"Wirtschaftsmodell der Industriestaaten nicht durchhaltbar"
Mit einem Aktionsplan will die Staatengemeinschaft bis Ende 2030 die Armut beseitigen, die Gleichstellung von Frauen vorantreiben, die Gesundheitsversorgung verbessern und dem Klimawandel entgegensteuern. Die Konsequenzen sind weitreichend, erläutert Jule Reimer.
Deutschlandradio Kultur: Es klingt ziemlich utopisch, was sich die Vereinten Nationen vornehmen: Bis 2030 sollen weltweit Nachhaltige Entwicklungsziele erreicht werden, und zwar 17 Haupt-Ziele mit 169 Unterzielen. Heute beginnt in New York der UN-Nachhaltigkeitsgipfel. Dort werden 160 Staats- und Regierungschefs diese nachhaltigen Entwicklungsziele verabschieden.
Wir wollen uns erst einmal anschauen, was die Vereinten Nationen bei einem vergleichbar ehrgeizigen Projekt erreicht haben, bei den Millennium-Entwicklungszielen, im Jahr 2000 wurden die beschlossen – und in diesem Jahr wird die Bilanz gezogen. Und das machen wir mit Jule Reimer, sie ist Redakteurin beim Deutschlandfunk.
Was wurde denn mit den Millenniumszielen erreicht?
Jule Reimer: Die Zahl der Bitterarmen mit weniger als 1,25 US-Dollar Einkommen pro Tag konnte zwischen 1990 und 2015 halbiert werden. Allerdings vor allem aufgrund des rasanten Wirtschaftswachstums vor allem in China, Indien und Brasilien. In Afrika hingegen ist die Zahl der Bitterarmen nur geringfügig gesunken.
Gute Nachrichten gibt es beim Millenniumsziel Grundschulbesuch: Heute gehen vier von fünf Kindern in die Grundschule, 1990 war es nur jedes zweite Kind . Erfolge gibt es auch bei der Reduzierung der Kindersterblichkeit, die fast halbiert wurde. Die Müttersterblichkeit wurde auch verringert, allerdings weniger erfolgreich. Und Aids ist heute deutlich besser zu verhindern und zu behandeln als noch für 15 Jahren.
Würdige Arbeitsbedingungen Geschlechtergerechtigkeit, nachhaltiger Energie
Deutschlandradio Kultur: Die Nachhaltigen Entwicklungsziele, die jetzt von der UN-Vollversammlung beschlossen werden, sind die eine Art Fortsetzung der Millenniums-Ziele?
Reimer: Ja, aber auch um eine Erweiterung. Bei den acht Millenniumszielen geht es vor allem um Armutsbekämpfung. Diese werden durch die 17 Sustainable Development Goals – die Nachhaltigen Entwicklungsziele - ergänzt. Dabei geht es beispielsweise um würdige Arbeitsbedingungen, Geschlechtergerechtigkeit, Zugang zu nachhaltiger Energie, den Schutz der Ozeane oder darum Artenvielfalt erhalten.
Die wichtigste Veränderung ist jedoch: Die Sustainable Development Goals gelten auch für die Industriestaaten. Deren Wirtschaftsmodell ist in der bisherigen Form nicht durchhaltbar. Denn wenn im Jahr 2050 nur ein Teil der bis dahin schätzungsweise 9 Milliarden Menschen genauso häufig wie wir heute ein neues Smartphone kauft, Flugreisen unternimmt oder in gleicher Weise produziert, dann wird die Klimaerwärmung rasant zulegen. Und der Bergbau und die Rohstoffförderung werden die Artenvielfalt und die Ernährungsgrundlagen weltweit zerstören.
Deutschlandradio Kultur: Die Nachhaltigen Entwicklungsziele gelten auch für die Industrieländer. Was sind die Konsequenzen – für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland?
Reimer: Die Bundesregierung muss ihre Nachhaltigkeitsstrategie überprüfen. Notwendig wäre, die Besteuerung weg von Einkommen auf den Rohstoffverbrauch zu verlagern. Auch Braunkohlekraftwerke vertragen sich nicht mit den neuen Nachhaltigkeitszielen. Infrage gestellt werden muss die Subventionierung der europäischen Intensivlandwirtschaft in ihrer derzeitigen Form, denn diese zerstört die Artenvielfalt.
Praktisch heißt das: Mehr Carsharing, wir müssen öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad nutzen, außerdem Handys bauen und kaufen, die fünf Jahre halten – und kein Schweinefleisch essen, das von mit Soja gemästeten Schweinen stammt, das auf abgeholzten Regenwaldflächen gewachsen ist.
"Hungerbekämpfung und Artenvielfalt müssen zusammengedacht werden"
Deutschlandradio Kultur: Sind diese 169 nachhaltigen Entwicklungsziele nicht enorm überambitioniert? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat dazu geschrieben, mit dieser Riesen-Agenda würde zwar JEDE Lobbygruppe zufriedengestellt, aber es gebe dann auch kein erfüllbares Konzept mit klaren Prioritäten.
Reimer: Tatsächlich gibt es 17 große allgemeine Ziele, die in Unterzielen mit genauen Zahlen und Zielgrößen unterlegt sind. Die Herausforderung ist: Die Dinge müssen zusammengedacht werden.
Mit dem Ziel der Hungerbekämpfung ist der Schutz der Artenvielfalt verbunden: Ohne intakte Fischbestände und Bodenschutz gibt es keine ausreichende Ernährungsgrundlage.
Das gilt auch, wenn Arbeiter auf Plantagen oder Fabriken nur zu Hungerlohnen beschäftigt werden.
Auch die angemessen honorierte Berufstätigkeit von Frauen ist ein wichtiger Wohlstandsgenerator für Volkswirtschaften, rechnen Weltbank und IWF vor. Und der stellt sich nicht ohne Geschlechtergerechtigkeit ein. Immerhin gehen 2015 rund 50 Prozent der Mädchen weltweit endlich zur Grundschule – umgekehrt heißt das aber auch: 50 Prozent tun es immer noch nicht.
Deutschlandradio Kultur: Und wer soll dieses Groß-Projekt in Gang setzen und in Gang halten und kontrollieren? Haben die Vereinten Nationen die Kapazitäten dafür?
Reimer: Die UN-Organisationen sind immer noch zu kümmerlich ausgestattet. Die reichen Staaten dieser Erde stellen zudem immer noch viel zu wenige Mittel für die Entwicklungsländer bereit, so dass diese auf neue Technologien - saubere Energie statt billige Braunkohle zum Beispiel - setzen können.
In allen Gipfelerklärungen der UNO oder der G7 wird stark auf Beiträge der Privatwirtschaft gesetzt. Allerdings verfolgen Konzerne möglicherweise sehr stark eigene Ziele. Und bei der derzeitigen UN-Generalversammlung gibt man auch etwas ernüchtert, denn ein möglicher Partner aus der Privatwirtschaft, die Automobilindustrie macht derzeit gar keine gute Figur beim Thema Nachhaltigkeit und Glaubwürdigkeit.