalten zu Mülltonnen oder zu Seilzugvorrichtungen bekannt geben, steht dort:
"Der Tod muss abgeschafft werden. Diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter. Bazon Brock."
Als ich das zum ersten Mal las, stand ich gerade am Anfang meiner Tätigkeit als Trauerrednerin und fühlte mich gleich schuldig. In meiner Arbeit mit trauernden Menschen muss ich trösten. Verrate ich damit die andere, die um intellektuelle Redlichkeit bemühte Seite meiner Arbeit?
Ich versuche, das nicht zu tun – den Skandal oder die Schweinerei des Todes nicht zu beschönigen. Der Tod ist empörend, und er bleibt es. Da ist nicht nur sein Allesauslöschen, seine Unnachgiebigkeit gegenüber unserem Bleibenwollen, seine Endgültigkeit und Allgemeinheit – da ist auch diese unglaubliche Fahne, die er vor sich her wehen lässt, die uns einschüchtert.
Wo er droht, da sind wir gut beraten, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Und da neigen wir schon mal dazu, mehr als nur die intellektuelle Redlichkeit zu verraten. Grund genug, sich schließlich nicht nur gegen jeden, der sich zum Sprecher einer Todesdrohung macht, zu empören, sondern schließlich gegen den Tod selbst.

"Death Positive"-Bewegung: gegen Vermeidungsstrategien

Freilich, der Tod hat immer wieder auch Anwälte und Fürsprecher. Da ist nicht nur die 2011 von der kalifornischen Bestatterin Caitlin Doughty gegründete "Death Positive"-Bewegung. Ihr geht es im wesentlichen darum, vermeintliche oder wirkliche kulturelle Vermeidungshaltungen zu verändern und Menschen zu ermuntern, sich mit ihrem Tod aktiv auseinanderzusetzen.
Nicht alle laufen da gleich zum Tod über und erklären ihn zu etwas Gutem. Sie wollen nur, da er einmal unvermeidlich ist, das tun, was letztlich auch alle Traditionen wollen: ihm seinen Stachel nehmen, sich von seinem Bevorstehen nicht einschüchtern lassen, das Leben vielmehr mit dem Ernst ausstatten, den es durch die Tatsache des Todes bekommt.
Das Bewusstsein des Todes gibt dem menschlichen Leben ja auch das Bewusstsein von der Einmaligkeit jedes Augenblicks, die in unseren Lebensplanungen und unseren Trainingsroutinen oft vergessen wird. Um es mit den Worten des jüngst verstorbenen Friseurs Udo Walz zu sagen: Das Leben ist keine Generalprobe.

Der Tod ist kein Sinngeber des Sinnlosen

Mit Fürsprechern des Todes meine ich eher Argumentationen, die den Tod als Sinngeber des Sinnlosen preisen. Wenn ein an sich nicht besonders ehrenwerter Rivalitätskampf um Gebiete, Ressourcen oder fragwürdige Ehrbegriffe dadurch an Wert zu gewinnen scheint, dass Menschen dafür gestorben sind. Wenn ein Bekenntnissatz dadurch an vermeintlichem Wert gewinnt, dass jemand ihn unmittelbar vor seinem Tod ausgesprochen hat. Wenn ein körperlich gesunder Mensch von Sterbehelfern in seinen suizidalen Absichten bestärkt wird, weil seelische Krankheiten genau so schlimm seien wie körperliche.
Dieser Skandal muss tatsächlich aufhören. Der eingangs zitierte Ausspruch von Bazon Brock gewinnt seinen künstlerischen Witz aus der offenkundigen Unmöglichkeit, den Tod selbst als einen besiegbaren Feind zu bekämpfen. Da der Tod nicht abzuschaffen sein wird und unser Leben als begrenztes gelebt werden muss, werden wir uns wie alle Generationen vor uns damit abplagen, ihm so viel Leben wie möglich entgegenzusetzen.
Die Auffassungen darüber, wie das am besten geht, werden immer vielfältig bleiben und sollen das auch. Nur eines sollten wir uns nicht gestatten: Nach dem von Nietzsche ausgerufenen Tod dessen, was von Gläubigen noch immer Gott genannt wird, den Tod selbst an die freigewordene Stelle aufrücken und zur letzten Berufungsinstanz für moralische Urteile werden zu lassen.

Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind Religion, Psychologie und Ethik – im Kleinen der menschlichen Beziehungen wie im Großen der Politik.

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