Früher verschmäht, heute heiß begehrt
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Außerhalb des Dreiländerecks Deutschland, Polen und Tschechien sind Umgebindehäuser kaum bekannt. Dabei sind sie ein wahrer Architekturschatz, irgendwo zwischen Fachwerk und Blockhaus. In der Oberlausitz entdecken jetzt viele junge Familien diesen Schatz.
Die Oberlausitz ist nicht nur bekannt für schöne Städte wie Görlitz und Bautzen. Sondern auch für einen Baustil, den man außerhalb dieser Region kaum findet: das Umgebindehaus.
Nach der Wende haben viele Menschen der Oberlausitz den Rücken gekehrt. Doch in den letzten Jahren dreht sich der Wind. Immer mehr Menschen kommen zurück und immer mehr junge Leute entdecken die kleinen, urigen Umgebindehäuser für sich.
Arnd Matthes führt durch das ehemalige Scharfrichterhaus in Lissahora bei Bautzen. Mit dem Finger fährt er Rillen in der Lehmwand nach:
"Das ist eine Sense. Wir sehen auch hier die Sensenklinge ganz deutlich und hier eine Rundung, das kann auch ein Kopf sein."
20.000 Häuser, davon 6000 unter Denkmalschutz
Das Scharfrichterhaus von 1710 ist ein Haus mit Geschichte und ein Umgebindehaus. Herzstück eines Umgebindehauses ist die Blockstube im Erdgeschoss aus mächtigen Stämmen. Das Fachwerk-Obergeschoss steht auf Ständern, die durch Holzstreben verbunden sind, das namensgebende Umgebinde:
"Es gibt hier in dem Dreiländereck, Oberlausitz, Polen und Tschechien noch an die 20.000 Häuser, die geschätzt werden. Wir können aber auf deutscher Seite sagen: Es gibt 6000 Häuser, die unter Denkmalschutz stehen."
Matthes ist Leiter der Stiftung Umgebindehaus, die sich seit 2004 um die Bewahrung der seltenen Häuser bemüht, von denen es einzelne Exemplare auch in Westsachsen und Thüringen gibt. Den dichtesten und größten Bestand gibt es aber im Dreiländereck Deutschland, Polen und Tschechien.
Ein Umgebindehaus kann man auch einfach umziehen
Doch wer durch die Oberlausitz fährt, sieht, dass viele der Kleinode, von denen keines dem anderen gleicht, dringend auf einen neuen Besitzer warten. Manche von ihnen sind vom Einsturz bedroht. So wie das Scharfrichterhaus von Lissahora.
Das Dach ist mit Planen abgedeckt, der Wind pfeift durch die Gefache. Der jetzige Besitzer will das Haus loswerden. Deshalb hat ein lokaler Verein beschlossen, das Haus abzubauen und auf einem gemeindeeigenen Grundstück wieder zu errichten. Es soll ein Bildungszentrum für traditionelle Bauweisen darin entstehen.
"Umgebindehäuser waren schon früher fahrende Habe", sagt Matthes. "Man kann die also zurückbauen, die Holznägel ziehen, das Fachwerk aufladen und dann mit dem Fuhrwagen woanders hinschaffen."
Bald werden viele Häuser frei
Doch das sei wirklich nur die allerletzte Rettung. In den kommenden Jahren werden viele Umgebindehäuser frei werden, meint Arnd Matthes. Grund sei, dass viele dieser Häuser von älteren Menschen bewohnt werden:
"Wir haben viele Objekte, wo nur noch eine Person wohnt. Die Häuser sind aber zur Zeit sehr gefragt. Wir haben eine Warteliste von über zehn Personen, die unbedingt jetzt ein Haus kaufen wollen. Und wir haben eine Börse auf die Website gestellt. Dort ist sehr viel Bewegung in den letzten zwei Jahren zu beobachten."
Die Gründe für das aufkeimende Interesse an den einstigen Ladenhütern auf dem Land sind vielfältig. Mieten und Kaufpreise sind für viele auch in den ostdeutschen Großstädten immer weniger erschwinglich. Seit Corona wächst das Bedürfnis, der Enge der Stadt entfliehen und einen eigenen Garten zu besitzen.
Das Raumklima schlägt jedes Fertighaus
In Seifhennersdorf steht das frisch sanierte Umgebindehaus der Familie Brugger. Das Umgebinde musste fast komplett ersetzt werden und erstrahlt in hellem Holz. Das Fachwerk mit seinen charakteristischen Andreaskreuzen wurde feinsäuberlich mit Lehm herausgearbeitet. Darin sitzen winzige, quadratische Fenster. Durch eines schiebt der Familienvater zur Begrüßung vorsichtig den Kopf. Markus Brugger stammt ursprünglich aus dem Schwarzwald:
"Wir haben vorher in München gewohnt und gearbeitet und sind dann im Zuge der Familienwerdung nach Großschönau gezogen und haben in einem Umgebindehaus zur Miete gewohnt. Und da hat man sich relativ schnell in diese Lebensweise verliebt gehabt und nach einem Jahr haben wir schon nach Häusern geschaut."
Vier Jahre habe die Sanierung gedauert, länger als gedacht. Vieles haben sie selbst gemacht. Allein 11.000 alte Dachziegel haben sie von Hand abgebürstet. Aber die Mühe hat sich gelohnt, sagt Anja Brugger:
"Wir wollen es nicht missen. Wenn wir in einem Fertighaus sind, kriegen alle verstopfte Nasen. Also vom Raumklima her ist ein Umgebindehaus einfach fantastisch. Im Sommer ist es kühl. Im Winter ist es schön muckelig warm."
Mehr Kulturregion, als man denkt
Anja Brugger ist Schulleiterin der örtlichen Grundschule. Ihr Mann hält Online-Vorlesungen an der Uni Mainz und der Hochschule Zittau.
Internetanschluss, Schule, Kita, eine Einkaufsmöglichkeit in erreichbarer Nähe. Das sind für junge Familien die wichtigsten Standortfaktoren, wenn sie sich entscheiden, aufs Land zu ziehen. Natürlich sei der Umzug von der Großstadt aufs Dorf eine Umstellung gewesen, gibt Anja Brugger zu:
"Mit Kindern verändert sich aber auch das Leben und man kann gar nicht mehr so viel nutzen, was in der Stadt angeboten wird. Aber wir wohnen ja hier ganz fantastisch international. Besonders ganz nah an der Grenze zu Tschechien. Wenn wir in die Oper gehen wollen, dann können wir in Zittau ins Theater gehen, nach Görlitz oder auch nach Liberec."
Außerhalb der Oberlausitz ist der Architekturtyp Umgebindehaus kaum bekannt. Und auch der neuerliche Zuzug von jungen Menschen aus den Städten sowie von Rückkehrern aus den westdeutschen Bundesländern können die demografische Entwicklung nicht umkehren.
Kindheitstraum Umgebindehaus
Deshalb sollten die Umgebindehäuser auch im geplanten Programm "Strukturwandel Lausitz", für den die Bundesregierung 40 Milliarden Euro zur Verfügung stellt, berücksichtigt werden, findet Joachim Mühle, Kultursekretär des Kulturraums Oberlausitz-Niederschlesien:
"Ich denke, man muss darüber nachdenken, wie man, auch durch den Strukturwandel, diese besondere und wertvolle Hauslandschaft erhält."
In Obercunnersdorf ist Jens Nieders damit beschäftigt, ein Schild neben der Haustür seines frisch sanierten Umgebindehauses anzubringen. "Deutscher Fachwerkpreis 2020" steht darauf. Jedes Bauteil hat er in mühevoller Kleinarbeit aufgearbeitet oder ersetzt. Im September ist er endlich fertig geworden. Eigentlich stammt der junge Volkswirt aus Berlin. Mit dem Umgebindehaus in Obercunnersdorf hat sich Jens Nieders einen Kindheitstraum erfüllt:
"Meine Großeltern haben bei Kamenz/Königsbrück gewohnt. Und wir haben öfters Ausflüge nach Bautzen und in die Oberlausitz gemacht. Da habe ich meine ersten Umgebindehäuser gesehen und das hat sich mir so eingebrannt, dass ich irgendwann selbst mal eines haben wollte."
Früher galten Umgebindehäuser als schäbig
Nieders lässt den Blick über die Nachbarschaft streifen. Hier in Obercunnersdorf reiht sich ein Umgebindehaus ans nächste. Ein Blumenstrauß aus Farben, Formen, kunstvollen Fensterumrahmungen und verzierten Türportalen. Er würde sich durchaus mehr Nachahmer wünschen:
"Es gibt noch sehr viele Häuser, die auf einen Bauherren warten, und das sind auch sehr schöne Stücke, sehr schöne Originale, die man erhalten kann und wo man sich ein sehr schönes Wohnumfeld für seine Familie schaffen kann."
Nach der Wende galten die Umgebindehäuser zunächst als altmodisch, ärmlich und schäbig. Doch in den letzten Jahren gab es eine Rückbesinnung auf diese regionale Besonderheit, sagt der sächsische Landeskonservator Alf Furkert.
Umgebindehäuser lassen sich auch gut modernisieren
Jana und Daniel Lindner hat es eher zufällig in ein Umgebindehaus verschlagen. Die Wirtsleute kündigten ihren Pachtvertrag für ein Restaurant in der Nähe von Dresden und machten sich auf die Suche nach etwas Eigenem. In Friedersdorf wurden sie fündig. Die alte Grenzschänke stand zum Verkauf. Ein dunkelgrünes Umgebindehaus direkt am Fluss, mit kleinem Bauerngärtchen davor.
Der Gastraum hängt voll mit alten Bildern, Hufeisen, Töpfchen und Krügen. Dabei hätten sie schon ordentlich aussortiert, erzählen die Lindners, einen modernen Touch reingebracht. Inzwischen können sie zu jedem Bild im Gastraum eine Geschichte erzählen. Das hat ihnen den Respekt der Einheimischen verschafft.
Jana und Daniel Lindner zeigen, dass ein moderner Lebensstil und ein altes Haus sich nicht ausschließen, sondern ergänzen können. Nach der Neueröffnung Mitte Oktober wurde Lindners Grenzschänke förmlich überrannt. Nach nur zwei Wochen kam der Lockdown. Trotzdem haben die beiden ein Lächeln im Gesicht. Sie haben ihre neue Heimat gefunden.