Eine neue Erinnerungskultur im Land
Beim Besuch in Litauen hat Autor Marko Martin beobachtet, wie das Land seine Geschichte aufarbeitet: Der Blick werde universalistischer. Man stellt fest: "Die Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts war nicht nur Stalin, sondern auch Hitler."
Joachim Scholl: Im nächsten Monat feiert Litauen das einhundertjährige Jubiläum seiner Unabhängigkeit, und auf die auch künstlerisch-literarischen Spuren dieser Geschichte hat sich der Schriftsteller und von uns auch stets geschätzte Kritiker Marko Martin jüngst gemacht. Gerade ist er zurück, heute in der "Lesart", guten Morgen, Herr Martin!
Marko Martin: Guten Morgen!
Scholl: Sie sind als literarischer Globetrotter ja schon bekannt, Spezialist aber mehr für die süd- und panamerikanische Region. Jetzt also Litauen? Wie war diese Reise für Sie?
Faszinierende Reise
Martin: Es war faszinierend. Ich muss zu meiner Schande gestehen, ich hatte bis ein halbes Jahr vor der Reise Litauen geistig nicht auf dem Schirm, und dann habe ich angefangen zu lesen und entdeckte, dass ich es ja eigentlich doch schon auf dem Schirm hatte. Einer meiner Lieblingsdichter, Czeslaw Milosz, ist im damaligen Wilna, der heutigen Hauptstadt Vilnius geboren und einer der bekanntesten litauischen Exildichter. Thomas Wenzlowa traf ich vor einigen Jahren in Berlin, und dann kam das eine zum anderen, ich las mich ein und entdeckte, dass Josef Brodsky kurz vor seiner Zwangsexilierung in die USA eine letzte Reise gemacht hat nach Litauen, sozusagen an den westlichsten Rand der damaligen Sowjetunion, wo es schon kleine Inseln von Freiheit gegeben hat.
Scholl: Und in dem Zusammenhang haben Sie auch auf einen Roman von Arnold Zweig aufmerksam gemacht, den man gleich auf dieses Staatsjubiläum, jetzt 100 Jahre Litauen, ansetzen könnte mit der verblüffenden historischen Volte, nämliche dass Vilnius fast einen deutschen König bekommen hätte. Wie denn das?
Martin: Vilnius, das damalige Wilna, ist im Ersten Weltkrieg 1915 von den Deutschen besetzt worden, die die zaristischen Truppen, die dort über ein Jahrhundert Besatzungsmacht waren, vertrieben hatten, und als dann Litauen – wie Sie es erwähnt haben – die staatliche Unabhängigkeit bekam am 16. Februar 1918, hatte die deutsche Regierung – damals noch die kaiserliche Regierung – den Wunsch, einen Satellitenstaat zu installieren, und man hat einen württembergischen Herzog auserkoren, der schon für allerlei andere Posten zur Verfügung hätte stehen sollen in Albanien, und selbst in Monaco und wo auch immer, jedenfalls ein Aristokrat der zweiten Reihe. Das wurde dann nichts, aber über diese Kabale hat damals Arnold Zweig den Roman "Einsetzung eines Königs" geschrieben, sozusagen die Fortsetzung seines berühmten Werks "Der Streit um den Sergeanten Grischa", und es war natürlich auch etwas Neues zu sehen, wie weit Litauen auch in die deutsche Literaturgeschichte hineinragt, ganz zu schweigen von Johannes Bobrowskis "litauischen Klavieren".
Zerklüftete Geschichte
Scholl: Wie gehen denn die Litauer jetzt mit diesem 100. Geburtstag um? Ist das wichtig? Welche Bedeutung hat das Datum?
Martin: Es ist der Nationalfeiertag, aber gleichzeitig ist die Geschichte Litauens ja so zerklüftet, dass es noch eine ganze Menge anderer geschichtlicher Termine, wenn man das so sagen kann, gibt: Dann war 1940 der sowjetische Einmarsch, dann kam die Nazibesatzung, dann kam wieder die sowjetische Besatzung, und dann kam es endlich zur Unabhängigkeit 1990. Aber dieser erste litauische Unabhängigkeitstag, als sich Litauen wieder als Republik oder erstmals als Republik konstituierte, ist natürlich sehr wichtig.
Scholl: Sie haben Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler getroffen. Wie reden diese über ihr Land, über ihre Geschichte, über auch diese Erinnerungen?
Martin: Man muss ein bisschen flapsig sagen: Es ist der Norden, es sprudelt jetzt nicht so wie vielleicht in der mediterranen Welt oder in Südamerika. Also man stellt Fragen, und dann kommen Antworten. Es geht alles ein bisschen langsam, aber es ist dann doch profund, und was natürlich auch etwas langsam geht – und das muss man schon sagen –, ist die Aufarbeitung des Holocaust. Die Litauer sagen, und andre auch… Eugenijus Alisanka, einer der bekanntesten Lyriker des Landes, erklärte mir das in der Weise, dass er sagte, die Vernichtung des litauischen Judentums durch die Nazideutschen mit großer Beihilfe einheimischer Litauer wird deshalb im Land noch nicht als eigene nationale Tragödie gesehen, weil man die jüdische Bevölkerung immer noch als etwas anderes wahrnimmt. Also es gab nicht diese - wie es hier in Deutschland der Fall war - deutsch-jüdische Symbiose. Es war "das Andere" sah. Und dann waren die plötzlich weg, und in der stalinistischen Zeit konnte darüber auch nicht gesprochen werden, das wurde auch nicht thematisiert.
Man darf nicht vergessen, dass das große Massakerfeld Ponary, etwas außerhalb von Vilnius, Jahre oder jahrzehntelang gekennzeichnet wurde mit: "Hier starben unschuldige sowjetische Bürger!" Dass es sich dabei um Juden handelte, war im sowjetischen Diskurs nicht vorgesehen, und hinzu kommt noch, dass die Litauer ja auch unter dem Stalinismus gelitten haben. 200.000 Litauer wurden zwangsdeportiert, viele starben, viele kamen natürlich auch zurück. Diese Geschichte durfte nicht besprochen werden, sodass ein gewisser Nachholbedarf zu konstatieren ist. Aber man muss sagen: Nach 28 Jahren ist es dann ja auch doch an der Zeit, auch an den Holocaust zu erinnern, was jetzt auch getan wird.
Es gibt diesen interessanten Universitätsintellektuellen, der sogar Berater des Kulturministers ist: Viktoras Bachmetjevas. Der setzt sich dafür ein, dass Emmanuel Levinas, einer der berühmtesten Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts, auch endlich anerkannt wird als Teil der litauischen Geschichte. Viele Litauer sind sehr stolz darauf, dass Levinas das "-as", was typisch für litauische Nachnamen ist, in Paris nicht abgelegt hat. Und der sagte mir: Man kann das nicht nur so folkloristisch sehen, es ist jetzt auch an der Zeit, den Blick universalistisch zu weiten und zu sehen, dass die Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts natürlich nicht nur Stalin war, sondern auch Hitler, und in der Museumskonzeption in Vilnius ist das zum Teil schon vorhanden.
Es gibt ein staatliches Toleranzmuseum, was an die jüdische Aufklärung erinnert, an die berühmte Haskala, für die Wilna berühmt war. Wilna galt als das Jerusalem des Nordens. Da gibt es ein kleines Holocaustmuseum. Aber bei diesem Holocaustmuseum ist es dann schon wieder so, dass man sich fragt: Tja, was ist hier los? In dem Holocaustmuseum sind die Guides junge Österreicher, die dort ihr soziales Jahr ableisten, und die sagen: "Wir schämen uns so dafür, was Deutsche und Österreicher in Litauen getan haben, sodass wir hier in diesem Holocaustmuseum arbeiten." Und ich habe sie gefragt: "Wie viele Schulklassen kommen zu Euch?" Und sie lächelten und sagten: "2017 waren es einige... Es waren zwei!"
Mit den Sowjets begannen die Deportationen der Eliten
Scholl: Haben denn Ihre Gesprächspartner auch vielleicht erklärt, wie es eigentlich kam, dass gerade in den baltischen Staaten, eben in Litauen, die Kollaboration am Holocaust so massiv war?
Martin: Es ist erklärbar durch die vorhergehende stalinistische Repression. Man darf nicht vergessen: Sobald die Sowjets Litauen eingemeindet hatten als litauische Sowjetrepublik, begannen die Deportationen der Elite, der wirtschaftlichen und der kulturellen Elite, und die Deportationen stoppten, als die Wehrmacht kam. Das heißt: Viele Litauer sahen damals die Deutschen erst einmal als Befreier und sahen die Juden als Sündenböcke, denen man vorgeworfen hatte, mit den Bolschewisten gemeinsame Sache zu machen - was natürlich völlig hanebüchen war.
Unter den Deportierten, die nach Sibirien kamen, waren natürlich auch ungeheuer viele litauische Juden, aber die waren jetzt sozusagen vor Ort. Es gab in Litauen jetzt nicht eine lange Pogromgeschichte, sonst wäre ja Wilna nicht so ein blühendes Zentrum gewesen, aber die Juden waren da auch einfach zu lokalisieren, und da brach sich der Hass Bahn in einer Weise, die wirklich kaum aufgearbeitet ist, das muss man sagen.
Es waren eben nicht nur wenige einheimische Paramilitärs, sondern es waren ganze Segmente von Dorfbevölkerungen, die sich da beteiligt haben. Diese Geschichte auch anzunehmen als Teil der eigenen Geschichte, geht - würde ich sagen - nur in Trippelschritten. Letztes Jahr gab es im städtischen Moletai – das ist ein 5.000-Einwohner-Ort in Litauen – die Errichtung eines Holocaustmahnmals, und dass viele tausende Leute da waren, Litauer, also Nicht-Juden, war schon eine Meldung wert, und dann sieht man natürlich, wie langsam sich auch dann historische Gedächtnis entwickelt und ausdifferenzieren muss.
Diskrepanz der Erinnerungskultur
Scholl: Das heißt also: Eine große Diskrepanz in der Erinnerungskultur, das heißt, der Stalinismus, die Wunden, die er geschlagen hat, wird wahrscheinlich doch weitaus stärker thematisiert.
Martin: Das wird weitaus stärker thematisiert. Im ehemaligen KGB-Gebäude in Vilnius gibt es ein Museum, das dem gewidmet ist. Das Museum heißt allerdings Genozid-Museum - das ist schon etwas merkwürdig. Also ohne die Massenverbrechen des Stalinismus relativieren zu müssen, oder zu wollen, muss man sagen: Aus dem Gulag konnte man eventuell wiederkommen, es gab diese Chance – aus den Nazi-Vernichtungslagern kaum.
Wer das thematisiert, schon frühzeitig – das ist interessant, und hier schließt sich ein Kreis –, waren die beiden Exilanten, Czeslaw Milosz und Thomas Wenzlowa, die gesagt haben: Natürlich gehört beides dazu. Dass es kein Genozid war, bedeutet nicht, dass es sozusagen ein kleineres Verbrechen war, aber es war ein anderes Verbrechen, und diese Genauigkeit kommt natürlich von den Exilanten, die rausgegangen sind, die rausgehen mussten in die Welt, und jetzt kommt ein bisschen von diesem kosmopolitischen Geist zurück nach Litauen, und das ist eigentlich eine gute Sache.
Scholl: Litauen feiert 100 Jahre Unabhängigkeit. Marko Martin hat das Land bereist und dort Schriftsteller und Künstler getroffen. Vielen Dank, Herr Martin, für Ihre Eindrücke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.