Hintergrund des Ungarischen Referendums ist die 2015 vereinbarte EU-Regelung, 160.000 Flüchtlinge per Quote quer über die Gemeinschaft zu verteilen, damit nicht Ankunftsländer wie Griechenland und Italien oder Zielländer wie Deutschland, Österreich und Schweden die Last fast allein schultern müssen. Ungarn soll demnach etwa 1300 Flüchtlinge aufnehmen.
"Es wird gelogen, und Tatsachen werden verzerrt"
Ungarns Regierungschef Orbán lässt am Sonntag mit einem Referendum über die europäische Flüchtlingspolitik abstimmen. Der regimekritische Publizist und Autor Rudolf Ungváry wirft der ungarischen Regierung Tatsachenverdrehung und Stimmungsmache vor.
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Am Sonntag findet auf Initiative der ungarischen Regierung ein Referendum statt, bei dem die Bürger die EU-Quoten zur Verteilung von Asylbewerbern über die Mitgliedsländer ablehnen sollen. Die rechtskonservative Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán wirbt für das Nein und verspricht sich davon Rückenwind - auch gegenüber Brüssel.
Die ungarische Regierung weigert sich, den EU-Beschluss über die Verteilung von Flüchtlingen umzusetzen. Dabei geht es um rund 1300 Menschen.
Der ungarische Schriftsteller und Publizist Rudolf Ungváry wirft der Regierung unter dem national-konservativen Ministerpräsidenten Viktor Orbán vor, im Zuge ihrer Kampagne für das Anti-Flüchtlingsreferendum auf rassistisch-demagogische Art Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen und damit die eigene Macht stärken zu wollen.
Die Regierungskampagne mit verzerrten Fakten schüre Ängste
In der massiven Werbung der Regierung Orbán für ein Nein würden Fakten völlig verzerrt, sagte Ungváry im Deutschlandradio Kultur vor der morgigen Volksabstimmung. Mit Behauptungen und verdrehten Tatsachen schüre die Regierung Ängste und Ressentiments in der Bevölkerung.
"Das war eine im Grund genommene rassistische Demagogie. Und in dieser Demagogie wird einerseits total gelogen, im Sinne einer postfaktischen Politik. Es ist alles so eingestellt, als ob Ungarn mit mehreren hunderttausend Einwanderern überflutet werde", kritisierte Ungváry.
Orban ziele bereits auf die Wahlen 2018
Präsident Orbán bezwecke mit dem Bürgervotum den Erhalt seiner Macht langfristig zu sichern: Das Referendum werde in jedem Fall "ein überwältigender Sieg Victor Orbáns", prognostizierte Ungváry: Es werde diesem den Erfolg bei den Wahlen 2018 sichern.
Die Bedenken gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen nach dem EU-Verteilungsschlüssel müssten zwar ernst genommen werden, doch in Ungarn habe sich ein "fataler Zeitgeist" entwickelt. Bereits seit dem Jahr 2000 arbeite das System Orban an dem Versuch der "Gleichschaltung" der Bevölkerung: "Wer nicht zu seiner politischen Hälfte gehört, derjenige gehört nicht zur Nation," kritisierte Ungváry Äußerungen Orbáns.
Ausschluss Ungarns aus der EU - "nicht ohne Grund"
Die Überlegungen von Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn zu Ungarns möglichem EU-Ausschluss nannte Ungváry eine "zwangsläufige Konsequenz" der Entwicklung in Ungarn: "Es entstand inmitten der Union in einer verkappten Form eine Art Mutation des rechtsextremen, beinahe faschistoiden Systems. Und aus dieser Sicht scheint ein Ausschluss Ungarns aus der EU gar nicht ohne Grund zu sein."
Das Interview im Wortlaut.
Ute Welty: Die Frage klingt schon kompliziert: Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des Parlaments die verpflichtende Ansiedlung von nicht ungarischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann? Und die Frage ist darauf angelegt, dass die acht Millionen Ungarn morgen mit Nein stimmen. Ministerpräsident Viktor Orbán macht mit einem Referendum mobil gegen die EU-Flüchtlingspolitik im Allgemeinen und im Speziellen gegen die verbindlichen Quoten, aufgrund derer die EU Flüchtlinge auf die verschiedenen europäischen Länder verteilen will. Rechtlich bindend ist das Referendum nicht, Ungarn ist verpflichtet, knapp 1300 Flüchtlinge aufzunehmen. Inwieweit das Referendum trotzdem mehr ist als Symbolpolitik, darüber spreche ich jetzt mit Rudolf Ungváry, Schriftsteller, Publizist und Orbán-Kritiker. Guten Morgen, Herr Ungváry!
Rudolf Ungváry: Guten Morgen auch für die Hörer!
Welty: Wer Sie auch nur ein bisschen kennt, der weiß, dass Sie wahrlich kein Freund dieses Referendums sind, aber können Sie der Abstimmung irgendetwas Positiv abgewinnen? Vielleicht, dass so ein wenig Druck aus dem Kessel entweichen kann?
Ungváry: Also auf gar keinen Fall, wie es da für demokratische Gesinnung einen Gewinn erzielt. Nämlich diese sogenannte Quotenwahl endet so oder so mit einem im Grunde genommen überwältigenden Sieg Viktor Orbáns. Das wird ihm natürlich voraussichtlich bis zu den Wahlen im Jahre 2018 auswirken, und somit wird er wieder die absolute Mehrheit erreichen.
Welty: Nun steht Ungarn ja nicht alleine da, wenn es darum geht, feste Quoten für Flüchtlinge abzulehnen – Polen, Tschechien und die Slowakei tun das auch. Muss man die Bedenken dieser Länder nicht auch ernst nehmen?
Ungváry: Ja, sie müssen ernst genommen werden, aber in Ungarn hat sich, was den Zeitgeist anbelangt, eine ganz fatale Entwicklung anbelangt, und das Land fiel eigentlich zurück in eine Situation, die sicher in der Zwischenkriegszeit eine Realität war, und das ist das Tragische für das ganze Land im Grunde genommen. Man muss auch wissen, dass genauso wie bei vielen anderen rechtsextremen Systemen besitzt Orbáns Herrschaft eine wirklich große Popularität. Gleichzeitig geht es aber nicht um eine überwältigende Mehrheit, jedoch durch das verzerrte Wahlgesetz kann dieser ungarische Staatsführer mit einer kleinen Stimmenmehrheit immer wieder eine überwältigende Parlamentsmehrheit gewinnen. Und durch die Demagogie gegen die Flüchtlinge heute scheint seine sogar absolute Mehrheit bei den kommenden Wahlen in 2018 wieder von vornherein gesichert.
Welty: Wie haben Sie den "Wahlkampf", in Anführungszeichen, die Propaganda im Vorfeld des Referendums wahrgenommen?
"In dieser Demagogie wird total gelogen, im Sinne einer postfaktischen Politik"
Ungváry: Das war eine unglaubliche Demagogie, eine im Grunde genommen rassistische Demagogie, aber verschleiert, wie doch das ganze System sich verschleiert im Grunde genommen. Und in dieser Demagogie wird einerseits total gelogen, also im Sinne einer postfaktischen Politik, und Tatsachen werden verzerrt – es geht ja um ungefähr 1200 Einwanderer, aber auch darum geht es nicht verpflichtend. Aber das ist alles so eingestellt, als ob Ungarn durch mehrere 100.000 Einwanderer überflutet wird.
Welty: Da ist es denn auch egal, ob es 1200 oder 1300 sind, aber was bedeutet diese aufgeheizte Stimmung für Sie persönlich? Es ist ja auch und vor allem in Ungarn bekannt, wie kritisch Sie Orbán gegenüberstehen.
"Das wahre Antlitz dieses Systems hat sich schon im Jahre 2000 gezeigt"
Ungváry: Ja, mir persönlich ist das keine Neuigkeit, weil da hat sich das wahre Antlitz dieses Systems schon im Jahre 2000 gezeigt, als Orbán gesagt hat, das Vaterland kann sich nicht in der Opposition befinden. Damals hat er die Wahlen verloren, und damit zielte er darauf, dass wer nicht zu seiner politischen Hälfte gehört, derjenige gehört nicht zu der Nation. Also das ist der reinste Ausschluss großer Teile der Bevölkerung. Und aufgrund solcher Äußerungen kann man ja das Böseste ahnen, und das hat er auch seit 2010 verwirklicht. Für mich ist es also nicht eine Neuigkeit, was dieser Mann macht. Er zielt auf eine wirklich absolute Gleichschaltung des Landes, und dazu gehört auch diese sogenannte Quotenwahl.
Welty: Der Außenminister von Luxemburg hat ja schon den Austritt Ungarns aus der EU gefordert. Wäre das ein Schritt in Ihrem Sinne als mögliche Sanktion oder ganz im Gegenteil ein Schritt in die falsche Richtung?
Ungváry: Asselborns Forderung unlängst, Ungarn aus der Union auszuschließen, ist natürlich die zwangsläufige Konsequenz der Entwicklung, die sich hier abgespielt hat. Es etablierte sich seit dem Wahlsieg Viktor Orbáns im Jahre 2010 ein bisschen ein im Grunde genommen einmaliges System hinter dem Schleier der Demokratie. Also es entstand inmitten der Union eigentlich in einer verkappten Form eine Art Mutation des rechtsextremen, beinahe faschistoiden Systems. Und aus dieser Sicht scheint ein Ausschluss Ungarns aus der EU gar nicht ohne Grund zu sein.
Welty: Der Schriftsteller Rudolf Ungváry vor dem ungarischen Referendum über feste Quoten für Flüchtlinge. Ich danke sehr für diese Ihre Einschätzung!
Ungváry: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.