Umstrittene PR-Aktion

Louis-Vuitton-Koffer auf dem Roten Platz

Der Rote Platz in Moskau, in der Mitte ein riesiger Pavillon in Form eines Koffers von Lousi Vuitton.
Ein riesiger Louis-Vuitton-Koffer auf dem Roten Platz. Nach öffentlichen Protesten wurde er wieder abgebaut. © picture alliance / dpa / ITAR-TASS /
Von Karl Schlögel |
Schändlich sei der riesige Designerkoffer direkt gegenüber dem Lenin-Mausoleum, heißt es in Moskau. Das zuständige Ordnungsamt schickte einen Strafbescheid über 11.000 Euro an das verantwortliche Kaufhaus Gum. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel wundert sich darüber, denn der Ort habe eine lange "kapitalistische" Tradition.
Im ersten Augenblick, als das Bild im Internet auftauchte, traute man seinen Augen nicht. Es musste eine Fotomontage sein – so präzise, so inszeniert. Man kennt das Muster der Pariser Firma, die Farbe, aber die Dimension: fast so groß wie die Kaaba, ein Kubus. Vor allem aber die Umgebung. Basilius-Kathedrale, neorussischer Bau des Historischen Museums, das Pflaster des Roten Platzes – das ist ein irgendwie vertrautes Ensemble, selbst wenn man noch nie dagewesen war.
Und nun ein Vuitton-Koffer direkt gegenüber dem Lenin-Mausoleum. Zwei gigantische Kuben auf dem Roten Platz, der eine an der Kremlmauer, aus rotem Granit, leicht ansteigend, der andere vor der Fassade des Kaufhauses GUM, nicht minder groß: neun Meter hoch aufragend, 30 Meter lang, etwas quergestellt, als sei er vergessen und einfach abgestellt worden.
Der Rote Platz ist ein lieu de memoire des Kalten Krieges, gehört zur Bildwelt der nach dem Krieg geborenen oder aufgewachsenen Generation. In großer Regelmäßigkeit am 1. Mai, am 9. Mai, dem Tage des Sieges über Hitler-Deutschland, oder am 7. November, dem Jahrestag der Oktoberrevolution, sah man die Bilder im Fernsehen. Der Rote Platz, das waren die Paraden.
Nirgends hätte das modische Accessoire, das Symbol des Luxus und der Moden, einen solchen Sturm ausgelöst – eine ganze Wolke von Kommentaren, Kritiken, Deutungen im Internet aufgewirbelt. Der Roten Platz ist nicht irgendein Platz. Das Zentrum einer Weltmetropole, das zugleich Prominentenfriedhof, Nekropole war: mit Gräbern für Massenmörder wie Stalin und Dserschinski.
Der Rote Platz war lange ein Handels- und Marktplatz
Die Symbolik der Macht hat sich so sehr im Bildgedächtnis der Generationen festgesetzt, dass andere Geschichten überdeckt, ja gelöscht worden sind. Der Rote Platz war zuerst und am längsten ein Platz der Stadt, ein Handels- und Marktplatz, auf dem sich die Warenströme und Verkehrswege von Nord nach Süd und von West nach Ost kreuzten.
Dass auf der Längsseite des Platzes das Kaufhaus GUM, vor genau 120 Jahren als Passage, die einen ganzen Stadtteil umfasste, errichtet wurde, ist ein Indiz dafür. Vor der Revolution war es prachtvolles Zentrum der kapitalistischen Warenwelt, nach der Revolution heruntergekommen, aber für Generationen der Mittelpunkt und Endpunkt aller Sehnsüchte.
Vor allem aber: der Rote Platz war nicht nur der Ort inszenierter Aufmärsche und Paraden, sondern auch von gesellschaftlicher Unruhe und Rebellion. An diesem Platz also ein Symbol des Luxus und der Moden aufzustellen, das musste für Empörung sorgen.
Aber was besagt dieses Ereignis eigentlich? Der Markt ist auf den Platz, der von der Macht okkupiert und geprägt worden ist, zurückgekehrt. Die dynamische Metropole findet sich mit der Nekropole im Herzen der Hauptstadt nicht ab. Die PR-Aktion von Vuitton war nicht die erste und wird nicht die letzte sein.
Das am meisten charakteristische Accessoire war im postsowjetischen Raum aber nicht der Vuitton-Koffer, sondern jene Tasche, die man bald Jumbotasche, bald Chinesen- oder Türkenkoffer, aber auch Russenkoffer nennt. Gemeint sind jene blau-weiß-rot gemusterten, in vielen Größen produzierten, reißfesten und unendlich vielfältig nutzbaren Polyäthylen-Taschen, in denen Hunderttausende von Menschen als Ameisenhändler und Shopping-Touristen unterwegs gewesen sind und ihr Land aus der Krise herausgeführt haben.
Die Vuitton-Tasche steht vielleicht für die neuen Russen in Sankt Moritz und Antibes, die Russenkoffer aus Polyäthylen stehen für die Pionierzeit von Handel und Wandel im nachsowjetischen Russland. Irgendwann wird für die Ameisenhändler ein Denkmal errichtet werden. Es wird nicht der Vuitton-Koffer, sondern der rot-weiß-blau gestreifte Russenkoffer von einst sein.
Karl Schlögel , 1948 in Hawangen bei Memmingen geboren, studierte Philosophie, Geschichte, Soziologie und Slawistik in Berlin, Moskau und Leningrad und lehrte als Professor osteuropäische Geschichte an den Universitäten Konstanz und Viadrina, Frankfurt/Oder. Zuletzt erschienen vom ihm das Buch "Moskau lesen" (2011) und "Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent" (2013).
Karl Schlögel, Professor für Osteuropäische Geschichte
Karl Schlögel, Professor für Osteuropäische Geschichte© Peter-Andreas Hassiepen