Ungarn als "Laboratorium" der Politik
"Das beeindruckt Budapest wenig", sagt der ungarische Politologe Zoltan Kiszely über die Initiative von Außenminister Guido Westerwelle gegen die Verfassungsreform in Ungarn. Nur "konkrete Kritik, mit Paragrafen unterlegte Kritik" würde ernst genommen.
Ute Welty: Staatliche Allmachtsfantasie in Form der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen - das steht heute auf dem Programm des ungarischen Staatspräsidenten Janos Ader bei seinem Besuch in Deutschland. Staatliche Allmachtsfantasie in Form von Recht und Gesetz, das steht heute auf dem Programm des ungarischen Parlamentes. Und es sind höchst umstrittene Verfassungsänderungen, die Premier Viktor Orban durchsetzen will und durchsetzen wird. So wird zum Beispiel das Verfassungsgericht als korrigierende Instanz weitgehend entmachtet.
Seit Tagen protestieren die Menschen gegen diese sogenannte vierte Verfassungsnovelle, und all das beobachtet der Politologe Zoltan Kiszely von der ungarischen Akademie der Wissenschaften. Ich wollte von ihm wissen, mit welchem Gefühl er das beobachtet. Ist große Sorge übertrieben, oder verabschiedet sich da tatsächlich ein EU-Mitglied von demokratischen Grundwerten?
Zoltan Kiszely: Das stimmt nicht. Wir sehen die Wiederholung der Ereignisse, die sich bei der Debatte um das Mediengesetz vor zwei Jahren ereignet haben. Damals gab es auch eine große internationale Besorgnis, ungefähr die gleichen Regierungen und internationalen Organisationen haben sich geregt, sie haben ihre Bedenken geäußert. Budapest hat den Vorwurf abgewiesen, dass hier die Demokratie am Ende sei oder Ungarn sich von der Demokratie abwendet oder von dieser Richtung abkehrt, aber später wurde die Debatte versachlicht.
Das heißt, ich erwarte hier wieder das Gleiche. Ungarn ist wieder einmal ein Präzedenzfall, und das ist, glaube ich, etwas, was sehr schwer ist, und deswegen ist, glaube ich, auch die Debatte vielleicht schärfer oder größer, weil es hier um Fragen geht, für die es noch keine Präzedenz gibt.
Welty: Den deutschen Außenminister jedenfalls lässt das alles nicht unberührt. Zusammen mit seinen Kollegen aus Dänemark, Finnland und den Niederlanden setzt sich Guido Westerwelle für den Schutz der Grundwerte ein. Hier gibt es jetzt also einen Brief und ein Konzept – wird das in Ungarn irgendjemanden beeindrucken?
Kiszely: Ich glaube, wenig. Weil über Grundsätze oder über den Geist der Gesetze debattiert wird, und natürlich es gibt keine EU-verbindlichen Vorschriften oder Exempel. Es gibt einen Konsens über bestimmte Sachen, dass es Mehrparteiensysteme oder Meinungsfreiheit geben soll, aber wie das genau auszusehen hat, das weiß niemand, das ist landesspezifisch, kulturell unterschiedlich, finanzielle Stärke der Länder, Wirtschaftsleistung der Länder, Medienlandschaft ist unterschiedlich. Oder zum Beispiel die Zivilgesellschaft ist stärker entwickelt, schwächer entwickelt.
Und das ist etwas, worüber die Ungarn sehr viel debattieren. Dass zum Beispiel das politische System der USA völlig verschieden ist von dem, was in England ist oder was auf Kontinentaleuropa ist. Ich sage immer, Ungarn ist derzeit ein Laboratorium der Politik. Die Politik versucht, seine Grenzen auszuweiten, womöglich und natürlich auf Kosten anderer Subsysteme, zum Beispiel das der Wirtschaft, das der Justiz. Und das ist immer die Frage, wo ist die rote Linie, die man nicht überschreiten darf.
Und diese Debatte geht genau darum, wo ist diese rote Linie. Wir sehen eine parallele Diskussion wie bei Ihnen in Deutschland über die gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Zum Beispiel soll in die ungarische Verfassung aufgenommen werden, dass eine Familie aus Mann, Frau und Kind besteht. Und viele fühlen sich, zum Beispiel die gleichgeschlechtlichen, die Homosexuellen fühlen sich dadurch ausgegrenzt. Aber die Politik möchte das festschreiben in die Verfassung, und natürlich kann privat jeder machen, was er will.
Und dann diese Debatte, dass die Politik sich von der Justiz nicht verstanden fühlt, wenn das Verfassungsgericht in Ungarn auch zum Beispiel in dieser Frage die vorherige Gesetzgebung der Politik dann außer Kraft setzt. Und es gibt natürlich eine institutionelle Debatte, soll das Parlament, soll die Politik eine größere Macht haben, ein größeres Gewicht haben als bisher?
Welty: Wie wird denn die ungarische Verteidigungsstrategie aussehen gegenüber der EU?
Kiszely: Die Regierung bittet die ausländischen Regierungen und Organisationen um konkrete Paragrafen, gegen die ungarisches Gesetz verstößt. Werden solche Paragrafen vorgezeigt oder internationale Verträge, revidiert Budapest sofort seinen Standpunkt. Sollte es keinen solchen Paragrafen geben, dann wird dieses Problem auf die lange Bank gesetzt und so wie beim Mediengesetz sollen Kommissionen eingesetzt werden, welche alle EU-Mitgliedsstaaten untersuchen und dann nicht-verbindliche Empfehlungen aussprechen sollen.
Welty: Westerwelles Papier richtet sich ja ausdrücklich nicht gegen Ungarn, sondern ist ganz allgemein gehalten. Die Maßnahmen könnten auf jedes EU-Mitglied angewendet werden. Reicht das als diplomatischer Hakenschlag aus, um Ungarn nicht von Anfang an zu beleidigen?
Kiszely: Nein, also wir sehen auch in Rumänien oder in anderen Mitgliedsstaaten Bestrebungen, dass die Politik ihren Bewegungsfreiraum auszuweiten versucht. Natürlich, ein Außenminister eines großen Mitgliedsstaates beziehungsweise von vier Netto-Zahlern ist schon eine wichtige Mahnung, aber wir haben schon Hillary Clinton gehabt und andere – ich glaube, das beeindruckt Budapest wenig.
Welty: Das Konzept sieht vor, letzten Endes auch Druck über Geld ausüben zu können, über EU-Mittel, die dann ausgesetzt werden. Das wäre ja in der Tat ein recht starkes Argument.
Kiszely: Ja, aber Budapest hofft darauf, dass zum Beispiel das Überhöhte-Defizit-Verfahren, was schon seit Langem gegen Ungarn anhängig ist und über dessen Abschluss im Mai abgestimmt werden soll im Ekofin-Rat, dass diese Wirtschaftsfragen nicht mit Demokratiegrundsatzfragen verknüpft werden. Budapest sieht Überhöhtes-Defizit-Verfahren als ein mathematisches Problem, ob die drei Prozent Defizitziele erreicht werden. Und Demokratiefragen sieht Budapest als eine ganz andere Geschichte an.
Welty: Wie sehr nährt Orban auch seine Macht und seinen Einfluss aus der Kritik von außen?
Kiszely: Wenn die Demokratie in Ungarn von außen her beanstandet wird, fühlt sich Budapest nicht verstanden. Also man denkt, dass die westlichen Ausländer, die nach '45 in der amerikanischen Besatzungszone waren und die sowjetische Besatzung nicht erdulden mussten, Mittel- und Osteuropa nicht verstehen. Druck von außen hilft Viktor Orban und der Regierung, die Anhänger der Regierungsparteien hinter sich zu scharen. Das heißt, Druck von außen erhöht den Zusammenhalt innerhalb der Regierungspartei und in der bürgerlichen Wählerschaft.
Konkrete Kritik, mit Paragrafen unterlegte Kritik oder Kritik von internationalen Organisationen, das wird viel besser aufgenommen und viel besser auch gehandhabt.
Welty: Es ist davon auszugehen, dass die Verfassungsänderung heute durchgeht. Das heißt, ab morgen ist Ungarn was für ein Land?
Kiszely: Wir wissen nicht – es besteht noch die Möglichkeit, dass die Regierungsmehrheit doch nicht über diese Verfassungsnovelle abstimmt. Es gibt viele strittige Fragen, zum Beispiel die Frage, ob Studenten, die staatlich gefördert worden sind, eine bestimmte Zeit wegen der Förderung in Ungarn arbeiten sollten. Das könnte gegen EU-Recht der Freizügigkeit verstoßen. Also es könnte sein, dass die Abstimmung verschoben wird, wir wissen das noch nicht. Ungarn wird ein Land sein, worüber viel debattiert wird, aber das haben wir schon beim Mediengesetz und bei der Verfassung schon gehabt, wir sind das gewohnt.
Welty: Und es ist weiter das Land, in dem Sie leben wollen?
Kiszely: Ja. Also, ich habe neun Jahre lang in Deutschland gelebt, das war eine sehr schöne Zeit. Ich bin zurückgekehrt nach Ungarn, und ich möchte hier bleiben.
Welty: Der ungarische Politologe Zoltan Kiszely über die Vierte Verfassungsnovelle, die vieles anders, aber wenig besser machen wird. Ich danke für Gespräch und Einschätzungen!
Kiszely: Danke schön für das Interesse!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Seit Tagen protestieren die Menschen gegen diese sogenannte vierte Verfassungsnovelle, und all das beobachtet der Politologe Zoltan Kiszely von der ungarischen Akademie der Wissenschaften. Ich wollte von ihm wissen, mit welchem Gefühl er das beobachtet. Ist große Sorge übertrieben, oder verabschiedet sich da tatsächlich ein EU-Mitglied von demokratischen Grundwerten?
Zoltan Kiszely: Das stimmt nicht. Wir sehen die Wiederholung der Ereignisse, die sich bei der Debatte um das Mediengesetz vor zwei Jahren ereignet haben. Damals gab es auch eine große internationale Besorgnis, ungefähr die gleichen Regierungen und internationalen Organisationen haben sich geregt, sie haben ihre Bedenken geäußert. Budapest hat den Vorwurf abgewiesen, dass hier die Demokratie am Ende sei oder Ungarn sich von der Demokratie abwendet oder von dieser Richtung abkehrt, aber später wurde die Debatte versachlicht.
Das heißt, ich erwarte hier wieder das Gleiche. Ungarn ist wieder einmal ein Präzedenzfall, und das ist, glaube ich, etwas, was sehr schwer ist, und deswegen ist, glaube ich, auch die Debatte vielleicht schärfer oder größer, weil es hier um Fragen geht, für die es noch keine Präzedenz gibt.
Welty: Den deutschen Außenminister jedenfalls lässt das alles nicht unberührt. Zusammen mit seinen Kollegen aus Dänemark, Finnland und den Niederlanden setzt sich Guido Westerwelle für den Schutz der Grundwerte ein. Hier gibt es jetzt also einen Brief und ein Konzept – wird das in Ungarn irgendjemanden beeindrucken?
Kiszely: Ich glaube, wenig. Weil über Grundsätze oder über den Geist der Gesetze debattiert wird, und natürlich es gibt keine EU-verbindlichen Vorschriften oder Exempel. Es gibt einen Konsens über bestimmte Sachen, dass es Mehrparteiensysteme oder Meinungsfreiheit geben soll, aber wie das genau auszusehen hat, das weiß niemand, das ist landesspezifisch, kulturell unterschiedlich, finanzielle Stärke der Länder, Wirtschaftsleistung der Länder, Medienlandschaft ist unterschiedlich. Oder zum Beispiel die Zivilgesellschaft ist stärker entwickelt, schwächer entwickelt.
Und das ist etwas, worüber die Ungarn sehr viel debattieren. Dass zum Beispiel das politische System der USA völlig verschieden ist von dem, was in England ist oder was auf Kontinentaleuropa ist. Ich sage immer, Ungarn ist derzeit ein Laboratorium der Politik. Die Politik versucht, seine Grenzen auszuweiten, womöglich und natürlich auf Kosten anderer Subsysteme, zum Beispiel das der Wirtschaft, das der Justiz. Und das ist immer die Frage, wo ist die rote Linie, die man nicht überschreiten darf.
Und diese Debatte geht genau darum, wo ist diese rote Linie. Wir sehen eine parallele Diskussion wie bei Ihnen in Deutschland über die gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Zum Beispiel soll in die ungarische Verfassung aufgenommen werden, dass eine Familie aus Mann, Frau und Kind besteht. Und viele fühlen sich, zum Beispiel die gleichgeschlechtlichen, die Homosexuellen fühlen sich dadurch ausgegrenzt. Aber die Politik möchte das festschreiben in die Verfassung, und natürlich kann privat jeder machen, was er will.
Und dann diese Debatte, dass die Politik sich von der Justiz nicht verstanden fühlt, wenn das Verfassungsgericht in Ungarn auch zum Beispiel in dieser Frage die vorherige Gesetzgebung der Politik dann außer Kraft setzt. Und es gibt natürlich eine institutionelle Debatte, soll das Parlament, soll die Politik eine größere Macht haben, ein größeres Gewicht haben als bisher?
Welty: Wie wird denn die ungarische Verteidigungsstrategie aussehen gegenüber der EU?
Kiszely: Die Regierung bittet die ausländischen Regierungen und Organisationen um konkrete Paragrafen, gegen die ungarisches Gesetz verstößt. Werden solche Paragrafen vorgezeigt oder internationale Verträge, revidiert Budapest sofort seinen Standpunkt. Sollte es keinen solchen Paragrafen geben, dann wird dieses Problem auf die lange Bank gesetzt und so wie beim Mediengesetz sollen Kommissionen eingesetzt werden, welche alle EU-Mitgliedsstaaten untersuchen und dann nicht-verbindliche Empfehlungen aussprechen sollen.
Welty: Westerwelles Papier richtet sich ja ausdrücklich nicht gegen Ungarn, sondern ist ganz allgemein gehalten. Die Maßnahmen könnten auf jedes EU-Mitglied angewendet werden. Reicht das als diplomatischer Hakenschlag aus, um Ungarn nicht von Anfang an zu beleidigen?
Kiszely: Nein, also wir sehen auch in Rumänien oder in anderen Mitgliedsstaaten Bestrebungen, dass die Politik ihren Bewegungsfreiraum auszuweiten versucht. Natürlich, ein Außenminister eines großen Mitgliedsstaates beziehungsweise von vier Netto-Zahlern ist schon eine wichtige Mahnung, aber wir haben schon Hillary Clinton gehabt und andere – ich glaube, das beeindruckt Budapest wenig.
Welty: Das Konzept sieht vor, letzten Endes auch Druck über Geld ausüben zu können, über EU-Mittel, die dann ausgesetzt werden. Das wäre ja in der Tat ein recht starkes Argument.
Kiszely: Ja, aber Budapest hofft darauf, dass zum Beispiel das Überhöhte-Defizit-Verfahren, was schon seit Langem gegen Ungarn anhängig ist und über dessen Abschluss im Mai abgestimmt werden soll im Ekofin-Rat, dass diese Wirtschaftsfragen nicht mit Demokratiegrundsatzfragen verknüpft werden. Budapest sieht Überhöhtes-Defizit-Verfahren als ein mathematisches Problem, ob die drei Prozent Defizitziele erreicht werden. Und Demokratiefragen sieht Budapest als eine ganz andere Geschichte an.
Welty: Wie sehr nährt Orban auch seine Macht und seinen Einfluss aus der Kritik von außen?
Kiszely: Wenn die Demokratie in Ungarn von außen her beanstandet wird, fühlt sich Budapest nicht verstanden. Also man denkt, dass die westlichen Ausländer, die nach '45 in der amerikanischen Besatzungszone waren und die sowjetische Besatzung nicht erdulden mussten, Mittel- und Osteuropa nicht verstehen. Druck von außen hilft Viktor Orban und der Regierung, die Anhänger der Regierungsparteien hinter sich zu scharen. Das heißt, Druck von außen erhöht den Zusammenhalt innerhalb der Regierungspartei und in der bürgerlichen Wählerschaft.
Konkrete Kritik, mit Paragrafen unterlegte Kritik oder Kritik von internationalen Organisationen, das wird viel besser aufgenommen und viel besser auch gehandhabt.
Welty: Es ist davon auszugehen, dass die Verfassungsänderung heute durchgeht. Das heißt, ab morgen ist Ungarn was für ein Land?
Kiszely: Wir wissen nicht – es besteht noch die Möglichkeit, dass die Regierungsmehrheit doch nicht über diese Verfassungsnovelle abstimmt. Es gibt viele strittige Fragen, zum Beispiel die Frage, ob Studenten, die staatlich gefördert worden sind, eine bestimmte Zeit wegen der Förderung in Ungarn arbeiten sollten. Das könnte gegen EU-Recht der Freizügigkeit verstoßen. Also es könnte sein, dass die Abstimmung verschoben wird, wir wissen das noch nicht. Ungarn wird ein Land sein, worüber viel debattiert wird, aber das haben wir schon beim Mediengesetz und bei der Verfassung schon gehabt, wir sind das gewohnt.
Welty: Und es ist weiter das Land, in dem Sie leben wollen?
Kiszely: Ja. Also, ich habe neun Jahre lang in Deutschland gelebt, das war eine sehr schöne Zeit. Ich bin zurückgekehrt nach Ungarn, und ich möchte hier bleiben.
Welty: Der ungarische Politologe Zoltan Kiszely über die Vierte Verfassungsnovelle, die vieles anders, aber wenig besser machen wird. Ich danke für Gespräch und Einschätzungen!
Kiszely: Danke schön für das Interesse!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.