"So viel Konsens wie möglich"
Seit Anfang des Jahres ist der deutsche Diplomat Joachim Rücker Präsident des UN-Menschenrechtsrates. Er erlebt oft mühsame Verhandlungsprozesse unter den 47 Mitgliedern: Es gebe unterschiedliche Interpretationen der Menschenrechte.
Der Präsident des UN-Menschenrechtsrates in Genf, Joachim Rücker, hat nach gut 100 Tagen im Amt eine erste Bilanz seiner Tätigkeit gezogen. Er erlebe in dem Gremium, dem 47 Staaten angehören, einen "gewissen Grundkonsens", sagt er: "Es gibt keine westlichen Menschenrechte. Die Menschenrechte sind universal. (...) Es gibt allerdings unterschiedliche Interpretationen der Menschenrechte. (...) Damit müssen wir im Rat umgehen."
Dennoch habe der Menschenrechtsrat allein im März über dreißig Resolutionen verabschiedet - einen "relativ großen Teil" im Konsens. Es habe aber auch "mühsame Verhandlungsprozesse" zu Resolutionen über Religionsfreiheit und der Bekämpfung religiöser Intoleranz gegeben. Letztlich hätten die 47 Staaten "eine gute Balance" gefunden. Rückers Fazit: "So viel Konsens wie möglich, aber auch so viel Kontroverse und dann auch Abstimmung wie nötig."
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Im UN-Menschenrechtsrat in Genf sitzen die Vertreter von 47 Staaten und haben die Aufgabe, dort die Einhaltung der Menschenrechte in allen Mitgliedsländern der UNO zu überwachen, zu kontrollieren und Verstöße anzuprangern. Seit gut drei Monaten nun ist ein Deutscher Präsident dieses Menschenrechtsrates, Joachim Rücker heißt er, er ist ein erfahrener Diplomat, ehemaliger Chefinspektor im Auswärtigen Amt, Leiter einer UNO-Mission im Kosovo und auch eine ganze Weile lang Bürgermeister der Stadt Sindelfingen. Präsident des UN-Menschenrechtsrates, das ist er nun seit Anfang diesen Jahres, ich habe es erwähnt, also seit rund 100 Tagen, und deshalb habe ich gestern mit ihm gesprochen und ihn gefragt nach diesen ersten 100 Tagen, habe aber auch ihn gefragt nach Willy Brandt, denn den zitiert er, Joachim Rücker, auf seiner eigenen Internetseite mit dem Satz: "Man muss das Unmögliche wollen, um das Mögliche zu erreichen." Und deshalb habe ich Joachim Rücker in Bezug auf sein Amt als Präsident des Menschenrechtsrates gefragt, wie oft ihm dieser Satz eigentlich in diesem Amt schon durch den Kopf gegangen ist.
Joachim Rücker: Der Satz hat mich durchaus begleitet, es ist manchmal wirklich eine Gratwanderung und man muss im Menschenrechtsrat eben drauf achten, dass man einen Grundkonsens wahrt, einen Grundkonsens aller, die dort sind, und auch der Beobachterstaaten, um die Menschenrechte zu schützen und voranzubringen, und das ist nicht immer einfach.
Kassel: Ich habe mir mal überlegt, als ich mich mit dem Sicherheitsrat und auch Ihrer Position beschäftigt habe – was ich mir eigentlich denken würde, wenn ich den Auftrag bekäme, die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen und Verstöße anzuprangern: Ich muss ganz ehrlich sagen, ich wüsste gar nicht, wo ich wirklich anfangen sollte beim augenblicklichen Zustand der Welt. Natürlich denken alle Menschen im Moment an große Krisengebiete im Nahen Osten, in Afrika, auch in Osteuropa, aber das ist ja noch lange nicht alles, womit Sie sich eigentlich beschäftigen müssen. Kann man das überhaupt schaffen oder muss man da priorisieren?
Rücker: Man muss natürlich priorisieren, und eines unserer Probleme ist sicherlich, dass wir eine bestimmte Inflation in unserer Agenda haben, weil es einerseits um wichtige thematische Dinge geht wie Kinderrechte, wie Verbot von Folter, wie Menschenhandel, wie Klimawandel und Menschenrechte und so weiter, und so weiter, und zum anderen geht es eben auch um Ländersituationen. Aber die Tatsache, dass wir unter der Inflation der Agenda leiden, heißt ja auch, dass die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen großes Vertrauen in den Menschenrechtsrat haben, dass wir in gewisser Weise auch eher Opfer unseres eigenen Erfolges sind – und das ist grundsätzlich was Positives. Wir müssen jetzt gucken, wie wir die Arbeit noch mehr fokussieren, dass wir einerseits wichtige Themen weiterhin behandeln, Querschnittsthemen – das ist ungeheuer wichtig –, auf der anderen Seite aber nicht die Ländersituationen zu kurz kommen.
"Es gibt keine westlichen Menschenrechte"
Kassel: Wenn man auf den UN-Sicherheitsrat blickt, dann stellt man natürlich auch immer wieder fest, dass dort einzelne Mitgliedsländer Resolutionen oder andere Entscheidungen blockieren aufgrund ihrer eigenen geopolitischen Interessen. Wir könnten Beispiele nennen, aber ich glaube, die kennen wir beide alle, und auch die Menschen, die uns zuhören. Es ist noch eine relativ übersichtliche Zahl von Teilnehmern: 47 Nationen sind im Menschenrechtsrat mit beteiligt. Ist das Problem dann nicht noch viel größer, dass die alle ja auch ihre eigenen Interessen verfolgen?
Rücker: Das ist schon richtig. Ich meine, Sicherheitsrat – 15 –, Menschenrechtsrat – 47 – und Generalversammlung – fast 200 Mitglieder – haben jeweils ihre eigene Dynamik. Mit unseren 47 ist es ja so, dass die immer wieder auch neu gewählt beziehungsweise bestätigt werden müssen von der Generalversammlung und dass sie dann auch bestimmte Verpflichtungen übernehmen, wie sie sich im Menschenrechtsbereich aufstellen und auch verbessern wollen. Dadurch gibt es einen gewissen Grundkonsens, ich nenne das immer den Geist von Genf, dass man im Grunde sich verpflichtet hat, die Menschenrechte zu fördern und zu schützen, auch in Staaten, die wir als schwierig sehen, gerade aus einer westlichen Perspektive.
Kassel: Wo Sie diese westliche Perspektive erwähnen: Jetzt haben wir ein bisschen darüber gesprochen, dass vielleicht aufgrund geopolitischer Interessen die Frage, welcher Menschenrechtsverstoß wie behandelt werden muss, unterschiedlich gesehen wird. Aber haben Sie auch den Eindruck, dass es auch kulturell unterschiedliche Wahrnehmungen gibt, was wirklich ein Menschenrechtsverstoß überhaupt ist?
Rücker: Also zunächst mal möchte ich schon unterstreichen – nicht, dass da ein falscher Zungenschlag sozusagen reinkommt: Es gibt keine westlichen Menschenrechte. Die Menschenrechte sind universal, sowohl die bürgerlichen und politischen Rechte, als auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Sie sind universal. Es gibt allerdings unterschiedliche Interpretationen der Menschenrechte, das ist richtig, und damit müssen wir hier im Rat umgehen, und die sind natürlich auch kulturell geprägt, ja, keine Frage.
Kassel: Reden Sie hier gerade auch über gelegentliche Konflikte, vielleicht auch im Rat, zwischen der islamischen Welt und der sogenannten westlichen?
Rücker: Ja, da gibt es schon Konflikte, es gibt aber auch Lösungsansätze. Wir hatten jetzt etwa im Rat zwei Resolutionen, im März-Rat, einerseits über Religionsfreiheit und andererseits über Bekämpfung religiöser Intoleranz. Da wird im Grunde in mühsamen Verhandlungsprozessen auch eine gute Balance gewahrt zwischen einerseits der Wichtigkeit der freien Meinungsäußerung und auch der Religionsfreiheit, und auf der anderen Seite dessen, was die islamische Welt vor allem Bekämpfung religiöser Intoleranz nennt, Stichwort Islamophobie und so weiter. Sie müssten sich die Texte, oder die Hörerinnen und Hörer vielleicht die Texte mal angucken, die da entstanden sind. Die waren eine interessante Balance.
"Man gibt seine politische Identität nicht an der Garderobe ab"
Kassel: Aber kommen wir da nicht immer wieder zu dem gleichen Punkt, dass solche Texte entstehen können und auch unterzeichnet werden können im Rat, aber dass ja am Ende Sie überhaupt nicht selber dafür sorgen können, dass man sich auch daran hält?
Rücker: Nein, das ist natürlich sowieso etwas, was unsere Arbeit als Querschnittsthema durchzieht, die Frage: Wie ist eigentlich die Implementierung? Welchen Unterschied machen wir dort, wo es drauf ankommt, wo Menschenrechte aktuell oder potenziell verletzt werden? Ich denke, das ist gar nicht so schlecht: Wir haben ja verschiedene Mechanismen im Rat. Da gehören natürlich Resolutionen und sogenannte Sondermechanismen, also Sonderberichterstatter und Untersuchungskommissionen dazu, da gehört aber auch die sogenannte universelle Staatenüberprüfung dazu, wo die Staaten alle vier bis fünf Jahre, und zwar alle Staaten, alle VN-Mitgliedsstaaten, sich einer Prüfung unterziehen, wie weit sie im menschenrechtlichen Bereich sind. Und die Staaten nehmen das auch sehr wichtig.
Kassel: Sie wissen, dass es, seit es den UN-Menschenrechtsrat gibt, seit 2006 also, auch Kritik an ihm gibt und an seiner Zusammensetzung. Es müssen 47 Nationen vertreten sein und das wird auch nach einem Schlüssel gemacht, der dafür sorgen soll, dass die Regionen der Welt und auch die Kulturen der Welt halbwegs gerecht beteiligt sind an diesem Menschenrechtsrat. Wenn man das aber alles will, muss man dann nicht – und das sind ja auch Länder, die sich abwechseln, es sind nicht immer die gleichen –, muss man dann nicht einfach mal sagen: Wir kriegen gar nicht 47 Länder zusammen, über die man wirklich sagen kann, dort werden komplett die Menschenrechte eingehalten?
Rücker: Nein, wenn Sie sehen, was wir an Resolutionen verabschieden, es waren jetzt über 30 im März, dann sieht man, dass einerseits ein relativ großer Teil der Resolutionen im Konsens noch verabschiedet werden kann – das ist manchmal nicht ganz einfach, der muss hergestellt werden, da hat auch der Präsident eine Rolle –, und auf der anderen Seite gibt es Dinge, wo man sagen muss: Hier gibt es keinen Konsens, da muss jetzt abgestimmt werden. Das tun wir ja auch. Also so viel Konsens wie möglich, aber auch so viel Kontroverse und dann auch Abstimmung wie nötig.
Kassel: Persönliche Frage zum Schluss, Herr Rücker: Man sagt Ihnen nach, dass sie in all den Funktionen, die Sie bisher ausgeübt haben in Ihrem Leben, ob nun als Diplomat oder auch zwischendurch als Bürgermeister von Sindelfingen, dass Sie immer in der Lage gewesen sind, gewählte, aber doch auch deutliche Worte zu finden, wenn es denn erforderlich ist. Ist das mit dem Status eines Diplomaten auch jetzt noch wirklich vereinbar, deutliche Worte?
Rücker: Das ist schon vereinbar. Man gibt ja sozusagen seine politische Identität nicht an der Garderobe ab, wenn man Menschenrechtsratspräsident wird. Man muss sich natürlich anders ausdrücken, man muss den Konsens fördern auf allen Ebenen, aber man kann durchaus auch sagen, was man denkt. Beispiel: Wir hatten ein Panel zur Todesstrafe. Und da habe ich selbstverständlich am Anfang gesagt: Meine persönliche Auffassung ist, dass die Todesstrafe abgeschafft gehört, obwohl ich weiß, dass unter den 47 Mitgliedsstaaten Länder sitzen, die das ganz anders sehen.
Kassel: Herr Rücker, ich danke Ihnen!
Rücker: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.