Unaufdringliche Geschichtspädagogik
Geschichtsbücher belehren uns über Ereignisse, Tatsachen und Zusammenhänge, aber es fehlt ihnen oft die gewisse Lebendigkeit. Stellen Sie sich dagegen vor, 100 Großmütter und Großväter beginnen zu erzählen: Was sie erlebt und erlitten haben in 100 Jahren deutscher Geschichte, in Kaiserreich und Diktatur, in Krieg und Friedenszeiten, in Elend und Wirtschaftswunder.
Das Hörbuch "Meine Geschichte – Zeitzeugen erzählen" bietet einen solchen Chor der Stimmen, arrangiert von Inge Kurtz und Jürgen Geerts. Nichts als mündliche Geschichte, 15 Stunden lang.
"Aber dass Sie nun gar nicht mehr von Ihrer Vergangenheit reden können, ohne sich Fragen ausgesetzt zu sehen, die Sie nicht beantworten können, das ist für alte Leute schlimm. Und so sitzen wir auf unseren Erinnerungen wie auf nicht abgeholten Gepäckstücken."
Diese Collage aus O-Tönen ist eine Sammelstelle für nicht abgeholtes Erinnerungsgepäck. Inge Kurtz und Jürgen Geers haben mehr als hundert Zeitzeugen interviewt, haben zugehört, ohne dazwischenzureden. Und daraus ein überwältigendes historisches Panorama montiert: 100 Jahre deutsche Geschichte, gespiegelt in Lebensgeschichten.
Am Anfang ist das etwas gewöhnungsbedürftig: Man hört den Greisen-Stimmen von fast Hundertjährigen zu, die sich noch ans Kaiserreich erinnern. Verklärung der fernen Jugend und der "guten, alten Zeit" spielen dabei kaum eine Rolle. Berichtet wird von der Ständegesellschaft, dem militärischen Pomp, der verbreiteten Armut und den Plagen mit dem noch untechnisierten Haushalt:
"Zur Wäsche kam die sogenannte Waschfrau. Die gibt's ja heute Gottseidank nicht mehr. Die arme Frau hat mir schon damals als Kind immer leid getan. Denn sie musste ja jeden Tag woanders waschen. Sie war also – Sonnabends war ja auch Arbeitstag – also sechs Tage hat die gewaschen."
Wie lebten die Menschen? Was haben sie gefühlt, was gehofft und was gefürchtet? Der Erste Weltkrieg, die Hungerkatastrophe an der Heimatfront, die traumatisierende Niederlage von 1918 und die folgenden revolutionären Unruhen, aber auch kulturelle Aufbrüche gegen die überkommene Gesellschaft in Jugendbewegung und Wandervogel – all dies und noch viel mehr scheint hier auf in gelebten Augenblicken, die über sich hinausweisen. Es geht immer um die Schnittstellen von großer Historie und individueller Erfahrung. Die Politik ist das Schicksal, etwa bei der Hyperinflation von 1922. Die Menschen rannten los, um möglichst schnell ihr Geld auszugeben. Denn ruckzuck war es nichts mehr wert:
"Die Mieter, die meine Mutter beneideten und niederzwingen wollten – sie wollten, dass diese Witwe, diese hochgestochene Witwe mit diesen drei Kindern koppheister ging –, die haben ihr die Miete einen oder zwei Tage später gebracht, und dann war sie nichts mehr wert. Und dann sehe ich meine Mutter weinend mit dem Papier dastehen und sagen: 'Was soll ich damit machen? Ich kann doch dafür nichts mehr kaufen.' Und der Höhepunkt, das weiß ich ganz genau noch, da gab sie mir eine Billion und sagte: Geh mal schnell rüber und kauf ein Pfund Salz!"
Ein Erinnerungsprojekt, das der historischen Authentizität verpflichtet ist, kommt dann nicht umhin, das Lebensgefühl jener Mehrheit der Deutschen zu reproduzieren, die bis in den Krieg hinein begeistert von Hitler waren: Gefühle und Gesinnungen, die heute indiskutabel sind. So hört man den ehemaligen SA-Mann, dem das "Dritte Reich" nach elender Kindheit und langjähriger Arbeitslosigkeit endlich eine Perspektive bot; es gibt die Schilderungen von verführerischen sozialen Leistungen des Regimes. Es überwiegt allerdings die Perspektive der Opfer und Verfolgten: beklemmende Erfahrungen der Diktatur, des Gestapo-Terrors und der Judenverfolgung. Eine ehemalige Krankenschwester schildert Menschenversuche an Frauen aus dem KZ Ravensbrück:
"Und zwar machte man Folgendes: Man schnitt ihnen die Ober- und Unterschenkel auf. Und hat dort Nägel und Gras und Glassplitter und so was reingetan, hat sie geschlossen und hat sie eingegipst bis zum Becken und hat abgewartet, bis die Infektion ihren Höhepunkt erreicht hat. Einige sind gestorben, einige sind erschossen worden nach den Versuchen, einige haben überlebt und es ist an ihnen drei, vier, fünf Mal operiert worden."
Unendlich viel Leid wird hier berichtet, viele Verluste werden beklagt. Aber auch Momente unverhofften Glücks kommen zur Sprache, wenn etwa ein ehemaliger Wehrmachtssoldat unter Tränen erzählt, wie er im Russlandkrieg ungeahnte Schrecken erlebte, aber auch die Liebe seines Lebens traf – eine junge Ukrainerin, mit der er später gemeinsam in der DDR lebte.
Mitunter werden sehr lange Linien gezogen. Da berichtet eine Frau vom Horror des Jahres 1945, als sie die Bombenangriffe knapp überlebte und dann von russischen Soldaten vor den Augen ihres kleinen Sohnes immer wieder vergewaltigt wurde:
"Und da kam also die erste Vergewaltigung. Der Thomas hat geschrien wie am Spieß. Und ich hab immer nur gedacht: Lieber Herrgott, lass es doch bloß vorbei sein. Lass es doch bloß vorbei sein. Lass es doch bloß vorbei sein. Das weiß ich, das hab ich gedacht. Und dann hab ich den Thomas angeguckt und hab immer gesagt: Thomas, ist ja gut! Ist ja gut! Ist ja gut! Und dann er mir den Mund zugehalten, der Russe, ja ... "
Viel später erzählt diese Frau wieder von ihrem Thomas. Der kleine Junge, der 1945 zwischen Tieffliegereinschlägen im Sand spielte und den Hungertod seines jüngeren Bruders erlebte – aus ihm ist inzwischen ein 68er geworden, der seiner Mutter mit langen Haaren und Haschisch zu schaffen macht. So werden in diesem Hörbuch Generationszusammenhänge und historische Umbrüche evident.
Wie bei Walter Kempowskis historischem Stimmenchor des "Echolots" ist auch hier ein arrangierender Geist am Werk, der das babylonische Gemurmel der Epochen erst zum kunstvoll geknüpften, polyphonen Stimmengewebe macht. Aus der kontrapunktischen Anordnung der O-Töne ergeben sich Wirkungen und Einsichten. Inge Kurtz und Jürgen Geers verfolgen eine unaufdringliche Geschichtspädagogik. Und sie wollen nebenbei auch gesellschaftliche Fortschritte vermitteln, etwa die Emanzipation der Frauen. "Meine Geschichte" ist ein großes Hörerlebnis; man lauscht gebannt und bedauert nach 15 Stunden, dass es schon zu Ende ist.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Inge Kurtz, Jürgen Geers: Meine Geschichte. Zeitzeugen erzählen – 100 Jahre Deutschland
Der Hörverlag
13 CDs, 894 Minuten, 29,95 Euro
"Aber dass Sie nun gar nicht mehr von Ihrer Vergangenheit reden können, ohne sich Fragen ausgesetzt zu sehen, die Sie nicht beantworten können, das ist für alte Leute schlimm. Und so sitzen wir auf unseren Erinnerungen wie auf nicht abgeholten Gepäckstücken."
Diese Collage aus O-Tönen ist eine Sammelstelle für nicht abgeholtes Erinnerungsgepäck. Inge Kurtz und Jürgen Geers haben mehr als hundert Zeitzeugen interviewt, haben zugehört, ohne dazwischenzureden. Und daraus ein überwältigendes historisches Panorama montiert: 100 Jahre deutsche Geschichte, gespiegelt in Lebensgeschichten.
Am Anfang ist das etwas gewöhnungsbedürftig: Man hört den Greisen-Stimmen von fast Hundertjährigen zu, die sich noch ans Kaiserreich erinnern. Verklärung der fernen Jugend und der "guten, alten Zeit" spielen dabei kaum eine Rolle. Berichtet wird von der Ständegesellschaft, dem militärischen Pomp, der verbreiteten Armut und den Plagen mit dem noch untechnisierten Haushalt:
"Zur Wäsche kam die sogenannte Waschfrau. Die gibt's ja heute Gottseidank nicht mehr. Die arme Frau hat mir schon damals als Kind immer leid getan. Denn sie musste ja jeden Tag woanders waschen. Sie war also – Sonnabends war ja auch Arbeitstag – also sechs Tage hat die gewaschen."
Wie lebten die Menschen? Was haben sie gefühlt, was gehofft und was gefürchtet? Der Erste Weltkrieg, die Hungerkatastrophe an der Heimatfront, die traumatisierende Niederlage von 1918 und die folgenden revolutionären Unruhen, aber auch kulturelle Aufbrüche gegen die überkommene Gesellschaft in Jugendbewegung und Wandervogel – all dies und noch viel mehr scheint hier auf in gelebten Augenblicken, die über sich hinausweisen. Es geht immer um die Schnittstellen von großer Historie und individueller Erfahrung. Die Politik ist das Schicksal, etwa bei der Hyperinflation von 1922. Die Menschen rannten los, um möglichst schnell ihr Geld auszugeben. Denn ruckzuck war es nichts mehr wert:
"Die Mieter, die meine Mutter beneideten und niederzwingen wollten – sie wollten, dass diese Witwe, diese hochgestochene Witwe mit diesen drei Kindern koppheister ging –, die haben ihr die Miete einen oder zwei Tage später gebracht, und dann war sie nichts mehr wert. Und dann sehe ich meine Mutter weinend mit dem Papier dastehen und sagen: 'Was soll ich damit machen? Ich kann doch dafür nichts mehr kaufen.' Und der Höhepunkt, das weiß ich ganz genau noch, da gab sie mir eine Billion und sagte: Geh mal schnell rüber und kauf ein Pfund Salz!"
Ein Erinnerungsprojekt, das der historischen Authentizität verpflichtet ist, kommt dann nicht umhin, das Lebensgefühl jener Mehrheit der Deutschen zu reproduzieren, die bis in den Krieg hinein begeistert von Hitler waren: Gefühle und Gesinnungen, die heute indiskutabel sind. So hört man den ehemaligen SA-Mann, dem das "Dritte Reich" nach elender Kindheit und langjähriger Arbeitslosigkeit endlich eine Perspektive bot; es gibt die Schilderungen von verführerischen sozialen Leistungen des Regimes. Es überwiegt allerdings die Perspektive der Opfer und Verfolgten: beklemmende Erfahrungen der Diktatur, des Gestapo-Terrors und der Judenverfolgung. Eine ehemalige Krankenschwester schildert Menschenversuche an Frauen aus dem KZ Ravensbrück:
"Und zwar machte man Folgendes: Man schnitt ihnen die Ober- und Unterschenkel auf. Und hat dort Nägel und Gras und Glassplitter und so was reingetan, hat sie geschlossen und hat sie eingegipst bis zum Becken und hat abgewartet, bis die Infektion ihren Höhepunkt erreicht hat. Einige sind gestorben, einige sind erschossen worden nach den Versuchen, einige haben überlebt und es ist an ihnen drei, vier, fünf Mal operiert worden."
Unendlich viel Leid wird hier berichtet, viele Verluste werden beklagt. Aber auch Momente unverhofften Glücks kommen zur Sprache, wenn etwa ein ehemaliger Wehrmachtssoldat unter Tränen erzählt, wie er im Russlandkrieg ungeahnte Schrecken erlebte, aber auch die Liebe seines Lebens traf – eine junge Ukrainerin, mit der er später gemeinsam in der DDR lebte.
Mitunter werden sehr lange Linien gezogen. Da berichtet eine Frau vom Horror des Jahres 1945, als sie die Bombenangriffe knapp überlebte und dann von russischen Soldaten vor den Augen ihres kleinen Sohnes immer wieder vergewaltigt wurde:
"Und da kam also die erste Vergewaltigung. Der Thomas hat geschrien wie am Spieß. Und ich hab immer nur gedacht: Lieber Herrgott, lass es doch bloß vorbei sein. Lass es doch bloß vorbei sein. Lass es doch bloß vorbei sein. Das weiß ich, das hab ich gedacht. Und dann hab ich den Thomas angeguckt und hab immer gesagt: Thomas, ist ja gut! Ist ja gut! Ist ja gut! Und dann er mir den Mund zugehalten, der Russe, ja ... "
Viel später erzählt diese Frau wieder von ihrem Thomas. Der kleine Junge, der 1945 zwischen Tieffliegereinschlägen im Sand spielte und den Hungertod seines jüngeren Bruders erlebte – aus ihm ist inzwischen ein 68er geworden, der seiner Mutter mit langen Haaren und Haschisch zu schaffen macht. So werden in diesem Hörbuch Generationszusammenhänge und historische Umbrüche evident.
Wie bei Walter Kempowskis historischem Stimmenchor des "Echolots" ist auch hier ein arrangierender Geist am Werk, der das babylonische Gemurmel der Epochen erst zum kunstvoll geknüpften, polyphonen Stimmengewebe macht. Aus der kontrapunktischen Anordnung der O-Töne ergeben sich Wirkungen und Einsichten. Inge Kurtz und Jürgen Geers verfolgen eine unaufdringliche Geschichtspädagogik. Und sie wollen nebenbei auch gesellschaftliche Fortschritte vermitteln, etwa die Emanzipation der Frauen. "Meine Geschichte" ist ein großes Hörerlebnis; man lauscht gebannt und bedauert nach 15 Stunden, dass es schon zu Ende ist.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Inge Kurtz, Jürgen Geers: Meine Geschichte. Zeitzeugen erzählen – 100 Jahre Deutschland
Der Hörverlag
13 CDs, 894 Minuten, 29,95 Euro