Unerschüttert durch den Zweiten Weltkrieg

Sönke Neitzel im Gespräch mit Andreas Müller |
Die männliche deutsche Gesellschaft ließ sich problemlos in das System Militär integrieren, sagt Historiker Sönke Neitzel. Mit Sozialpsychologe Harald Welzer wertete er Abhörprotokolle von deutschen Soldaten in Kriegsgefangenschaft aus.
Andreas Müller: "Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben", ein Buch mit diesem Titel wird heute zum ersten Mal vorgestellt, ein Buch, das ganz besondere Quellen auswertet: Abhörprotokolle von deutschen Soldaten und Offizieren, die in Kriegsgefangenschaft waren. Der Historiker Professor Sönke Neitzel hat diese Protokolle entdeckt und gemeinsam mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer ein Buch darüber geschrieben. Jetzt ist er hier im Studio – willkommen, Herr Neitzel!

Sönke Neitzel: Willkommen, danke!

Müller: Sie haben 150.000 Seiten dieser Abhörprotokolle gefunden, in Großbritannien und in den USA, "ein Sensationsfund" hat der "Spiegel" schon darüber geschrieben – was ist eigentlich das Sensationelle daran?

Neitzel: Na, das Problem ist, wenn wir uns mit der Wehrmacht beschäftigen, welche Quellen haben wir eigentlich. Wenn wir Schlachten beschreiben, offizielle Entscheidungen Hitlers, der Generäle, da gibt es genug Quellen, offizielle Dokumente, aber uns interessiert ja immer auch mehr: Was denken die Soldaten, die Ideologisierung, waren das wirklich ideologische Kämpfer? Was hat der einfache Soldat gedacht, also die männliche deutsche Bevölkerung? Und da ist die Quellenlage eben bisher sehr schlecht – es haben auch nur wenige geschrieben, Briefe, problematische Quelle –, und da gibt uns diese Quelle, diese Abhörprotokolle ganz neue Einblicke.

Müller: Weil sie die Soldaten praktisch direkt belauschen bei ihren Gesprächen, die sie unter sich ungefiltert geführt haben?

Neitzel: Genau, und weil diese Gespräche eben während des Krieges entstanden sind. Also die Soldaten haben noch Uniform an, es gibt die Ordnung der Wehrmacht noch, ja, irgendwie so ein bisschen gibt es die noch, aber auch irgendwie nicht, weil man ist ja in Gefangenschaft. Die Leute wurden abgehört, in England, wenige Tage, nachdem sie gefangen genommen wurden. Also es ist eine ganz zeitnahe Quelle, und ich glaube, näher kommen wir an das Denken, Handeln, Fühlen dieser Leute nicht ran.

Müller: Nun haben Sie das, was Sie da gefunden haben in diesen vielen, vielen Seiten, in verschiedene thematische Kapitel untergliedert in Ihrem Buch. Ein Kapitel heißt "Spaß", man liest da unter anderem, wie der Luftwaffenpilot Budde von einem Angriff auf einen englischen Marktplatz berichtet. Da gab es eine Versammlung auf dem Marktplatz, und er geht im Tiefflug darauf los und beschießt diese Zivilisten, die da auf diesem Marktplatz in einem kleinen englischen Städtchen herumstehen, beschreibt, wie die auseinandergespritzt sind, diese Menschen, und sagt: Das macht Spaß, das hat richtig Spaß gemacht, auf diese Leute zu schießen. Wie oft sind Sie darauf gestoßen, auf solche Aussagen "Krieg macht Spaß"?

Neitzel: Bei der Luftwaffe sind wir relativ häufig darauf gestoßen, nicht beim Heer, kaum bei der Marine, weniger bei der Marine, bei der Luftwaffe relativ viel, weil die Luftwaffensoldaten, die abgehört waren, waren nicht irgendwie von einem Luftwaffenfliegerhorstkommando, sondern es waren Piloten – Piloten, die über England abgeschossen worden sind, über Frankreich abgeschossen worden sind, also es war deren Handwerk. Und man sieht also, was ist das Handwerk. Es ist wie ein Sport – wie ein Sport am Computerspiel: Jagdflieger schießen ab. Das ist deren Währung. Also, es sind auch Überbietungsgeschichten: Was hab ich eigentlich erreicht, was hab ich Tolles gemacht, in England, in Russland? Das ist ein bestimmter Diskurs, und da ist Spaß ganz wichtig. Und wenn man selber abgeschossen wird, dann macht das keinen Spaß mehr. Und wenn die eigene Maschine zu langsam ist, dann macht das auch keinen Spaß. Wenn man dem Gegner überlegen ist, wenn man was erreichen kann, wenn man ein Ziel erreichen kann, dann macht das Spaß, und die Opfer kommen darin eigentlich gar nicht vor. Genauso wenig wie in einem Ego-Shooter-Spiel.

Müller: Ja, manchen ist aber auch klar, gerade den Luftwaffenpiloten, wer ihre Opfer sind. Einer erzählt ganz stolz, dass er auch auf Kinderwagen geschossen hat, und einer von der Marine erzählt voller Stolz, dass er einen Kindertransport da versenkt hat. Man denkt, das sind Sadisten.

Neitzel: Ja, aber wir prägen ja den Begriff des Referenzrahmens des Krieges, man muss sehen, was ist deren Aufgabe. Deren Aufgabe ist Schiffe versenken, Flugzeuge abschießen, irgendwie abschießen, irgendeinen irgendwie greifbaren Erfolg zu haben, und da ist es in ihrem Referenzsystem völlig egal, dass es Zivilisten, dass es Militär ist, was ist die Intention des Angriffes – Hauptsache irgendeinen Erfolg erzielen. Und da werden einfach Zivilisten zu Zielen definiert, und dann ist es auch legitim für diese Leute, die anzugreifen.

Müller: Sie stellen sich auch die Frage mit dem Buch, wie lange dauert eigentlich dieser Übergang? Jemand kommt aus dem Zivilleben, in dem er natürlich völlig anders agieren würde, auch im damaligen Deutschland, und kommt in einen Militärapparat hinein. Wie lange dauert es, bis er zum Soldaten, zum Kämpfer wird? Was haben Sie dazu gefunden?

Neitzel: Ja, Tage, höchstens Tage eigentlich. Wir sehen, dass die militärischen Werte damals in der Gesellschaft sehr stark verankert waren. Es war für niemand irgendwas Besonderes, gehorsam zu sein, tapfer zu sein, das hat jeder vor Augen gehabt, und so lässt sich die männliche deutsche Gesellschaft problemlos in dieses System Militär integrieren – das wäre heute sicherlich anders. Und dann ist es klar, welche Regeln da sind: Ich muss tapfer sein, ich muss Befehlen gehorchen, ich hab eine neue Gelegenheitsstruktur, ich kann Gewalt ausüben. Und wir haben ja auch Protokolle schon von 1939, von 1940, also vom Beginn des Krieges, vor dem großen Vernichtungskrieg im Osten, und die Leute reden nicht weniger brutal über diese Dinge als die Leute, die 1944 in Gefangenschaft kommen. Also, ergo: Es dauert vielleicht Tage, höchstens Wochen, aber es ist kein langer Prozess notwendig, sondern, also, ich lege praktisch einen Schalter um.

Müller: Jetzt liest man ganz viel von Soldaten, die auch Freude an der Gewalt haben, die das auch als Freiraum und als Abenteuer empfinden, Gewalt auszuüben, auch Menschen zu töten. Ich hab mich gefragt: Sind Sie – Sie haben natürlich eine Auswahl getroffen aus diesen 150.000 Seiten – sind Sie überhaupt nicht auf Soldaten gestoßen, die jetzt, wo sie einen Abstand haben vom aktiven Kämpfen, auch mal einen Schritt zurücktreten und sich überlegen, was sie da eigentlich getan haben?

Neitzel: Kein Abstand gegenüber, sage ich mal, dem Kämpfen an sich, dem Kern des Krieges, Kämpfen an der Front, davon nicht. Also keiner sagt, ich war Jagdpilot, Mensch, und ich hab ja auch Menschen umgebracht, wenn ich Flugzeuge abgeschossen habe, das überhaupt nicht. Es gibt eine Distanz, wenn es um bestimmte Verbrechen geht, also wenn man gegen die männliche Matrix des Krieges verstößt, wie mein Kollege Lutz Klinkhammer das mal nannte, also wenn man Frauen und Kinder umbringt oder es hört, dass Frauen und Kinder umgebracht wurden. Da merkt man, oh, das ist nicht Ordnung, da kommen moralische Bedenken. Die kommen auch, wenn die deutschen Gefangenen sehen, wie man mit den sowjetischen Gefangenen umgeht, die zu Millionen zu Tode kamen, umgebracht wurden, Kannibalismus, und das erschüttert sie. Und ganz viele andere Dinge erschüttern sie überhaupt nicht. Sie nehmen das gar nicht als Verbrechen wahr, es wird gar nicht als ein Ereignis wahrgenommen, sondern das geht eigentlich unter im Geschehen.

Müller: Deutschlandradio Kultur, der Historiker Sönke Neitzel ist bei uns im Studio. Wir reden über das Buch "Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben", das er mitverfasst hat auf der Grundlage von Abhörprotokollen deutscher Soldaten. Nun ist dieser Zeitraum, über den wir reden, der Zweite Weltkrieg, eines der am besten erforschten Gebiete überhaupt in der Geschichte – was kann man denn aus diesen Protokollen, so beeindruckend das ist, in diese Mentalität der deutschen Soldaten hineinzuschauen, was kann man tatsächlich Neues über den Weltkrieg lernen?

Neitzel: Ich glaube, dass wir die Sicht von unten lange, lange eingefordert haben, schon seit den 80er Jahren zum Teil, aber die Sicht von unten, die Sicht von unten auf den Krieg nie wirklich umfassend überzeugend, interdisziplinär geleistet worden ist. Und ich glaube, da kommen wir einen entscheidenden Schritt weiter, dass wir nicht nur mit unseren heutigen moralischen Vorstellungen diese Zeit beurteilen, normativ, sondern, dass wir versuchen, das Denken, Handeln der Leute selber zu verstehen.

Was war für die überhaupt ein Verbrechen, wie haben die funktioniert, was haben die als Ereignis wahrgenommen? Für uns heute ist das was anderes, für uns heute ist der Holocaust wichtig, die Verbrechen. Es ist eigentlich, ich will nicht sagen irrelevant, aber fast irrelevant gewesen für die Soldaten. Ich glaube, dass wir zum ersten Mal einer Mentalitätsgeschichte der Wehrmacht wirklich sehr viel näher kommen und viel, viel besser verstehen, auch darüber hinausgehend, wie Menschen – nicht nur die Wehrmacht – wie Menschen im Krieg, ich sag’s mal umgangssprachlich, ticken, wie sie funktionieren. Und das ist, glaube ich, der Wert des Buches, der Wert des Materials.

Müller: Jetzt ziehen Sie Parallelen in dem Buch, das ist auch mit das Überraschende, Parallelen von der Wehrmacht, von einem ganz besonderen Kapitel der Geschichte, von einer auch ideologisch extrem formatierten Armee hin zu ganz anderen Konflikten: zum Vietnamkrieg zum Beispiel, zum Krieg im Irak, in Afghanistan. Kann man das tatsächlich tun?

Neitzel: Wir glauben, ja, denn wir setzen das nicht gleich – vergleichen heißt ja nie gleichsetzen. Wir argumentieren, dass es eine kulturelle Signatur des Krieges gab, es gab also – Deutsche fühlten das anders als Italiener und Japaner. Es gibt auch eine zeittypische Signatur des Krieges, die 30er, 40er Jahre hatten eine andere Gewaltdynamik als heute, aber – und darauf legen wir Wert – es gibt im Handwerk des Krieges, im Kern des Kriegs, im Kampf, in der Ausübung des Kämpfens, von Tötungshandlungen, da gibt es doch sehr starke Parallelen, sodass wir die These vertreten: Der deutsche Wehrmachtsoldat ist dem amerikanischen Soldaten, der im Irak kämpft, und wahrscheinlich auch dem deutschen Soldaten, der in der Quick Reaction Force in Afghanistan kämpft, viel näher, nicht gleich, aber viel näher, als wir uns das vorstellen können.

Müller: Was heißt das, dass solche Einsätze eigentlich nicht vertretbar sind?

Neitzel: Nein, das heißt viel mehr, dass wir uns mal fragen müssen, ob unsere normativen Vorstellungen vom Krieg, ob die überhaupt realistisch sind, ob wir nicht ein rosarotes Bild vom Krieg haben. Wir schicken also Fallschirmjäger nach Afghanistan, die dort auch kämpfen sollen, die beschossen werden, die sterben, die auch dann letztlich im Ausführen ihres Handwerks töten, aber die können das wohl kaum tun mit den moralischen Wertvorstellungen einer Zivilgesellschaft – auch, aber der Krieg hat eine eigene Grammatik, eine eigene Dynamik. Wenn ich als Scharfschütze des Kommandos Spezialkräfte eingesetzt bin, dann kann ich mit dem Artikel 1 Grundgesetz relativ wenig anfangen, weil das gibt möglicherweise einen letalen Schuss aus 1200 Meter Entfernung. Und das unterscheidet den Scharfschützen der KSK relativ wenig von dem Scharfschützen der Wehrmacht. Beide sind relativ wenig ideologisiert, beide denken und haben nicht gedacht, über Verfassung nachgedacht, sondern an ihren militärischen Auftrag, den wollen sie ausführen.

Müller: Aber das heißt letzten Endes, wenn man es auf den Punkt bringt, wenn man in einen bewaffneten Konflikt zieht und selbst wenn man, sagen wir mal grob, auf der guten Seite steht, entfesselt die Situation eine so extreme mörderische Dynamik, dass man einen Einsatz, selbst wenn er gestartet wird, um Gewalt zu beenden, wie jetzt in Libyen, eigentlich nicht verantworten kann?

Neitzel: Das ist eine moralische Frage, wir operieren mit Gut und Böse. Wir haben bewusst versucht, in unserem Buch damit zurückzuhalten, jeder soll sich seine eigene Meinung bilden, nach seinem eigenen Wertekostüm, aber … Also ein Krieg als gut und böse, da denke ich immer sofort wieder an die Kreuzzüge. Es ist überaus problematisch, und ich will nicht wissen, was die alliieren Jagdpiloten über Libyen im Cockpit sprechen. Das wissen wir natürlich nicht, werden wir nie erfahren – aber sie werden mit Sicherheit nicht sagen, es ist böse, was ich hier tue, weil wenn ich jetzt einen libyschen Panzer abschieße, sterben dort fünf Soldaten, fünf Väter von kleinen Kindern. Nein, sie werden sagen: Guter Schuss! Weil es ihre Aufgabe ist, und es ist illusionär zu glauben, dass man als Soldat ständig mit den moralischen Vorstellungen einer Zivilgesellschaft … Das funktioniert nicht. Man hat eine positive Sinnstiftung dem gegenüber, was man tut, auch die Soldaten, und deren Handwerk ist das Töten letztlich.

Müller:"Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben", so heißt das Buch von Sönke Neitzel und Harald Welzer, erschienen im S. Fischer Verlag. Das Buch wird heute erstmals im Berliner Museum für Kommunikation vorgestellt. Herr Neitzel, danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Neitzel: Sehr gerne, danke!
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