Unbefristete Vorbeugehaft

Der Anfang vom Ende des Rechtsstaats?

Gefängnismauer und Stacheldraht
Gefängnismauer und Stacheldraht © imago stock&people / Jürgen Ritter
Von Konstantin Sakkas |
Im Juli wurde vom bayrischen Landtag die unbefristete Vorbeugehaft für "Gefährder" beschlossen. Auch wer keine Straftat begangen hat, kann dort künftig unbefristet festgehalten werden. Dieses Gesetz ist der Anfang vom Ende des Rechtsstaats, warnt der Publizist Konstantin Sakkas.
Justitia regnorum fundamentum – die Gerechtigkeit ist das Fundament der Königreiche: Das war nicht etwa das Motto der atlantischen Revolution, sondern des Kaisers Franz I. von Österreich, des letzten Herrschers des Heiligen Römischen Reiches, Schirmherrn des Wiener Kongresses und Hüters der Reaktion. Er regierte von 1792 bis 1835.
Gerechtigkeit und Gleichheit waren seit je die Grundwerte europäischer Politik, auch wenn wir Europäer, und wir Deutsche insbesondere, diese Werte im 20. Jahrhundert mit Füßen getreten haben.

Der Geist von Guantánamo hält in Deutschland Einzug

Die USA haben diese Werte durch die Invasion in der Normandie 1944 gerettet; in ihrer eigenen Geschichte aber spielt Gerechtigkeit im Vergleich zur Freiheit eher die passive Rolle.
Seit dem 11. September 2001 ist die Kluft zwischen den USA und Europa weiter gewachsen. Guantánamo und Abu Ghraib haben tiefe Wunden ins transatlantische Bewusstsein gerissen, die noch lange nicht verheilt sind. Mit der Einführung der unbefristeten Vorbeugehaft für so genannte Gefährder hält nun der Geist von Guantánamo auch in Deutschland Einzug. Und das ist gefährlich: denn Europa, und Deutschland an der Spitze, definiert sich über den Rechtsstaat, weit mehr als die USA.
Amerikanische und die europäischen Werte sind nicht identisch. Die unpräzise Rede von den westlichen Werten dient seit je dazu, eine künstliche Brücke über den Atlantik zu schlagen. Tatsächlich aber gibt es die atlantischen, also "amerikanischen" und die europäischen Werte, und diese sind eben nicht identisch.

Judentum, Christentum und Islam teilen eine mythologische DNA

Mit jedem Terroranschlag auf europäischem Boden erhält die Saat, die Samuel Huntington mit seiner These vom Kampf der Kulturen 1996 ausgesät hat, frischen Dünger. Doch diese These ist nicht nur unbewiesen, sondern schlicht falsch. Denn der Orient und Europa sind durch eine 5000-jährige Geschichte miteinander verbunden: ideell, politisch und kulturell. Judentum, Christentum und Islam teilen dieselbe mythologische DNA. Im Islam etwa wird die Heilige Jungfrau Maria so verehrt wie sonst nur im Katholizismus. Und Renaissance, Humanismus und Aufklärung, also exakt jene Traditionen, auf die sich das demokratische Europa heute beruft, sind nicht denkbar ohne den direkten und massiven Einfluss des islamischen und byzantinischen Orients auf den lateinischen Westen.

Aushöhlung des Rechtsstaats ist die falsche Antwort

Ein Terrorakt wie in Barcelona ist grausam, hinterhältig und sinnlos. Seine Täter gehören aufgespürt und bestraft. Aber die Aushöhlung des Rechtsstaats ist die falsche Antwort darauf. Und zwar nicht, weil wir uns unsere Werte von "denen" nicht kaputtmachen lassen wollen, sondern weil "wir" mit "denen" mehr miteinander gemein haben, als uns die Huntington-Doktrin seit 21 Jahren glauben machen will.

Die Legalisierung der unbefristeten Vorbeugehaft, die in Presse und Öffentlichkeit erstaunlich resonanzlos geblieben ist, ist nicht nur eine eklatante Verletzung unserer rechtsstaatlichen Tradition – einer Tradition, mit der sich übrigens sowohl Linke als auch Konservative identifizieren können. Sondern sie trägt auch dazu bei, Europa und die orientalische Welt noch mehr gegeneinander aufzuhetzen.

Für ein europäisch-orientalisches Narrativ

Seit dem Ende des Kalten Krieges ist die islamische Welt Opfer massiver westlicher Interventionen geworden, militärisch und wirtschaftlich. Europa, und Deutschland vorneweg, sollte sich aber als Alliierter des Orients verstehen, nicht als sein Gegenpol. Anstatt Flüchtlinge an der Überfahrt übers Mittelmeer zu hindern und unschuldige Menschen auf Verdacht unbefristet wegzuschließen, sollte und muss unsere Politik ein europäisch-orientalisches Narrativ entwickeln. Ein solches Narrativ wäre dreifach in unserem Interesse: geopolitisch, ideologisch und eben auch moralisch.

Konstantin Sakkas, Jahrgang 1982, schloss 2009 das Studium in den Fächern Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin ab. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor für Presse und Rundfunk.



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