UN-Migrationsgipfel in Marrakesch

Das Drama der minderjährigen Migranten

29.06.2018, Spanien, Tarifa: Zwei junge Migranten aus Nordafrika kommen nach ihrer Rettung in der Straße von Gibraltar im Hafen von Tarifa an und werden von einem Polizisten begleitet. Ihre Hände wurden zuvor zusammengebunden. Die EU-Staaten haben sich bei ihrem Gipfel in Brüssel darauf geeinigt, in der EU geschlossene Aufnahmelager für gerettete Bootsflüchtlinge einzurichten. Foto: Javier Fergo/dpa | Verwendung weltweit
Zwei junge Migranten aus Nordafrika kommen nach ihrer Rettung in der Straße von Gibraltar im spanischen Hafen von Tarifa an. Sie werden von einem Polizisten begleitet und ihre Hände sind zusammengebunden. © dpa
Von Jens Borchers und Marc Dugge |
Für viele junge Marokkaner heißt der Traum Europa. Und so wagen jedes Jahr mehr die Überfahrt nach Spanien. Manche aus eigenem Entschluss, viele werden aber auch gezielt von ihren Familien geschickt. Denn Minderjährige dürfen in Spanien nicht abgeschoben werden.
Es ist nicht schwer, in der Hafenstadt Tanger minderjährige Jugendliche zu finden, die nach Europa wollen. Der 14-jährige Mohammed kann vom Hafen aus die spanische Küste mit bloßem Auge sehen.
Zum Greifen nah - Die spanische Küste von der marokkanischen Hafenstadt Tanger aus gesehen.
Zum Greifen nah - Die spanische Küste von der marokkanischen Hafenstadt Tanger aus gesehen.© Jens Borchers / Marc Dugge
Seinen richtigen Namen will er nicht sagen. Er sei aus Nord-Marokko, aus der Stadt Fès hierhergekommen, erzählt Mohammed. Die Schule brach er in der 5. Klasse ab. Zuhause habe es immer Ärger mit dem Stiefvater gegeben. Der habe ihm gesagt, er solle verschwinden – es gab Beschimpfungen und Schläge. Deshalb will Mohammed nach Spanien.
Migranten aus Marokko sind in Spanien gestrandet.
Migranten aus Marokko sind in Spanien gestrandet.© dpa
Er will es machen wie so viele seiner Altersgenossen: Versuchen, sich auf einem Lastwagen zu verstecken, der dann mit der Fähre nach Spanien übersetzt. Oder auf ein Schlauchboot zu kommen. Warum?

"Dort ist es besser als in Marokko"

"Ich glaube, dort ist es besser als in Marokko. Dort bringen sie dich in einem Zentrum unter, kleiden dich, geben dir zu essen, unterrichten dich. Hier in Marokko sind die Jugendzentren wie Gefängnisse, da wirst du misshandelt, es gibt nicht genug zu essen."
Der Strand in Tanger, Marokko. 
Der Strand in Tanger, Marokko. © imago / ecomedia / robert fishman
Das alles will Mohammed von Freunden erfahren haben, die schon in Spanien sind. Ob er das Risiko der Überfahrten kennt, fragen wir. Klar, sagt Mohammed, das kann den Tod bedeuten.

20 bis 30 Minderjährige pro Tag

Er will nach Spanien, koste es, was es wolle. Gut möglich, dass sich eines Tages David Vázquez um ihn kümmern wird. Der Sozialerzieher arbeitet für die Hilfsorganisation Caritas in Barcelona. Dort kümmert er sich um unbegleitete Minderjährige:
"Schon im vergangenen Jahr waren die Zahlen alarmierend. Seit 2015 steigen die Zahlen enorm an, vor allem während des Sommers. Wir wissen nicht, was da los ist, es ist wie ein dauernder Lockruf aus Europa – zuletzt kamen 20, 30 Leute pro Tag in Barcelona an."

Sie wissen, dass sie nicht abgeschoben werden können

Minderjährige, die wissen, dass sie nicht abgeschoben werden können. Minderjährige, mit denen wir nicht sprechen dürfen - die spanischen Gesetze wollen es so. Mehr als 3300 von ihnen sind in diesem Jahr in Katalonien registriert worden – rund doppelt so viele wie im vergangenen Jahr. Meist handelt es sich um männliche marokkanische Jugendliche. Die Behörden kämen kaum hinterher, erzählt Vázquez.
"Es werden Gebäude als Unterkunft genutzt, die nicht dafür gedacht sind. In einer Schule sollten 30 Minderjährige ursprünglich zwei Tage lang übergangsweise untergebracht werden, bis sie in ein Aufnahme-Zentrum kommen. In weniger als einem Monat waren es schon siebzig. Statt zwei Tage blieben sie einen Monat dort - die Schule ist aus allen Nähten geplatzt, die Erzieher sind von dort geradezu weggerannt."

Feste Zahnspange und Videokonferenz mit Mama

Weil sie sich in den Unterkünften nicht wohl fühlen, nehmen aber auch viele Jugendliche Reißaus. Sie schlafen lieber unter Brücken oder in leer stehenden Häusern als in überfüllten Räumen und unter den strengen Augen der Erzieher. Dabei kommen die Angekommenen aus allen sozialen Schichten, so David Vázquez:
"Da sind junge Kerle drunter, die feste Zahnspangen tragen – so etwas kann sich hier in Katalonien nicht jeder erlauben. Sie sprechen per Videokonferenz mit ihrer Mutter, die gerade beim Friseur sitzt. Das sind keine Armen – na gut, im Vergleich mit uns schon. Aber es kommen auch marokkanische Analphabeten vom Land ohne Schulbildung – die auf ein Abenteuer hoffen."

Wichtig: Foto mit Nike-Sportschuhen nach Hause schicken

Und das Abenteuer will natürlich nach Hause berichtet werden - am besten über Online-Chats:
"Wenn die marokkanischen Jungs hier ankommen, besorgen sie sich erst einmal ein paar Nike-Sportschuhe - ich weiß nicht, die stehen alle auf Nike - machen Fotos von sich und schicken sie nach Hause."
Der Junge in Europa mit den teuren Turnschuhen - das ist das, was in der Heimat ankommt. Viele träumen davon, reich und berühmt zu werden. Wie Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo. Die Fußballstars des FC Barcelona seien für auffallend viele junge Marokkaner Idole, erzählt David.
Der Argentinier Lionel Messi und Ahmed Musa aus Nigeria kämpfen um den Ball.
Vorbild für viele junge Marokkaner: Fußballstar Lionel Messi.© dpa-Bildfunk / Cezaro De Luca
Sozialarbeiterin Fatwa kennt die Gedankenwelt der jungen Migranten ziemlich gut. Die Marokkanerin ist Vertrauensperson bei der Caritas. Sie spricht ihre Sprache – und kennt ihre Sorgen:
"Viele sind ja noch Kinder. Sie geben sich als harte Burschen, mit denen man sich nicht anlegen sollte. Aber in Wirklichkeit dient das nur dazu, dass andere ihnen nicht nahekommen. Hier fangen sie dann an zu weinen, nachts wollen mit ihrer Mutter sprechen und vermissen ihre Familie."
La Barceloneta ist ein am Mittelmeer liegendes Stadtviertel von Barcelona im Stadtbezirk Ciutat Vella.
La Barceloneta ist ein am Mittelmeer liegendes Stadtviertel von Barcelona im Stadtbezirk Ciutat Vella.© Jens Borchers / Marc Dugge
Im Touristenviertel Barceloneta sehen die Anwohner vor allem die andere, die raue Seite. Ein paar junge Migranten haben sich in einem verwaisten Innenhof einquartiert. Manel Martínez vom Nachbarschaftsverein sagt, dass sie Ärger machen:
"Einige von ihnen greifen Anwohner an. Sie berauben sie, verletzen sie zum Teil sogar. Vor vier Tagen wurde ein Mann angegriffen, als er gerade dabei war, sein Auto auszuladen. Ein Mädchen wurde von ihnen belästigt – und ein älterer Mann wurde angerempelt, sein Auto ausgeraubt, und die Jugendlichen hatten Messer gezogen."
Barcelona -  Demonstration für mehr Sicherheit in den Stadtteilen Barceloneta und El Raval im November
Barcelona - Demonstration für mehr Sicherheit in den Stadtteilen Barceloneta und El Raval im November.© imago stock&people
Es seien nur wenige, die Ärger stiften, sagt Martínez. Aber die prägten leider das Bild. Martínez wählt seine Worte sorgfältig. Er möchte die Ankömmlinge nicht stigmatisieren. Aber er sagt auch, dass einige Nachbarn nachts bestimmte Zonen des Viertels schon meiden. Die Polizei müsse vor allem jener habhaft werden, die die Jugendlichen zum Klauen anstiften. Bringen die Minderjährigen also die Kriminalität nach Katalonien?

Kriminalität in Barcelona ist um 19 Prozent angestiegen

Tatsache ist, dass die Kriminalität in Barcelona innerhalb eines Jahres um 19 Prozent angestiegen ist. Mitarbeiter von Polizei und Justiz machen dafür die eingereisten Minderjährigen mitverantwortlich. José Miguel Company von der Staatsanwaltschaft Barcelona stellt aber klar:
"Wenn man davon ausgeht, dass vielleicht zehn Prozent der ankommenden Minderjährigen straffällig sind, aber statt 200 ganze 2000 ankommen - dann ist es nur logisch, dass es auch mehr Straftäter gibt. Wir reden da aber in der Regel über Taschendiebstähle. Sexuelle Übergriffe sind eher die Ausnahme. Anders sieht es bei den Migranten aus, die schon volljährig geworden sind – und die immer noch keine Ausbildung und teils noch nicht mal Sprachkenntnisse haben. Bei diesen ehemaligen Minderjährigen verzeichnen wir durchaus einen deutlichen Anstieg bei schwereren Delikten, etwa Raubüberfällen."
Es ist auf den ersten Blick erstaunlich, dass so viele unbegleitete Minderjährige ausgerechnet nach Katalonien kommen. Schließlich landet die Mehrzahl von ihnen weit weg an: An der andalusischen Küste, von der Marokko teils noch nicht mal fünfzehn Kilometer weit entfernt ist. Aber:
"Nach wenigen Tagen verlassen sie Andalusien – und ihr Ziel ist immer - immer! – Katalonien oder, in geringerem Maße, das Baskenland", sagt Georgina Oliva. Sie leitet die Behörde für Jugendangelegenheiten der Regionalregierung von Katalonien.
"Ihr Ziel ist immer Katalonien" - Georgina Oliva, Chefin der Behörde für Jugendangelegenheiten der Regionalregierung von Katalonien.
"Ihr Ziel ist immer Katalonien" - Georgina Oliva, Chefin der Behörde für Jugendangelegenheiten der Regionalregierung von Katalonien.© Jens Borchers / Marc Dugge
Ihre größte Sorge ist derzeit, all die Ankömmlinge unterzubringen.
"Das ist eine riesige, komplexe Herausforderung für uns. In weniger als einem Jahr haben wir mehr als 120 Unterkünfte geschaffen. Bis eine geöffnet werden kann, dauert es normalerweise mindestens sechs Monate. Wir haben Notaufnahmezentren innerhalb von 24 Stunden auf die Beine gestellt."

Essen, Trinken, Unterkunft für die Jugendlichen

In den Notaufnahmezentren können sich die Kinder und Jugendlichen erst einmal duschen. Sie werden von Ärzten medizinisch und eventuell auch psychologisch untersucht, bekommen zu essen und zu trinken. Außerdem werden Identität und Alter der Migranten überprüft, bevor sie eine Unterkunft zugeteilt bekommen. Sozialarbeiter kümmern sich um sie. Später können sie Hilfe bei der Berufsausbildung bekommen - und drei Jahre lang eine finanzielle Unterstützung von gut 600 Euro im Monat. In Spanien sind die Sozialleistungen nur im Baskenland ähnlich gut. Das weiß man auch in Marokko.
"Es kann sein, dass das Menschen animiert, zu uns zu kommen", sagt Georgina Oliva. "Sicherlich sind das Anreize, herzukommen. Aber selbst wenn das so ist: Wir werden bei der Qualität unserer Leistungen nicht um ein Jota nachgeben, sondern im Gegenteil versuchen, sie zu verbessern. Wir werden ja niemanden wegen seiner Herkunft benachteiligen. Wenn ein Junge versucht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen – dann werden wir ihm dabei helfen!"

Willkommenskultur auf Katalanisch

Willkommenskultur auf Katalanisch - die aber durchaus ihre Widersprüche hat. So können erwachsene Marokkaner rasch abgeschoben werden, wenn sie sich illegal aufhalten. Vor allem dann, wenn sie straffällig geworden sind. Minderjährige dagegen dürfen, ja: sollen in Spanien bleiben. So legt es das Ausländergesetz fest. Dem Kindeswohl wegen.
"Aus der Perspektive des Rechts des Kindes sehe ich dieses Gesetz kritisch. Wir finden ja zu recht, dass unsere Kinder am besten bei ihren Familien aufgehoben sind… Das gilt aus meiner Sicht auch für die marokkanischen Kinder! Ich habe hier Jugendliche gesehen, die litten, die unbedingt zu ihren Müttern zurück wollten. Aber das Gesetz erlaubt es mir nicht."
Wenn ein Minderjähriger zurück in die Heimat will, ist das nicht einfach. Er müsse in Marokko erst einmal einen Antrag stellen, sagt Oliva. Die Behörden prüften dann, wie die heimischen Familienverhältnisse sind – und ob das Kind zurückgeschickt werden darf. Das könne Monate dauern.

Im kommenden Jahr sollen viel mehr Minderjährige kommen

Die Behördenchefin stellt sich daher darauf ein, dass der Großteil der Minderjährigen in Katalonien bleiben wird. Und sie glaubt den Experten, die davon ausgehen, dass im kommenden Jahr noch viel mehr ankommen werden. Deswegen hat sie sich schon an die Arbeit gemacht, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Den Ankömmlingen soll es in ihrer neuen Heimat bestens gehen:
"Wenn wir schon erwarten, dass mindestens 4000 Minderjährige ankommen, möchten wir auch 4000 Plätze für sie bereitgestellt haben, wenn sie ankommen. Wir wollen nicht erst dann reagieren, wenn sie da sind, sondern Plätze und spezielles Personal schon bereitstehen haben, damit ihnen auch auf schnellste Art und Weise geholfen werden kann."
Bitte bleibt zu Hause - Mounira Elalami lebt in Tanger und versucht marokkanische Jugendliche davon abzuhalten, nach Spanien zu gehen.
Bitte bleibt zu Hause - Mounira Elalami lebt in Tanger und versucht marokkanische Jugendliche davon abzuhalten, nach Spanien zu gehen.© Jens Borchers / Marc Dugge
Mounira Elalami will möglichst viele von diesem Weg abhalten. Sie ist die Frau eines marokkanischen Milliardärs und lebt in Tanger. Manchmal geht sie selbst runter an den Hafen und hält nach Jugendlichen Ausschau, die auf die andere Seite der Meerenge wollen.
"Das ist ein permanenter Lockruf aus Spanien oder Frankreich: Wenn ein Minderjähriger dorthin durchkommt, kann er nicht abgeschoben werden. Und die Kinder erzählen es per Mobiltelefon jedem in Marokko. Selbst Auszubildende bei uns sagen: Wenn ich 2000 oder 3000 Euro zusammen kriege, gehe ich weg."
Die 2000 oder 3000 Euro – dieses Geld brauchen diejenigen, die mit Hilfe von Schleusernetzwerken nach Spanien wollen. Und sie gehen tatsächlich weg. Mounira Elalami sagt, sie kenne das aus ihren Gesprächen mit Eltern:
"Jede marokkanische Familie, die jemanden rüberschicken will, weiß, dass Erwachsene kaum noch eine Chance haben. Deshalb investieren sie, indem sie einen Jugendlichen rüberschicken. Sie wissen genau: der kann auch dort bleiben, nachdem er volljährig geworden ist. Ich hatte hier Auszubildende, die schon auf einem guten Weg waren, aber eines Tages waren sie weg. Und eine Mutter erzählte mir dann, sie hätten ihren Sohn nach Europa geschickt."

Wer Minderjährige transportiert, wird gejagt

Die marokkanischen Behörden jagen diejenigen, die Minderjährige und ältere Migranten transportieren. Khalid Zeroualí ist ein wichtiger Mann im Innenministerium: Chef der Abteilung Migration und Grenzüberwachung. Zeroualí sagt, allein in diesem Jahr hätten sie schon etwa 130 Schleusernetzwerke zerschlagen.
An der Grenze zu Marokko - afrikanische Flüchtlinge am Grenzzaun in der spanischen Exklave Melilla in Nordafrika.
An der Grenze zu Marokko - afrikanische Flüchtlinge am Grenzzaun in der spanischen Exklave Melilla in Nordafrika.© AP / Santi Palacios)
Warum immer mehr Minderjährige versuchen, Marokko zu verlassen – darauf hat Zeroualí eher technische Antworten. Er meint, die Schleuser schaffen sich Nachfrage. Durch Eigenwerbung in den sozialen Netzwerken. Denn Khalid Zeroualí sagt, das Schleusergeschäft blühe, weil Europa die Minderjährigen nicht einfach zurückschicke:
"Wenn die Schleuser-Netzwerke wissen, dass bestimmte Personengruppen nicht aus Europa abgeschoben werden – dann konzentrieren sie ihr Geschäft genau darauf."
Dass Marokkos Bildungssystem offenbar eine Vielzahl von Schulabbrechern produziert, dass viele Familien gezielt darauf setzen, einen Minderjährigen übers Mittelmeer zu schicken, damit er in Europa einen legalen Aufenthaltsstatus bekommt – das sagt Zeroualí nicht so konkret.

Fünf Millionen Marokkaner leben außer Landes

Najib Aksebi, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität in Marokkos Hauptstadt Rabat, wird da viel deutlicher. Akesbi verweist auf die lange Migrationsgeschichte der Marokkaner. Etwa fünf Millionen von ihnen leben außer Landes, verdienen dort Geld und schicken es nach Hause, um die Verwandten zu unterstützen:
"Heutzutage sehen Sie in Marokko ganze Stadtviertel, ganze Dörfer, die von den Überweisungen der Auslandsmarokkaner leben. Der Staat wird durch die Migration potentielle Unruhestifter los, Unzufriedene. Die Migration bringt aber nicht nur mit sich, dass Marokko diese Leute los wird. Sondern auch, dass Familien, die im Land bleiben, mit ihrer Hilfe leben können."
Das geht seit vielen Jahrzehnten so: Frankreich, Niederlande, Spanien oder Deutschland – in diesen Staaten leben große marokkanische Auslandsgemeinschaften. Weil es aber mittlerweile so viel schwieriger für erwachsene Marokkaner ist, legal nach Europa zu kommen, gehen eben Minderjährige. Denn die werden nicht abgewiesen und zurückgeschickt.
Wirtschaftsexperte Akesbi zählt rasch auf, welche Faktoren im Land dafür verantwortlich sind, dass viele weg wollen: die hohe Arbeitslosigkeit bei jungen Menschen, deutlich über 20 Prozent. Die Tatsache, dass Marokkos Wirtschaft nicht in der Lage ist, ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen, um die geburtenstarken Jahrgänge in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das sorgt für Unzufriedenheit, für soziale Proteste und eine wachsende Wut in der jungen Generation. Zu besichtigen ist das unter anderem in den Fußballstadien Marokkos:
Wenn der Gesang der Ultras aus der Südkurve des Stadions von Raja Casablanca dröhnt – dann geht es nicht nur um Tore, Titel und Triumphe. Die Fans singen ihren Protest.
"Ich werde unterdrückt in meinem Land – bei wem kann ich mich beklagen – nur beim allmächtigen Gott – er wird mein Leiden verstehen."
Und das ist nur der Anfang. Dieser Fan-Gesang ist eine Anklage:
"Ihr habt die Reichtümer unseres Landes gestohlen – ihr habt sie mit Ausländern geteilt – ihr habt eine ganze Generation zerstört."

"Ein Signal für Unzufriedenheit und massive Enttäuschung"

Das Video dieses Protestsongs der Fußballfans ist mehr als eine Million mal angeklickt worden. Und etliche singen ihren Protest nicht nur – sie randalieren nach den Fußballspielen, schlagen Schaufenster ein, beschädigen Autos. Wirtschaftsexperte Akesbi sieht das mit Sorge:
"Ich sehe Jugendliche, die versuchen auf offener Straße die marokkanische Flagge zu verbrennen. Oder Szenen an einem Strand, wo jemand auftaucht und sagt: ‚Ich habe da ein Boot, ich kann euch nach Spanien bringen‘. Dann sind da viele, die alles stehen und liegen lassen wollen, um dieses Angebot anzunehmen. Ich höre da unglaubliche Geschichten. Dass die Jugendlichen ein solches Maß an Radikalität und Ablehnung erreichen, ist natürlich Signal für die Unzufriedenheit und eine massive Enttäuschung. Das ist beunruhigend."
Teil dieser Unzufriedenheit sind Folge der massiven Probleme im marokkanischen Bildungssystem. Viele Schulabbrecher, viele Jugendliche, deren Bildungsniveau nach dem Schulabschluss nicht ausreicht, um eine qualifizierte Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren. Najib Akesbi sagt:
"Ich bin bei weitem nicht davon überzeugt, dass es reichen würde, einfach mehr Geld für unser Bildungssystem bereitzustellen. Da müssen grundlegende Entscheidungen getroffen werden, die politischen Mut erfordern. Es betrifft das ganze Erziehungssystem: die Pädagogik, die Schulbücher, die Lehrer…."
Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez (l.) trifft im November in Rabat den marokkanischen Regierungschef Saad Eddine el-Othmani. 
Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez (l.) trifft im November in Rabat den marokkanischen Regierungschef Saad Eddine el-Othmani. © AFP / Fadel Senna
Unter Marokkos Mächtigen ist es unbestritten, dass der Reformbedarf im Erziehungs- und Bildungssystem groß ist. Seit Jahren. Und seit Jahren lassen Strukturreformen auf sich warten.
Unterdessen träumen viele junge Menschen von der Migration, von der Hoffnung auf eine Perspektive: auf ein besseres Leben, einen Job im Ausland, aber auch auf mehr persönliche Freiheiten. Und es sind mittlerweile eben auch Minderjährige, die weg wollen – sei es, weil die Familie es will, sei es, weil sie sich eigenständig auf den Weg machen.

"Wir nehmen unsere Kinder auch zurück"

Für Khalid Zeroualí, den Direktor für Migration und Grenzsicherung im marokkanischen Innenministerium, geht es nicht um Bildungsreformen. Er muss sich um die Sicherheitsfragen kümmern. Und zu den Minderjährigen sagt Zeroualí, Marokko hätte kein Problem damit, wenn sie aus Europa zurückgeschickt würden:
"Das Wohlergehen der Kinder muss gesichert sein. Würden sie zurückgeschickt, müssten sie entweder wieder in ihre Familien integriert oder in Einrichtungen für Minderjährige gebracht werden, wo man sich um sie kümmert."
Deshalb betont Khalid Zeroualí: Marokko sei immer bereit, seine Kinder zurückzunehmen: "Wir stehen bereit, zu ihrer Identifizierung beizutragen und sie wieder aufzunehmen", sagt Zeroualí:
"Wir brauchen niemanden, der für unsere Kinder bezahlt", sagt der Mann aus dem Innenministerium. Eine ganz andere Frage ist dann, über welche Kapazitäten Marokko verfügt, den Jugendlichen dann auch eine Lebensperspektive im eigenen Land zu bieten.

Euer Haus - aber ohne Gewalt

Mounira Elamami versucht genau das in der marokkanischen Hafenstadt Tanger. Sie begrüßt jedes Kind mit seinem Namen, nimmt es in den Arm, küsst es. Das wirkt nicht künstlich oder einstudiert – die 74-jährige Psychologin ist einfach so: Sie fasst an. Sie packt auch zu, wenn sie etwas sinnvoll findet. Und sie sagt ziemlich hemmungslos, was sie für richtig oder falsch hält.
"Keiner will nach unten schauen. Alle sehen nach oben", sagt Elalami. "Ich sehe nach unten!" – Damit meint sie: Dorthin, wo Kinder in Schwierigkeiten stecken, geschlagen werden, nicht lernen können und mit Gewalt und Drogen konfrontiert sind. Für solche Kinder hat sie in Tanger ein Haus geschaffen. Darna, "Unser Haus", heisst es. Dort gilt eine klare Regel für die Kinder und Jugendlichen:
"Ihr seid in eurem Haus. Ihr müsst nicht um Erlaubnis fragen, ihr könnt machen, was ihr wollt. Dafür darf hier aber auch niemand Gewalt anwenden."
"Ich brauchte was zum schlafen" - Im Haus "Darna" in Tanger werden Kinder bei den Hausaufgaben betreut.
"Ich brauchte was zum schlafen" - Im Haus "Darna" in Tanger werden Kinder bei den Hausaufgaben betreut.© Jens Borchers / Marc Dugge
Vom Haus schauen die Kinder direkt aufs Meer. Bei gutem Wetter sehen sie die spanische Küste. Und Mounira Elalami weiß aus mehr als 23 Jahren Erfahrung, wie viele davon träumen, über dieses Meer nach Spanien zu kommen:
"Anstatt auf dem Meer Selbstmord zu begehen, bieten wir ihnen an, hier für ihr Leben zu lernen. Jeder hat das Recht, Fehler zu machen, aber jeder soll lernen und dann weitergeben, was man fürs Leben braucht."
Zimmer mit Aussicht - Verführerischer Blick aus dem "Darna"-Haus in Tanger auf die gegenüberliegende spanische Küste.
Zimmer mit Aussicht - Verführerischer Blick aus dem "Darna"-Haus in Tanger auf die gegenüberliegende spanische Küste.© Jens Borchers / Marc Dugge
Tarik El Bakkali sagt, er habe genau das gelernt. Tarik kam ins Darna, als er 10 war.
"Damals suchte ich einen Platz zum schlafen und hier gab es eine Unterkunft. Ich hatte Schiss am Anfang. Es gab Krach mit meiner Mutter und Probleme zu Hause. Aber dann ging das alles, ich wurde gut aufgenommen von den Betreuern und den Lehrern."
Zu Hause habe es dauernd Krach, Schläge und Schwierigkeiten gegeben. Im Darna lernte Tarik lesen und schreiben, tischlern, nähen und backen. Und Theater spielen. Das ging alles keineswegs reibungslos, sagt Tarik. Auch er wollte weg, nach Europa:
"Ich war superaufgeregt und wollte das unbedingt. Also habe ich eines nachts den großen Fehler gemacht: Ich bin abgehauen, um auf ein Boot zu kommen. Sie haben mich vermisst, eine Suchaktion gestartet. Das war das letzte Mal, dass ich so etwas gemacht habe."
Mitarbeiter des Darna fanden ihn und überredeten ihn, sich nicht auf das gefährliche Abenteuer Migration einzulassen. Tarik sagt jetzt, er glaube nicht, dass viele seiner marokkanischen Bekannten in Spanien gut leben. Es sei schwierig, er höre, dass sie klauen, um an Geld zu kommen. In Mounira Elalamis Darna wollen sie genau das verhindern.

Keiner finanziert uns

115 Mädchen und Jungen kommen zurzeit ins Darna. Sie bekommen dort Unterricht und Hausaufgabenhilfe. Vor allem aber: Sie sind nicht auf der Straße, sondern in einem geschützten Umfeld. Wer will, kann eine Ausbildung machen, die Mitarbeiter und die Chefin helfen später dabei, Jobs zu finden.
Natürlich ist "Unser Haus" ein Tropfen auf den heißen Stein. Mounira Elalami sagt, es müsste viel mehr in die Kinder und Jugendlichen investiert werden. Elalami steckt privates Geld in das Projekt und sammelt Spenden:
"Niemand unterstützt uns finanziell, damit wir uns um diese Kinder kümmern können, die in Schwierigkeiten stecken", sagt Elalami. Die Europäische Union habe mal 18 Monate lang Geld gegeben, dann wurde die Finanzierung eingestellt – wegen der Bankenkrise in Europa. Das war 2008. Seitdem hat die EU viel unternommen, um illegale Einwanderung zu verhindern. Aber Unterstützung für ein Projekt wie "Unser Haus" – die zählt nicht dazu. Mounira Elalami versteht das nicht:
"Wenn sie nicht wollen, dass weiter Jugendlichen nach Europa kommen die erst Schwierigkeiten machen und später vielleicht Terroristen werden", so sieht es Elalami, "dann sollten sie uns finanzieren."
Offenbar sehen das bisher weder die Europäische Union noch die marokkanische Regierung so – von beiden kommt kein Geld für "Unser Haus".
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