Umstrittener Film "Elternschule"

"Die Kinder sind in maximaler Not"

Szene aus dem Dokumentarfilm "Elternschule" über die Behandlung von Kindern mit Ess- und Schlafstörungen in der Jugendklinik Gelsenkirchen.
Szene aus dem Dokumentarfilm "Elternschule" über die Behandlung von Kindern mit Ess- und Schlafstörungen in der Jugendklinik Gelsenkirchen © dpa / Zorro Film
Karl Heinz Brisch im Gespräch mit Ute Welty |
Die im Film "Elternschule" gezeigten Methoden haben den Münchner Kinderpsychiater Karl Heinz Brisch entsetzt. Das sei emotionale Gewalt. Wenn Kinder mit Schlafstörungen alleine in einem Zimmer gelassen werden, erzeuge das noch mehr Angst und eine Notfallreaktion.
Seit die Dokumentation "Elternschule" in die Kinos kam, sorgt sie für erregte Debatten über die Therapieformen einer Kinder- und Jugendklinik in Gelsenkirchen. Inzwischen ermittelt sogar die Staatsanwaltschaft und es gibt eine Online-Petition, die fordert, den Film nicht mehr zu zeigen.
Der Münchner Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch zeigte sich nach dem Film geschockt. Er habe sich nicht vorstellen können, dass in einer deutschen Kinderklinik kleine Patienten in dieser Art und Weise behandelt würden, sagte der Leiter der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie an einer Kinderklinik der Ludwig-Maximilians-Universität im Deutschlandfunk Kultur.

Schockstarre und Totstellreflex

Diese Art der Therapie an Kindern, die nicht essen oder schlafen könnten, sei mit emotionaler Gewalt verbunden, kritisierte Brisch. "Dabei ist doch klar, in Deutschland ist Gewalt an Kindern verboten und natürlich erst recht verboten, wenn es um Behandlung von Kindern geht."
Wenn Kinder nachts in ein dunkles Zimmer gefahren würden und dort alleine zurückblieben, wenn sie bereits Ängste und Schlafstörungen hätten, dann verstärke das diese Ängste und hinterlasse Spuren.
"Dass die Kinder sich dann anpassen, dass sie dann aufhören zu schreien, ist eine Notfallreaktion, sozusagen eine Schockstarre, ein Totstellreflex, wie wir das bei allen Säugetieren kennen, wenn Kampf und Flucht ausweglos sind und niemand kommt", sagte der Arzt. Dann bleibe den Kindern nichts anders übrig, als alle Gefühle abzuschalten.

Das Interview im Wortlaut:

Ute Welty: Wie umgehen mit psychosomatisch erkrankten Kleinkindern und Vorschulkindern – von dieser Problematik handelt der Film "Elternschule", und der hat teils sehr heftige Reaktionen hervorgerufen, auch hier in Deutschlandfunk Kultur. Filmemacher Jörg Adolph erklärt das so:
Jörg Adolph: "Ich kann das gut verstehen, dass man, wenn einem das so vehement entgegenkommt, dass man dann anfangen kann zu zweifeln, aber nein, ich bin ganz sicher, dass wir das richtig gemacht haben, den Film richtig gemacht und vor allen Dingen auch, dass die Methoden der Klinik die richtigen sind für die Fälle, die wir dort zeigen."
Welty: Tatsache ist, zum Teil wurde sogar Anzeige erstattet. Im Raum steht der Verdacht der Misshandlung von Schutzbefohlenen. Professor Karl Heinz Brisch ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, und er leitet die entsprechende Abteilung an der Kinderklinik und Poliklinik in München. Guten Morgen, Herr Brisch!
Karl Heinz Brisch: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Die Dokumentation zeigt ja zum Teil drastische Methoden. Was halten Sie für eine angemessene Therapie?

"In Deutschland ist Gewalt an Kindern verboten"

Brisch: Ja, ich war sehr geschockt, als ich den Film gesehen habe, weil ich mir gar nicht hatte vorstellen können, dass in einer deutschen Kinderklinik Kinder auf diese Art und Weise behandelt werden, denn diese Art der Therapie an Kinder, die nicht essen oder Kinder, die nicht schlafen können, quasi mit diesen drastischen Methoden, die doch emotionale Gewalt sind und auch sehr deutlich im Film ja dokumentiert sind, dass so etwas möglich ist in der heutigen Zeit.
Ich bin auch erstaunt, dass dieser Film so viel ganz unterschiedliche Reaktionen auslöst zwischen Befürwortern dieser Methode, so nach dem Motto, ja, wenn Kinder so unterwegs sind und Eltern so leiden, dann muss man manchmal hart sein. Dabei ist doch klar, in Deutschland ist Gewalt an Kindern verboten und natürlich erst recht verboten, wenn es um Behandlung von Kindern geht.
Wenn Kinder nachts einfach in ein dunkles Zimmer gefahren werden und dort dann alleine zurückbleiben müssen, wenn sie schon Ängste und Schlafstörungen haben, dann macht das natürlich noch mehr Angst und hinterlässt in dem kleinkindlichen Gehirn der Zwei-, Dreijährigen Spuren. Das bleibt ja nicht ohne Auswirkungen.

Kinder verfallen in Schockstarre

Dass die Kinder sich dann anpassen, dass sie dann aufhören zu schreien, ist eine Notfallreaktion sozusagen, eine Schockstarre, ein Totstellreflex, wie wir das bei allen Säugetieren kennen. Wenn Kampf und Flucht ausweglos sind und niemand kommt, dann bleibt den Kindern nichts anderes übrig, als alle Gefühle abzuschalten und dann nicht mehr zu weinen. Andere Chancen haben sie dann gar nicht.
Welty: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum diese Diskussion überhaupt zustande kommt, warum man den Gedanken zulässt, dass eben spezielle Fälle auch spezielle Methoden erfordern?

"Ganz lange Tradition von schwarzer Pädagogik"

Brisch: Ich kann mir das nur so erklären: Wir haben ja in Deutschland eine ganz lange Tradition von schwarzer Pädagogik, wo es nicht darum ging, Kinder liebevoll, feinfühlig zu behandeln, sondern es ging darum, Gehorsam, Anpassung, Unterwerfung bei Kindern zu erziehen und das mit den Mitteln der körperlichen Züchtigung und der Gewalt.
Wir hatten dann das Buch von Johanna Haarer, "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind", was allen Müttern in der Zeit des Nationalsozialismus an die Hand gegeben wurde, und da steht drin, wenn Kinder abends gewickelt und gefüttert sind, dann legt man sie ins Bettchen und geht um Gottes Willen die ganze Nacht ins Zimmer nicht mehr hinein, weil sonst verwöhnt man die Kinder, und wenn die Kinder brüllen und schreien, dann kräftigt das die Lungen, und alle Mütter haben das so praktiziert, weil das war sozusagen der Standarderziehungsratgeber.
Wenn wir heute mit Eltern über das Schlafen ihrer Kinder sprechen, dann ist es nach wie vor so, dass die Decke zu diesem Ratgeber sehr dünn ist. Das heißt, Eltern fragen uns, aber muss man dann nicht mal hart sein, muss man dann nicht doch Kinder einfach mal durchbrüllen lassen.
Das heißt, die Empathie, die uns das eigentlich sofort "verbieten" würde, wo wir sagen würden, nein, das halte ich gar nicht aus, da will ich doch mein Kind nicht alleine im Dunkeln lassen, denn nachts ist ja die gefährlichste Zeit evolutionär für Kinder, da sind die wilden Tieren unterwegs, da wollen sie bei ihren Eltern und in der Nähe sein und wissen, meine Eltern sind da.
Dass Eltern sehr schnell bereit sind, wenn jemand sagt, doch, Kinder müssen manchmal mit Härte behandelt werden, dann auf diesen Zug aufzuspringen.

"Es gibt genügend bindungsorientierte, feinfühlige Methoden"

Nun haben wir in diesem Film ja Eltern, die verzweifelt sind, die schon lange probieren, irgendwie aus diesen Kreisläufen mit Essen und nicht Essen und Trinken und Schlafen und nicht Schlafen herauszukommen. Nun ist die Frage, rechtfertigt sozusagen im schlimmsten Fall dann auch das, was in der Klinik gezeigt wird, die Methoden, um zu einem Ziel zu kommen?
Es sieht immer so aus, oder wird so diskutiert, als gäbe es keine Alternativen, als sei das sozusagen die absolut letztmögliche Rettungsaktion. Das ist falsch. Es gibt genügend bindungsorientierte, feinfühlige Methoden, Kinder mit solchen auch chronischen Störungen zu behandeln, sehr erfolgreich zu behandeln. Wir tun das in der Klinik, viele andere tun das, viele Niedergelassene tun das in Eltern-, Säuglings-, Kleinkind-Psychotherapieambulanzen.
Die Gesellschaft für seelische Gesundheit in der frühen Kindheit hat vor Jahren schon Empfehlungen herausgegeben für die Begleitung und auch Beratung und Therapie von solchen Eltern, und viele, viele Menschen in den deutschsprachigen Ländern arbeiten genau nach diesen Grundlagen sehr erfolgreich.
Welty: In einer Stellungnahme beruft sich die Klinik darauf, dass ihre Therapie auf den Empfehlungen und Vorgaben wie zum Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin beruht. Was sagen Sie dazu?
Brisch: Das passt so überhaupt nicht zusammen. Auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie hat eine Stellungnahme herausgegeben, in der sie sehr differenziert aufführt, wie die einzelnen Methoden, die dort in der Klinik angewandt werden, eben nicht kindgerecht und leitliniengerecht sind, und es ist zu einem großen Erschrecken auch von vielen Kinderärzten gekommen, die auch kritisch dazu Stellung genommen haben.

"Grundbedürfnisse kann man nicht abstellen"

Der Deutsche Kinderschutzbund hat sich sehr kritisch darüber geäußert, dass Kinder wirklich keine Strategien fahren, um Eltern jetzt sozusagen quasi als kleine Tyrannen zu testen. Die Kinder sind in maximaler Not, und die Frage, die ja gestellt werden müsste, wie hat sich das Verhalten dieses Kindes entwickelt? Wir wären sehr damit beschäftigt, herauszufinden oder herauszurätseln, wie wir sagen, wie hat sich diese Dynamik entwickelt, denn Kinder wollen schlafen, Kinder wollen essen. Das sind alle Grundbedürfnisse, die kann man gar nicht abstellen.
Wenn Kinder anfangen, das nicht mehr zu tun, dann ist das natürlich schon auch eine Notfallsituation, und das hat seinen Grund. Das ist sozusagen die entscheidende Geschichte: Kinder wollen die Eltern damit nicht ärgern, sie wollen sie damit nicht zugrunde richten oder ihnen ans Leben gehen, so wie das ein bisschen im Film durchklingt, sondern sie sind in einem absoluten Notfallmodus.
Erst wenn wir die Eltern verstehen und warum die Eltern so mit ihren Kindern letztendlich in eine Verstrickung geraten sind und den Eltern Entlastung geben, dann wird es sehr schnell Entspannung geben. Das machen wir verschiedentlich tagtäglich, und die Eltern im Film geben ja auch Hinweise dafür, dass sie zum Beispiel ein Kind verloren haben, dass sie verständlicherweise Angst haben, sich vom Kind nachts zu trennen, denn wenn man das nicht ausreichend betrauern konnte bisher, dann ist man so in Panik, dass man denkt, auch mein zweites Kind könnte jetzt sterben.
Oder wenn man eine Flucht überstanden und überlebt hat, wie eine Mutter in dem Film, dann ist es verständlich, dass man selbst in der Klinik alle Regeln bricht und nachts sich ins Zimmer des Kindes schleicht, um zu gucken, ob das Kind noch lebt und ob es ihm gut geht. Darüber wird dann am nächsten Tag nicht sehr positiv im Team in diesem Film gesprochen, so nach dem Motto: Diese Mütter haben es immer noch nicht verstanden, und da müssen wir noch viel arbeiten, dass die noch härter werden in dem Sinne und das durchhalten.
Welty: Trotzdem gibt es ja Situationen, in denen Eltern Grenzen setzen wollen und setzen müssen. Wie kann das gelingen, ohne die Integrität des Kindes zu verletzen?

Zum Grenzen setzen muss man kein Kind einsperren

Brisch: Wenn Kinder die Welt erkunden wollen, sehen sie natürlich noch gar nicht, wo es gefährlich ist, und natürlich braucht es dann eine Grenzsetzung und ein Nein, und das machen viele Eltern sehr feinfühlig und sehr klar. Dazu muss ich ein Kind, was jetzt Angst hat, einzuschlafen, nicht in ein dunkles Zimmer sperren oder ein Kind, was Angst hat, sich zu trennen, nicht, wie im Film dokumentiert, alleine dann in einem Raum schnell zurücklassen.
Wir sehen die Kinder in Verzweiflung brüllen und schreien, bis sie dann sozusagen abschalten. Wenn ein Kind jetzt sich selbst gefährdet, weil es über die vierspurige Straße laufen will, dann werde ich es auch so festhalten, dass es definitiv nicht über diese Straße laufen kann, weil das Kind noch gar nicht weiß, dass das jetzt lebensgefährlich ist.
Die Situationen im Film sind aber keine lebensgefährlichen Situationen hier und jetzt, sondern diese Kinder sind chronisch erkrankt, und nun kann man sich in aller Ruhe sozusagen auf den Heilungs- und Behandlungsprozess machen. Das muss nicht innerhalb von drei Tagen geschehen, so nach dem Motto, das ziehen wir jetzt durch, und dann schläft das Kind.
Welty: Psychiater Karl Hein Brisch über "Elternschule". Die Dokumentation löst viele Reaktionen aus, auch bei Hörerinnen und Hörern von Deutschlandfunk Kultur. Herr Brisch, haben Sie herzlichen Dank!
Brisch: Vielen Dank! Einen schönen Morgen, Frau Welty!
Welty: Den wünsche ich Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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