Umkämpfte Identitäten

Christen und Muslime vor der Wahl in Indien

10:32 Minuten
Tausende indische Muslime beten am frühen Morgen vor einem Gotteshaus in Neu Delhi.
Muslime in Indien: Tausende Gläubige beim Morgengebet vor der Moschee Jama Masjid in Delhi. © Daniel Berehulak / Getty Images
Von Gerd Brendel |
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Indien ist eine säkulare Republik – zumindest auf dem Papier. Aber die herrschende BJP-Regierung setzt zuallererst auf die Hindus, und sie setzt auf Polarisierung. Was bedeutet das für Minderheitsreligionen wie Muslime und Christen?
Sonntagmorgen in Kollam, einer Kleinstadt im südindischen Bundesstaat Kerala . In der syrisch-orthodoxen Mar Thomas Kirche segnet der Priester seine Gemeinde bevor der Altar mit dem Kreuz wieder durch einen Samtvorhang verdeckt wird. An einer Wand hängt das Porträt des Namenspatrons Mar Thomas, des heiligen Thomas. Auf ihn berufen sich die Christen Südindiens. „Wir glauben daran, dass der heilige Thomas im Jahr 52 nach Indien kam und das Wort Gottes predigte“, sagt Pfarrer Shiju George.
Nach dem Gottesdienst sitzt der Pfarrer in seinem Wohnzimmer und erzählt stolz die Geschichte seiner Kirche. Beweise dafür, dass Thomas wirklich nach Indien kam, gibt es keine. Aber es gibt Indizien. Zwischen der südindischen Malabar-Küste und dem römischen Reich bestanden Handelsbeziehungen. Das belegen die zahlreichen römischen Münzen, die hier gefunden wurden.
Shiju George trägt die schwarze Kopfbedeckung der orthodoxen Priester. Seit im 4. Jahrhundert eine Gruppe syrisch-orthodoxer Christen in Kerala landete, untersteht seine Kirche dem Patriarchen von Antiochien. Die Verbindung mit der syrischen Kirche drohte allerdings abzureißen, als die Portugiesen im 16. Jahrhundert Südindien kolonisierten. Sie setzten die einheimischen Christen unter Druck, sich der katholischen Kirche anzuschließen. Deren Widerstand war 1653 schließlich erfolgreich:
„Die Christen von Kerala banden sich unter ihrem Anführer, dem Erzdiakon Thomas Parambil, mit einem Seil an das Kreuz und schworen, niemals eine fremde Macht über ihre Kirche anzuerkennen“, erklärt Shiju George.

In der Kirche brennen Öllampen wie in einem Hindu-Tempel

Der steinerne Sockel steht bis heute vor der Kirche in Fort Kochi. Es gibt Historiker, die diese Kirchenrebellen als Vorkämpfer für die Unabhängigkeit Indiens sehen und Erzdiakon Thomas in eine Reihe mit Luther stellen. Die Trennung in eine romtreue und eine eigenständige Kirche unter dem syrisch-orthodoxen Patriarchen blieb nicht die einzige Kirchenspaltung. Aber für alle sogenannten Thomaschristen gilt, was Pfarrer Shiju sagt: „Unserem Glaube nach sind wir Christen, der Kultur nach Hindus.“
Davon zeugen viele Alltagsgewohnheiten und Bräuche. Zum Beispiel, dass in der Kirche von Pfarrer Shiju keine Kerzen brennen, sondern Öllampen wie in einem Hindu-Tempel. Und Shiju George weist auf eine weitere Gemeinsamkeit hin: „Dass der Bräutigam der Braut eine Kette um den Hals legt, haben wir von der Hindu-Kultur übernommen. Nur ist bei uns ein Kreuz an der Kette.“
Die Thomaschristen gehören zum indischen Subkontinent wie die Tempel Südindiens und die Bauten der Moghul-Herrscher. Aber genau das bestreiten Politiker der hindunationalistischen Regierungspartei BJP immer wieder. Deswegen ist auch für Pfarrer Shiju der Ausgang der Wahlen entscheidend."Die letzten fünf Jahre haben mir Sorgen gemacht“, sagt er. „Ich habe das Gefühl, dass es für alle Minderheiten bedrohlich wird, wenn diese Regierung wieder gewählt wird.“
In den vergangenen Jahren haben die Übergriffe auf Christen zugenommen; nicht in Kerala, aber im Nordwesten des Landes. Und wenn schon die Christen immer wieder als „unindisch“ angegriffen werden, dann gilt das um so mehr für die größte religiöse Minderheit des Landes, die Muslime. „In den letzten fünf Jahren haben Hassverbrechen und Lynchmorde zugenommen“, sagt die Soziologin Zoya Hasan. „Viele der Opfer waren muslimische Viehhändler, die fälschlicherweise beschuldigt wurden, Kühe geschlachtet zu haben.“
Zoya Hasan unterrichtete bis zu ihrer Emeritierung an der angesehenen Nehru-Universität in Neu Delhi. Sie beobachtet einerseits zunehmende Gewalt, andererseits eine verstärkte staatliche Einflussnahme auf die Medien: „Bis vor einem Jahr hatte die Hindustan Times eine eigene Rubrik für Hassverbrechen gegen Muslime, bis der Premierminister persönlich intervenierte und der verantwortliche Chefredakteur Bobby Gosh seinen Hut nehmen musste.“
Erste muslimische Gemeinden lassen sich schon in den ersten Jahren nach Mohammeds Tod belegen. Die erste Moschee errichteten arabische Händler in Kerala, später folgten muslimische Eroberer aus Afghanistan und schließlich die Mogul-Dynastie. Ihre Mausoleen und Moscheen prägen bis heute nordindische Städte. Aber es sind die Sufi-Schreine, in denen das Herz des indischen Islams bis heute schlägt.

Zu den Sufi-Schreinen pilgern Muslime und auch Hindus

Schreine wie das Kuppelgrab des Stadtheiligen von Delhi: Nizamuddin Auliya. Tausende pilgern täglich durch die engen Gassen zu seinem Grab in der indischen Hauptstadt. Und an jedem Abend werden ihm zu Ehren Qawwalis gesungen, die frommen Lieder indischer Mystiker.
Zu Nizamuddin pilgern alle, nicht nur Muslime. Es ist einer der Orte Indiens, wo der jahrelang gelebte gemeinsame Alltag von Hindus und Muslimen noch spürbar ist. Ein Alltag, der immer mehr verschwindet. „Muslime werden auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert, und arbeiten deshalb selbstständig oder im informellen Bereich“, sagt Zoya Hasan. „Und Muslime werden bei der Wohnungssuche diskriminiert.“
Die Geschichte zwischen Muslimen und Hindus auf dem indischen Subkontinent war immer wechselhaft. Aber für Zoya Hasan geht die eigentliche Ursache der zunehmenden Diskriminierung auf die Unabhängigkeit Indiens zurück. Sie brachte die Abspaltung des mehrheitlich muslimischen Pakistans mit sich.
„Ein großer Teil der Hindu-Mittelklasse hat den Muslimen nie die Teilung in Pakistan und Indien vergeben“, sagt Hasan. „Für sie ist das Land heilig. Sie verehren die Nation als Muttergöttin. Indien zu teilen ist für sie, als würde man die Mutter zerstückeln.“
„Seit 1947 musste jeder muslimische Politiker in Indien irgendwann seine Loyalität zu Indien unter Beweis stellen“, sagt Sajid Usmani. Er studiert Politologie an der Aligarh Muslim University, zwei Zugstunden westlich von Delhi gelegen. Mit 30.000 Studierenden ist sie eine der größten Universitäten des Landes und – anders als der Name vermuten lässt – alles andere als rein islamisch. Über ein Drittel der Studierenden kommt aus Hindu-Familien.

Universitätsgründer glaubte an aufgeklärten Islam

Mit neogotischem Glockenturm und Moscheekuppeln erinnert der Campus an eine Mischung aus Oxford und Moghul-Palast. Der Gründer Sir Sayed Ali Khan glaubte vor 150 Jahren an einen aufgeklärten Islam. Eine Vision, die Sajid unter den religiösen Führern heute vermisst: „Der bekannteste Protest unserer islamischen Religionsvertreter war gegen Salman Rushdie, als der vor ein paar Jahren auf dem Jaipur Literaturfestival sprechen sollte.“
Wir sitzen beim Tee vor der Uni-Bibliothek. Traditionelle islamische Kleidung trägt hier kaum jemand, auch Sajid nicht. „Ich sehe nicht aus wie ein traditioneller Muslim“, sagt er, „aber wenn ich zum Beispiel zu einer Podiumsdiskussion eingeladen werde, und ich weiß, dass es keine mehrheitlich muslimische Veranstaltung ist, trete ich erkennbar als Muslim auf: mit Gebetskappe und knielangem Hemd.“
So auch neulich, als Sajid als einziger Muslim an einem von der indischen Regierung organisierten „Jugend-Parlament“ in Delhi teilnahm. Sajid Usmani: „Ich habe angefangen, meine Identität ernster zu nehmen“, sagt Sajid. Vor ein paar Wochen wurde er mit anderen Kommilitonen von lokalen BJP Mitgliedern wegen „Aufruhr gegen den Staat“ angezeigt, nach einem Streit mit Parteigängern Modhis. Und vor wenigen Tagen, kurz bevor Sajid eine Diskussion mit der Schriftstellerin Arundathi Roy moderieren sollte, wurde der Student zur Provinzverwaltung zitiert:
„Da musste ich unterschreiben, dass ich weder den Premierminister beim Namen nennen würde noch den Ministerpräsidenten von Uttar Pradesh, den fundamentalistischen BJP-Politiker Yogi Adityanath, noch „Kaschmir“ und einige andere Begriffe verwenden würde.“
Roy und Usmani verständigten sich dann darauf, als Synonym für die umstrittene Provinz Kaschmir mit ihrer muslimischen Bevölkerungsmehrheit den Begriff „No man‘s land“ zu verwenden – Niemandes Land. Wenn ab dem 11. April im Heimatland von Pfarrer Shiju, von Zoya Hasan und Sajid Usmani gewählt wird, dann geht es genau um diese Frage: Wem gehört Indien? Nur der Mehrheit oder allen – Hindus, Christen, Muslimen, Andersgläubigen, und Atheisten – gemeinsam?
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