Umwelt

Die Tränen der Meerjungfrau

Diese Kunststoffpartikel schwemmt die Nordsee an - Hans und Marja van Weenen sammeln Kunststoff am Strand.
Diese Kunststoffpartikel schwemmt die Nordsee an - Hans und Marja van Weenen sammeln Kunststoff am Strand. © Anja Krieger
Von Anja Krieger |
Die Ozeane sind die größte Müllhalde der Welt. Hier landen riesige Mengen von Plastikabfällen, nicht nur Tüten oder Flaschen, sondern auch so genannte Plastik-Pellets. Meerestiere fressen den giftigen Müll und über die Nahrungskette wird er auch zur Gefahr für den Menschen.
Hans van Weenen: "Het is een enorme verscheidenheid aan ..."
Marja van Weenen: "En een korreltje."
Hans van Weenen: "Neee ..."
Marja van Weenen: "Jaaa ..."
Hans van Weenen: "Ja. Granulaat. Een pellet. En nog een."
Das Flugzeug rauscht über ihre Köpfe - doch Hans van Weenen und seine Frau Marja verschwenden keine Sekunde auf einen Blick nach oben. Wie zwei Kinder robben die beiden auf Knien über den Boden und durchsuchen den Sand.
Hans van Weenen: "Ja. Kleine stukjes folie zitten er tussen. Mooie ronde korrels, cilindervormig, zwart."
Hans van Weenen: "Maar vooral ook kleine stukjes plastic."
Hans van Weenen fischt kleine, gleichmäßig geformte Kügelchen heraus und legt sie auf seine Handfläche. Der Wissenschaftler mit dem grauen Schnurrbart ist seit 40 Jahren mit seiner Frau Marja zusammen - und ebenso lange teilen die beiden eine ungewöhnliche Leidenschaft: Sie sammeln bunte Plastikteile, die das Meer an der holländischen Küste anspült. Der Strand von Castricum ist voll davon.
Hans van Weenen: //So, hier haben wir jetzt weiß, schwarz, orange, grün, blau und auch gelb, das sind weißgelbe Granulate. Und das sind Pellets, die eine lange Zeit im Meer waren, und sie adsorbieren chemische Verunreinigungen, und dann werden sie gelb.
1971 an der Uni Amsterdam, ich studierte Chemie, war es schon klar, dass ich nicht ein richtiger, gründlicher Chemiker werden könnte, weil die gesellschaftlichen Implikationen sehr interessant waren für mich. Und während meines Studie hab ich mich entschieden, mich mit Umweltfragen zu befassen im Relation mit der Chemie.
Ich erinnerte mich an kleine Plastikkörnchen am Strand in Castricum, 60er-Jahre, dass wir schwimmen gingen und wenn wir aus dem Meer kamen, dass unsere Schwimmhosen gefüllt sein konnten mit diesen kleinen Plastikteilchen."//
Es sind runde Teilchen aus Kunststoff, milchig-weiß, geformt wie kleine Zylinder. Sie bleiben Hans van Weenen im Gedächtnis. Im August 1974, der Student ist 23 Jahre alt und hat vom Fach Chemie auf Umweltkunde gewechselt, schreibt er eine Hausarbeit zu Kunststoffen im Abfall. Am Strand seiner Heimatstadt Castricum untersuchen er und seine Freundin Marja drei Quadratmeter des Spülsaums genauer. In seiner Studienarbeit versucht der junge Wissenschaftler erste Schlüsse zu ziehen:
"Angenommen, dass diese Verunreinigung entlang der ganzen niederländischen Küste auftritt, sind es 2,35 Tonnen Plastikgranulat auf 250 Kilometer Strand. Schon seit Jahren spülen hier Kunststoffpellets an und geraten in den Sand. Man findet sie bis in einige Meter Tiefe."
Hans van Weenen durchstöbert die Fachliteratur. Und tatsächlich: In einer Handvoll Publikationen aus Amerika und England findet er Artikel, in denen Wissenschaftler von ähnlichen Plastikteilchen berichten. Ein Beitrag in der Fachzeitschrift "Science" aus dem Jahr 1972 enthält Fotos. Abgebildet sind Kunststoffteilchen, die Forscher aus der Sargassosee gefischt haben - mitten im Nordatlantik.
"Ja, es war überraschend, dass die Fotografien in diesen Artikeln zeigten, dass das Granulat, diese Körnchen, identisch waren - wie die, die ich gefunden habe am Strand. Und dann fand ich heraus, dass das Materialien sind, die bei der Primärproduktion von Plastik produziert werden, um später unsere zahlreichen Artikel zu produzieren."
Hans und Marja van Weenen sammeln Kunststoff am Strand
Hans und Marja van Weenen sammeln Kunststoff am Strand© Anja Krieger
Die Funde entpuppen sich als Rohstoff: Ein Granulat, das die Plastikhersteller an die Fabriken schicken, wo es mit Zusatzstoffen vermischt und weiterverarbeitet wird - zu Tüten, Flaschen, Zahnbürsten und vielem mehr. Doch beim Transport gehen immer wieder Pellets über Bord. Der Kunststoff landet im Ozean, und spült - ebenso wie die winzigen Fragmente der vielen Plastikprodukte, als Treibgut wieder an den Strand- die sogenannten "Tränen der Meerjungfrau".
Im niederländischen Fachblatt für Chemie fasst Hans van Weenen seine Beobachtungen in einem Artikel zusammen. Er erscheint im Februar 1975. Zum ersten Mal berichtet der junge Umweltstudent dort öffentlich über seine Funde an der Nordsee. Auch die Lokalzeitung wird auf das Thema aufmerksam und veröffentlicht eine große Story. "Weiße Kugeln im Spülsaum", titelt das Blatt und warnt im Untertitel: "Der Abfall der Industrie verbreitet sich über die Weltmeere". Auf dem Bild steht Hans van Weenen mit langen braunen Locken und Trenchcoat am Strand. Weiße Perlen rieseln aus einer Hand in die andere. Doch über das Lokale hinaus schafft es die Nachricht nicht.
"Ich habe dann auch mit einen Direktor gesprochen, nachdem ich meine erste Publikation darüber geschrieben habe, im 'chemisch weekblad', er war Direktor vom Reichsinstitut für Fischereiuntersuchung. Und er hat mir gesagt, es ist gar kein Problem, es gibt über die ganze Welt Strände mit kleinen Steinchen und die Plastikpartikel - überhaupt kein Problem. Und dann, als Student, habe ich gedacht, ok, dann soll ich das nicht verfolgen, und warum soll ich damit noch weiter gehen - und hab mich mit anderen Fragen befasst."
Jährliche Plastikproduktion:
1950: 1,7 Millionen Tonnen
1976: 47 Millionen Tonnen
2012: 288 Millionen Tonnen
360 Millionen Tonnen: Gewicht aller Menschen auf der Erde.
... wenn jeder 50 Kilo wiegt.
Die größte Müllhalde
Ozeane sind die größte Müllhalde der Welt. Auf ihrem Grund liegen havarierte Schiffe, Container voller Neuware und marode Fässer mit giftigem Müll. Es gibt dort Geisternetze, die auf und ab durchs Wasser treiben und weiter Fische fangen - aber niemand holt sie mehr an Bord. Zerfaserte Seile und Fallen aus Plastik spülen an die Strände, dazu Zigarettenkippen, Verpackungen, Flaschen, Strohhalme, Tüten und Dosen. Manchmal finden sich seltene Dinge: Eine alte Schreibmaschine, ein Surfboard oder sogar Flaschenpost!
//"Wenn man an diesem Thema arbeitet, hat man auch Interesse daran, mögliche Lösungen für die marine Vermüllung beizusteuern. Sie steht mit vielen anderen gesellschaftlichen Problemen in Zusammenhang.
Wir wollen zur Diskussion beitragen, indem wir Belege liefern, wissenschaftliche Fakten über die Auswirkungen."//
Die Ökolotoxikologin und Chemikerin Heather Leslie forscht am Institut für Umweltstudien der Freien Universität Amsterdam. Zusammen mit dem niederländischen Umweltministerium untersuchen sie und ihre Forschungsgruppe das Mikroplastik vor der holländischen Küste.
Tödliche Kleinstteilchen
"Es gibt zwei Gefahren beim Mikroplastik und den noch kleineren Teilchen, die man Nanoplastik nennen könnte. Die eine ist die Giftigkeit der Partikel, die man von der Luftverschmutzung kennt. Deshalb messen wir in ganz Europa die Feinstaub-Konzentration, weil kleine Partikel ganz direkte Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Das gilt auch für das Leben im Meer, darüber wussten wir bisher nur wenig. Es kommen gerade Studien heraus, die zeigen, dass auch marine Organismen auf die Toxizität kleiner Partikel reagieren. Außerdem bereiten den Ökotoxikologen die Chemikalien Sorgen, die den Kunststoffen zugefügt werden und über das Plastik aufgenommen werden können."
Die meisten Kunststoffe enthalten Zusatzstoffe, wie Weichmacher und Flammschutzmittel. Einige dieser Stoffe, darunter Bisphenol A, gelten als problematisch. Hinzu kommt, dass die Plastikpartikel auch giftige Stoffe aus der Umwelt an sich binden können. Eine der wichtigsten Fragen für Forscher wie Heather Leslie ist deshalb, was genau passiert, wenn der Plastikmüll von Lebewesen gefressen wird:
"Wir möchten untersuchen, wohin sich das Mikroplastik im Körper bewegt. Bleibt es im Magen oder verlässt es den Magen-Darm-Trakt? Kann es ins Gewebe gelangen und dort allergische Reaktionen, Immunreaktionen, Irritationen oder Zelltod auslösen? Wir haben einige Hinweise auf solche negativen Effekte von Partikeln aus Plastik, die an die falsche Stelle geraten. Wenn wir das analog beim Menschen betrachten: Vermutlich können sich bestimmte Sorten von Mikro- und Nanoplastik durch unser Gewebe bewegen, und durch die Plazenta bis zum ungeborenen Kind. Das sind Risiken, die wir aufmerksam beobachten müssen, weil es Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben dürfte."
Mit bis zu fünf Millimetern Größe lässt sich Mikroplastik meist mit bloßem Auge erkennen. Das um vieles winzigere Nanoplastik stellt die Wissenschaftler vor ganz neue Herausforderungen. Es ist so klein, dass es selbst unter speziellen Analysegeräten kaum auszumachen ist. An einer Methode, es in der Natur überhaupt nachzuweisen, arbeiten die Forscher gerade erst. Auch welche Gefahr vom Nanoplastik in der Umwelt wirklich ausgeht, ist noch nicht klar. Die winzigen Teilchen könnten sich als relativ harmlos herausstellen - oder aber als eine ernsthafte Gefahr.
Plastikmüll am Strand von Dakar, Senegal. Im Vordergrund sitzt eine magere Katze
Plastikmüll am Strand von Dakar, Senegal.© Picture Alliance / dpa / EPA / Nic Bothma
Ein globales Problem
Im April 2013 auf der internationalen Meeresmüllkonferenz in Berlin. Rund 200 Experten aus aller Welt sind gekommen - neben Politikern, Wissenschaftlern und Umweltschützern auch Vertreter der Industrie. Einer von ihnen ist Martin Engelmann vom Herstellerverband PlasticsEurope.
Am letzten Tag treten die Positionen deutlich hervor. Der marine Müll sei ein globales Problem und eine Herausforderung für die Plastikindustrie, erklärt Engelmann, und die Hersteller hätten bereits zahlreiche Projekte gestartet, um dagegen anzugehen. Die Konferenz habe gezeigt, dass vor allem die Verbesserung des Abfallmanagements der Schlüssel zur Lösung des Problems sei.
Auf der anderen Seite des Saals sitzt Kim Detloff, Referent für Meeresschutz beim NABU, dem Naturschutzbund Deutschland. Auch er meldet sich zu Wort.
Er freue sich, dass die Plastikindustrie gekommen sei, sagt Detloff. Doch müsse deren wirkliche Verantwortung auf den Tisch. Es müsse über die Reduktion des Plastik-Konsums generell diskutiert werden. Es liege in den Händen der Industrie, den Kunden Produkte anzubieten, die langlebig, reparierbar und kreislauffähig seien.
"Der Meeresmüll ist ein vielschichtiges Problem. Es gibt viele Beteiligte, in der Politik, der Industrie, die Bürger - es ist schwierig, und keine einzelne Maßnahme wird die Wunderwaffe sein, die das Problem löst. Nur mit vielen Maßnahmen zusammen lässt sich das Ziel erreichen - zum Beispiel dem Verbot von Plastiktüten, mehr Wiederverwendung und mehr Recycling. Im Grunde haben wir schon eine Menge Methoden und gesetzliche Regelungen, die aber nicht umgesetzt werden, und deshalb gibt es immer noch so viel Müll. Es wäre sehr leicht, dort anzufangen."
Monica Verbeek ist die geschäftsführende Direktorin von Seas at Risk. Unter diesem Namen haben sich 20 Umweltorganisationen zusammengeschlossen, um den Schutz der Meere noch stärker in den Fokus von Politik und Öffentlichkeit zu rücken. Die Umweltaktivisten fordern klarere und höhere Vorgaben von politischer Seite.
"Wir brauchen starke Ziele, die eindeutig messbar sind. Wir fordern deshalb eine 50-prozentige Reduktion des Meeresmülls bis zum Jahr 2020. Das könnte man festmachen an dem Müll, den man am Strand und in den Mägen von Meerestieren findet. Auch für den Meeresboden, die Wassersäule und die Meeresoberfläche sollte man Ziele festlegen."
Im Juli 2014 schlug die EU-Kommission vor, dass die Mitgliedsländer den Müll freiwillig reduzieren: Die zehn Produkte, die am häufigsten am Strand landen, sollen die Länder bis zum Jahr 2020 um 30 Prozent reduzieren. Die Aktivisten von Seas at Risk kritisieren jedoch, dass dieses Ziel zu niedrig ist. Sie fordern ambitionierte und vor allem bindende Ziele, um die weitere Vermüllung der Meere aufzuhalten.
Lebensdauer verschiedener Produkte im Meer:
Pappkarton: 2 Monate
Wollsocken und Zigarettenkippen: 1 bis 5 Jahre
Plastiktüte: 10 bis 20 Jahre
Aluminiumdose: 200 Jahre
Plastikflasche: 450 Jahre
Angelschnur: 600 Jahre
"In der Vergangenheit gab es schon eine ganze Menge Ideen, wie man das Plastik wieder aus dem Meer bekommt. Schiffe und Seefahrzeuge sollten mit Netzen rausfahren und nach Plastik fischen. Doch das würde etwa 79.000 Jahre dauern, Milliarden von Dollar kosten und Beifang und Emissionen mit sich bringen. Außerdem bewegt sich das Plastik im Meer, und das würde die Säuberung noch zusätzlich erschweren."
Riesige Müllwirbel
Boyan Slat ist ein Shooting Star in der Debatte um den Meeresmüll. Der 20-jährige Niederländer will eine Methode erfunden haben, mit der sich die großen Müllwirbel im Meer reinigen lassen. Nach Berechnungen von Ozeanografen gibt es mindestens fünf dieser riesigen Gebiete in den Weltmeeren, wo sich Müll vor allem aus Kunststoff in großen kreisförmigen Strömungen sammelt. Das will Boyan Slat nutzen.
"Ich fragte mich, wieso muss man dem Plastik hinterher, wenn das Plastik auch zu einem kommen kann? Ich dachte mir ein System aus, das am Meeresboden angebracht wird und die natürliche Kreisströmung im Meer nutzt. Und dann haben wir berechnet, dass wir damit in zehn Jahren fast die Hälfte des pazifischen Müllwirbels saubermachen können."
Bereits mit 18 Jahren stellte Boyan Slat den ersten Entwurf an der Universität von Delft vor. Als sich das Video des Vortrags über die Ideenplattform TEDx viral im Netz verbreitete, nutzte Slat die Aufmerksamkeit und sammelte mittels Crowdfunding über 80.000 Dollar Spenden. Sein Telefon stand nicht mehr still, Hunderte von Unterstützern und Freiwilligen meldeten sich. Doch es hagelte auch Kritik. Meeresforscher und Ozeanografen erklärten, die Ozeane seien zu groß, tief und stürmisch für eine solche Vorrichtung, der Plan unausgegoren und womöglich selbst eine Gefahr für Meerestiere. Mit rund 100 freiwilligen Helfern arbeitet Boyan Slat seitdem daran, die Machbarkeit des Konzepts zu beweisen und den Plan in die Tat umzusetzen. Über das Internet sammelt er nun schon die ersten Millionen für die nächste Phase des Projekts. Hans van Weenen hält wenig von Boyan Slats Plan. Eine nachhaltige Lösung sei sie aus seiner Sicht nicht. Selbst wenn sich solch eine Plattform tatsächlich im Meer installieren ließe, sie wäre ein Tropfen auf den heißen Stein, ist sich der Umweltforscher sicher.
"Ich finde es gut, dass Leute versuchen, so viel wie möglich Plastikabfall aus dem Meer zu holen. Das ist sehr gut, das sollen wir weitermachen. Aber: Soviel Geld für so eine, was ich nenne, end-of-pipe-Lösung, am Ende der Kette, das wäre schade. Man sollte das Geld nutzen, um wirklich innovative neue Produkte, neue Ideen, neue Materialien zu entwickeln. Das wäre wichtig."
"Wenn man bedenkt, dass der Plastikmüll jedes Jahr etwa 13 Milliarden Dollar an Schäden für den Tourismus, die Schifffahrt und Fischerei anrichtet, dann ist es vermutlich günstiger, das Plastik rauszuholen, als es im Ozean zu lassen. Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Teil der Lösung. Aber es ist nicht die ganze Lösung - wir müssen auch sicherstellen, dass kein weiteres Plastik mehr im Ozean landet."
Mit seiner nun neu designten Plattform hofft Boyan Slat zumindest einen Teil des Plastiks aus dem oberen Teil der Meeresoberfläche holen zu können. Zwei 50 Kilometer lange Schwimmarme sollen das Plastik aus den ersten drei Metern der Oberfläche einfangen und zu einer solarbetriebenen Plattform leiten. Alle anderthalb Monate, so hat Slats Team berechnet, würde das Schiff den vollen Speicher leeren und abtransportieren. Es wäre die wohl größte Konstruktion, die der Mensch je ins Meer gelassen hat. Geschätzte Kosten: 300 Millionen Euro. Gegen das kleine Mikroplastik wird Slats Plan jedoch nichts ausrichten können - es entwischt durch die Barrieren. Hans van Weenens befürchtet, dass technische Lösungen wie diese von der Wurzel des Problems ablenken:
"Die Medien richten sich jetzt auf das Saubermachen, und das ist nicht die Lösung. Die Lösung ist das Garnichtmachen von diesen Materialien, die das Meer auf diese Weise verschmutzen."
30. Juni 2014: Laut einer neuen Studie sind 99 Prozent des Plastiks von der Meeresoberfläche "verschwunden". Forscher der Malaspina Expedition haben Wasserproben aus verschiedenen Teilen der Ozeane genommen und sie mit bisherigen Daten abgeglichen. Daraus kalkulierten sie die gesamte Menge an Plastik, das weltweit auf dem Meer treibt. Gerechnet hatten sie mit mindestens einer Million Tonnen, tatsächlich kamen sie nur auf einige zehntausend. Ozeanograf Carlos Duarte, der die Untersuchung leitete, vermutet, dass sich das fehlende Plastik möglicherweise in den Mägen von Fischen und anderen Meerestieren befindet. So fand das Forschungsteam besonders wenige Plastikteilchen, die der Größe von Zooplankton, der Nahrungsgrundlage der Meeresbewohner entsprechen.
Schäden in Höhe von 13 Milliarden Dollar
Hans van Weenen: "Das ist mein Plastikschatz, das sind die Plastikkörnchen, die ich gesammelt habe im Juli 1974, damals habe ich sie bewahrt in kleine Flaschen ...
Hans van Weenen nimmt zwei transparente Behälter aus dem Wandschrank seines Arbeitszimmers. Der erste enthält seine Funde aus den 1970ern. Es sind vor allem helle Plastikpellets, einige schon leicht verfärbt. Die Mischung im zweiten Glas ist deutlich bunter. Es sind Plastikpartikel, die der Wissenschaftler 2010 am Strand von Castricum gesammelt hat: Kügelchen in allen möglichen Farben, dazu lauter Fetzen von Dingen, die sich kaum mehr identifizieren lassen.
"Dann sehen wir zum Beispiel viel mehr schwarze Körnchen. Schwarz, das kommt von vermischtem Plastik, das ist wiederverwertetes Plastik, das sind Recyclepellets. Ja, Recycling ist eine gute Sache, nicht? Aber dann finden wir diese Recyclepellets auf dem Strand!"
Seit 1950 wächst die Plastikproduktion Jahr für Jahr um fast neun Prozent. 300 Milliarden Euro Umsatz hat die Industrie 2012 gemacht - nur in Europa, wohlgemerkt. Die Schäden durch Meeresmüll belaufen sich nach Angaben des Umweltprogramms der Vereinten Nationen auf 13 Milliarden Dollar - weltweit. Recht wenig im Vergleich.
Hans und Marja van Weenen am Strand von Castricum
Hans und Marja van Weenen am Strand von Castricum© Anja Krieger
Mikroplastik in Shampoos und Zahnpasta
Erst seit kurzem ist bekannt, dass Mikroplastik auch vielen Kosmetika und Reinigungsprodukten direkt beigefügt wird - etwa in Peelings, Shampoos, Zahnpasta oder Rasiercremes. Winzige Kunststoffkügelchen, so klein wie Sandkörner, werden extra dafür produziert und beispielsweise zum Reinigen und Peelen von Haut eingesetzt. Bis zu 1000 solcher Microbeads, solcher "Mikroperlen" finden sich in einzelnen Produkten. Über das Abwasser gelangen sie in die Umwelt.
Schon 2011 forderte die niederländische Organisation Stiftung Nordsee Hersteller, die Mikroplastik in ihren Produkten verwenden, auf, die Verwendung einzustellen. Die Unternehmen konterten, die Verwendung sei legal und sicher. Zusammen mit der Umweltorganisation Plastic Soup Foundation startete die Stiftung Nordsee daraufhin eine große Social-Media-Kampagne. Unter dem Slogan "Beat the Micro Bead" machten die Aktivisten gegen das industriell produzierte Mikroplastik in Kosmetik und Reinigungsmitteln mobil. Sie entwickelten eine Smartphone-App, über die sich Produkte, die Mikroplastik enthalten, per Barcode erkennen lassen. Die niederländischen Hersteller reagierten prompt. Unter dem wachsenden öffentlichen Druck erklärten sich schließlich auch einige internationale Unternehmen bereit, die Nutzung von Mikroplastik einzustellen. Weitere Umweltorganisationen schlossen sich der Kampagne an, um dafür zu sorgen, dass der Einsatz von Microbeads in Kosmetika ganz eingestellt wird. Kapitän Charles Moore, der den Müllwirbel im Nordpazifik weltweit bekannt machte, versuchte sich im Video zur Kampagne sogar als Rapper.
Hans van Weenen: "Ich glaube, dass die Industrie sehr viele Möglichkeiten hat, um die Verschmutzung, die Verunreinigung, mit Plastikteilchen zu vermindern. Die plastikverarbeitende Industrie hat noch viel mehr Möglichkeiten, um alternative Materialien zu nutzen und davon Produkte zu machen, die abbaubar sind, biologisch abbaubar. Und das sollen wir machen, für Produkte, die ganz einfach ins Wasser geraten könnten."
Ein Leben ohne Plastik?
Was die Microbeads angeht, ist eine Lösung schon in Sicht. Denn es gibt Alternativen wie Aprikosenkerne für Hautpeelings. Schwieriger dürfte es bei anderen Produkten werden, die ebenfalls Mikroplastik absondern. Synthetische Kleidung verliert etwa in der Waschmaschine winzige Fasern, die ins Wasser gelangen. Ein Leben ohne Plastik ist kaum vorstellbar - das weiß auch Boyan Slat, der junge Erfinder, der den Müll aus dem Meer holen will.
"Es ist tatsächlich ziemlich unmöglich, ein normales Leben ohne Plastik zu führen - gerade jetzt in diesem Interview trinke ich wieder aus einem Plastikbecher. Man kann es einfach nicht vermeiden. Aber wir können unseren kleinen Teil dazu beisteuern, um es wenigstens ein bisschen zu reduzieren. Kunststoff ist an sich ja ein tolles Material, es ermöglicht so viele wichtige Anwendungen. Das Problem ist, dass ein Drittel dieses Materials, das hunderte von Jahren halten kann, für Dinge verwendet wird, die nur einige Tage oder Wochen lang benutzt werden. Ich glaube, das ist das eigentliche Problem. Ich denke, dass es Veränderungen in der Infrastruktur geben muss, dass man also sicherstellt, dass Plastik, wenn es schon zu Müll wird, nicht im Ozean landet. Und langfristig denke ich, wenn es denn mal kommerziell rentabel wird, dass bioabbaubare Kunststoffe bei der Sache definitiv helfen könnten."
Die meisten bisher verfügbaren kompostierbaren Kunststoffe bauen sich im Meer nicht besonders schneller ab, als herkömmliches Plastik. Bioabbaubare Kunststoffe brauchen sehr spezielle Bedingungen, um zersetzt zu werden. Solche Bedingungen sind meist nur in industriellen Kompostieranlagen gegeben, nicht aber in der Natur.
Fünf Jahrzehnte ist es her, dass Hans van Weenen als Kind die ersten Plastikpartikel an der holländischen Küste fand. Heute ist die Plastikproduktion auf ein Vielfaches angewachsen. Kaum ein Teil der Meere ist noch unberührt vom Plastikmüll. Man findet ihn tausende Kilometer vor den Küsten, tief unten auf dem Boden der Tiefsee, gefroren im arktischen Eis und in den Mägen von Walen, Vögeln und Fischen. Auch viele Seen sind belastet. Hinweise gab es schon früh. Das Problem ist nicht so neu, wie es scheint. Trotzdem werden wohl noch Jahre vergehen, bevor es gelöst ist.
"Seit 50, 60 Jahren wissen wir schon von diese Problematik, und es geht immer weiter. Eben ist noch schlimmer, dass man neue Materialien, Nanomaterialien entwickelt, die vielleicht auch diese schlimmen Eigenschaften zeigen könnten. Ja, das sollte man vorbeugen."
Tageszeitung: 6 Wochen
Kerngehäuse Apfel: 2 Monate
Zigarettenkippen: 1 bis 5 Jahre
Plastiktüte: 10 bis 20 Jahre
Styroporbecher: 50 Jahre
Plastikboje: 50 Jahre
Aluminiumdose: 200 Jahre
Wegwerfwindel: 450 Jahre
Plastikflasche: 450 Jahre
Angelschnur: 600 Jahre
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