"Die Niederschlagung des Volksaufstands 1956 spielt in der ungarischen Politik eine ganz wichtige Rolle. Man hat die Erfahrung mitgenommen, dass man sich damals nicht auf die Hilfe aus dem Westen verlassen konnte. Die Russlandpolitik steht voll im Fokus des Wahlkampfs – deshalb wird auch der Krieg wahlentscheidend sein."
Michael Winzer, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ungarn, spricht im "Weltzeit"-Interview von einem direkten Zusammenhang zwischen dem Volksaufstand in Ungarn 1956 und der Zurückhaltung bei der Beurteilung des Krieges heute.
Ungarns Schicksalswahl
Von einer „Schicksalswahl“ spricht die Opposition in Ungarn in Bezug auf den 3. April 2022. © ARD / Wolfgang Vichtl
Der Krieg schwächt Orbáns Gegner
22:21 Minuten
In Ungarn finden am 3. April Parlamentswahlen statt. Das Oppositionsbündnis aus sechs Parteien tritt an, um gegen Korruption und für mehr Rechtstaatlichkeit zu kämpfen. Vor Russlands Angriffskrieg lag es leicht vorn. Doch das ändert sich gerade.
Dieser Krieg - im Nachbarland - hat viele Verlierer. Die Opposition in Ungarn könnte dazugehören.
Mónika Sápi war eine der ersten Politikerinnen an der Grenze zur Ukraine, als die Flüchtlinge kamen. Sie ist die Kandidatin der Opposition im Wahlkreis, zu dem Beregsurány gehört, das Dorf und die Grenzstation, über die sie jetzt nach Ungarn fliehen: Mütter, blass, mit verweinten Augen, Kinder mit quietschrosa Rollköfferchen, Omas mit Gehstock, Opas, die Enkel an der Hand. Die Väter müssen in der Ukraine bleiben, kämpfen.
Mónika Sápi, Sozialdemokratin, die für die „Demokratische Koalition“ und den gemeinsamen Spitzenkandidaten Péter Márki-Zay antritt, hat etwas Zupackendes – und will unbedingt etwas loswerden. Den Menschen auf der Flucht muss mehr geholfen werden, sagt sie.
„Gestern habe ich gesehen, die Behörden waren überhaupt nicht vorbereitet für die Aufnahme der Flüchtlinge. Heute ist das etwas besser organisiert.“
Freundlicher Empfang für ukrainische Flüchtlinge
Die Wahlkämpferin Mónika Sápi hat ihre Videos von der Grenze auf Facebook gepostet. Kurz danach ließ der Bürgermeister des kleinen Grenzdorfes ein Baumarkt-Zelt aufstellen. Es gibt heißen Tee, Obst, Kekse – freundliche Worte. So viele kamen noch nicht, in den ersten Tagen.
Einen Tag später war deutlich mehr Gedränge: Viktor Orbán ist da, in Beregsurány. Für ihn geht es um „Nachbarschaftshilfe“. Auch er will Gesicht zeigen – sein freundlichstes – und freut sich demonstrativ, dass alle anderen es auch so machen.
„Wir zeigen hier unser schöneres und besseres Gesicht. Mir ist gemeldet worden: die Bürgermeister, die Einheimischen, alle helfen und sind gastfreundlich. Wie ich sehe, gibt es hier echte ungarisch-ukrainische Freundschaft. Wer aus der Ukraine kommt, wird hier freundlich empfangen. Es warten hier Freunde auf sie.“
Ungarische Minderheit flieht aus der Ukraine
Die meisten, die bis jetzt gekommen sind, haben einen ungarischen Pass, neben dem ukrainischen. Im Grenzgebiet Ungarn-Ukraine leben 130.000 Menschen, die zur ungarischen Minderheit gehören – also: Ungarn, Nachbarn, natürlich auch: Wählerinnen und Wähler.
Mónika Sápi hat sich hinter Orbán aufgestellt, im Blickfeld der Kameras des staatlichen Fernsehens. Aber immer wieder schiebt sich einer der bulligen Leibwächter Orbáns dazwischen. Dieser Auftritt in den landesweiten Nachrichten soll allein dem Ministerpräsidenten gehören. Sápi postet das Hin- und Hergeschiebe später auf ihrer Facebook-Seite. Untertitel: „Pfauentanz“.
Die ungarisch-ukrainische Freundschaft war nicht immer so, wie sie Orbán jetzt ausmalt. Orbán hat da auch was auszuwetzen, als Russland-Versteher und bisher bekennender Putin-Freund. „Putins Pinscher“ nannte ihn die Opposition, als er Anfang Januar dieses Jahres nach Moskau flog, eher geschäftlich – und als Wahlkämpfer: Mit billigem Gas und zehn Milliarden Euro für neue Atommeiler aus Russland wollte er auch beim Wahlvolk zu Hause in Ungarn punkten. Weil sich der Krieg schon ankündigte, wurde die Reise eilig zur „Friedensmission“ umetikettiert. Jetzt nur der Opposition keine Angriffsfläche bieten.
Opposition spricht von „Schicksalswahl“
Zum ersten Mal seit zwölf Jahren könnte es passieren, dass Viktor Orbáns Regierungspartei, die Fidesz, abgewählt werden könnte. Eine „Schicksalswahl“, so beschwört die Opposition diese Wahl am 3. April – sie sei für lange Zeit die letzte Chance, um Rechtsstaat und Demokratie in Ungarn zu retten. Sollte Orbán wieder eine Zwei-Drittel-Mehrheit bekommen, werde es „dunkel“ in Ungarn.
Vor dem russischen Krieg gegen die Ukraine witterte die Opposition noch eine Art „ungarischen Frühling“, sie lag in den Umfragen leicht vorn, die Rede war von einem „Kopf-an-Kopf-Rennen“. So machten sie sich Mut.
Wobei „Kopf-an-Kopf“ keine gute Nachricht ist für die Orbán-Herausforderer. Fünf, sechs Prozent Vorsprung müssten es schon sein. Das Wahlrecht ist kompliziert in Ungarn, es begünstigt große Parteien – das heißt, die eine große Partei: Viktor Orbáns Fidesz. Zoltan Tóth kennt sich da aus, er war als Staatssekretär im ungarischen Innenministerium für Wahlen zuständig, allerdings vor Orbán.
„Auf Ungarisch sagen wir: Das Fußballfeld ist geneigt. Die Gegner müssen bergauf spielen, für die Sieger läuft das Spiel bergab.“
Sechs kleine Parteien vereint gegen Orbán
Diesmal hat sich die Opposition auf die Spielregeln eingelassen. Sie macht einfach auch auf „große Partei“: Sechs sehr unterschiedliche Partner, von ganz links bis Rechtsaußen, spielen im Team und haben sich geeinigt, auf jeweils nur eine Kandidatin, einen Kandidaten in allen 106 Wahlkreisen: Den oder die mit den besten Chancen für ein Direktmandat, egal aus welcher Partei.
Und: Es gibt ungarnweit nur einen Spitzenkandidaten. Keinen aus der Reihe der üblichen Verdächtigen, sondern einen Quereinsteiger: Péter Márki-Zay.
Ich treffe ihn, kurz nachdem ihn die Anhänger der sechs Oppositionsparteien in Vorwahlen nominiert haben. Sein kleines Team trägt damals, ein halbes Jahr vor der Wahl, noch tiefe Augenringe von der rauschenden Vorwahlnacht. Der Kandidat selbst ist hellwach, konzentriert, selbstbewusst: Dass er derjenige sein soll, der Orbán stürzen soll – „Pah, das war in der letzten Woche keine Überraschung mehr“, sagt er, aber – jetzt gilt’s: Jetzt müssten sie „hart arbeiten“.
„Weil – wissen Sie – unsere Gegenspieler sind vermutlich besser vorbereitet, besser organisiert, sie haben viel mehr Erfahrung und auch mehr Geld. Deshalb müssen wir hart arbeiten. Aber wir sind sehr hoffnungsvoll.“
Péter-Márki-Zay, 49, hat lange in den USA und in Kanada gelebt und gearbeitet, hat Marketing studiert.
Jetzt ist er Bürgermeister der 47.000-Einwohnerstadt Hódmezővásárhely im Süden Ungarns. Die Stadt war mal Fidesz-Hochburg. Das hat Márki-Záy gedreht. Genau das soll er jetzt in ganz Ungarn wiederholen. Und genau dafür sei er der Richtige, sagt Márki-Záy, denn: „Mit mir hat Orbán nicht gerechnet, mit mir hat er ein Problem“, erklärt er und grinst fröhlich.
„Weil – die größte Bedrohung für Orbán ist, dass jetzt jemand kommt, der die Werte wirklich lebt, die Orbán nur verkündet, aber eben nicht lebt.“
Orbáns Herausforderer: Péter Márki-Zay
Péter Márki-Zay nennt sich selbst: sehr konservativ, sehr katholisch, er erzählt gern von seinen sieben Kindern und dass er früher Orbán-Fan gewesen sei, dass er lange selbst Fidesz gewählt habe, die Partei, gegen die er jetzt antritt. Aufs Spielfeld geschickt von Linken, Liberalen, von Sozialdemokraten und Grünen, von den Jungen vor allem. Wie das zusammenpasst? Márki-Zay lacht wieder und erzählt, was ihm die Freunde seiner Kinder sagen.
"Sie kommen zu mir und sagen: Nein, nein - wir bleiben links - aber wir wählen dich, wir mögen, dass du ehrlich bist, wir mögen, wie du Politik angehst."
Und Márki-Zay zieht daraus den Schluss: "Viele Menschen fühlen sich angezogen, wenn jemand gemeinsame Werte vertritt. Vergessen wir also: Links oder Rechts."
Ungarn braucht den Wechsel – sagt der Kandidat der Opposition.
Anti-Orbán-Bündnis - aus der Not geboren
Das ist der kleine gemeinsame Nenner des Sechs-Parteien-Bündnisses gegen die regierende Fidesz. Es ist ein Anti-Orbán-Bündnis. Aus der Not geboren, aus Wut und Verzweiflung zusammengehalten. Bleibt die Frage, ob das reicht?
Ich frage bei den „Besseren“ nach – das ist die Übersetzung für „Jobbik“. Sie spielen Rechtsaußen in Márki-Zays Aufstellung. Koloman Brenner ist der Vordenker der „neuen“ Jobbik, er nennt die Partei jetzt „Volkspartei“ und „christdemokratisch“. Die Rechtsextremisten habe man rausgeworfen, sagt er. So hat sich Jobbik bündnisfähig gemacht, auch für früher erbitterte politische Gegner.
Koloman Brenner ist Ungarn-Deutscher, aus Sopron – er sagt lieber: Ödenburg. Brenner ist einer der Vize-Präsidenten des ungarischen Parlaments und empfängt in seinem mit Geschichte überladenen Büro im prunkvollen Budapester Parlamentsgebäude direkt an der Donau – ein langer Weg da hin, über viele rote Teppiche, verspiegelte Gänge, an vielen vergoldeten Säulen vorbei – alles aus einer anderen Zeit. Aber: Wir schreiben das Jahr 2022 – es soll demokratisch gewählt werden – so kam’s auch zum Kandidaten Márki-Zay.
„Das Wahlvolk hat gesprochen – und wir sind als gute Demokraten hinter Márki-Zay – und, mittlerweile, wo wir jetzt in Richtung vom Finish gehen, funktioniert's immer besser.“
Skepsis gegenüber dem Kandidaten?
Ist besser gut genug? Klingt da Skepsis durch? Am gemeinsamen Kandidaten? Naja, der Fehler der ungarischen Opposition sei immer gewesen, dass jede Partei einzeln gegen Orbán antreten wollte. „Chancenlos“, sagt der Profi-Politiker Brenner. Deshalb jetzt das Experiment mit Márki-Zay.
„Márki-Zay ist doch anders. Er kommt, kann man sagen, aus der zivilen Gesellschaft, kann man so sagen, er hat keine Erfahrung im parteipolitischen Bereich. Das ist ein Vorteil und ein Nachteil – natürlich.“
Was jetzt? Vorteil oder Nachteil? Neuer Versuch – drei Adjektive bitte, die den gemeinsamen Kandidaten auszeichnen:
„Eigenwillig! Ähm – doch sehr sympathisch und charismatisch.“
Orbáns Herausforder verspottet auf Youtube
Der Kandidat sieht nicht gut aus in einem Youtube-Video, in dem sie ihn verspotten als "Mini-Feri", als geklonte Marionette von Ferenc Gyurcsány, dem Sozialdemokraten und unbeliebten Ex-Regierungschef. Die Szenen geklaut aus der 007-Parodie „Austin Powers“, Gyurcsány in der Bösen-Rolle des Mr. Evil, Márky-Zay als dessen Klon.
Die Szene ist allgegenwärtig in ganz Ungarn, als Schmäh-Plakat auf vielen Wänden und Litfaßsäulen. Die gehören vor allem Lőrinc Mészáros, Ungarns Oligarch Nummer eins, ein alter Schulfreund Viktor Orbáns.
Der Herausforderer Péter Márki-Zay würde mit Orbán gerne öffentlich streiten, um Ungarns Haltung zur Europäischen Union, um Orbáns Haltung zu Wladimir Putin, um Ungarns Zukunft. Aber: ein TV-Duell verweigert Orbán hartnäckig. Stattdessen: Knappe fünf Minuten Redezeit für den Oppositionskandidaten im staatlichen Fernsehen, das ist die gesetzlich vorgeschriebene Untergrenze. Weniger geht nicht, aber die fünf Minuten gibt’s nur einmal – und nur alle vier Jahre.
Fidesz-Partei stark auf dem Land
In der Hauptstadt Budapest rechnet die Opposition mit Mehrheiten. Fidesz ist vor allem stark auf dem Land, auch in den Provinzstädten.
Beispiel: die boomende Industriestadt Györ. Audi produziert dort, viele andere. András Dézsi, 59, ist der Bürgermeister. Er ist auch Arzt, Herzspezialist, schreibt erfolgreich Fachbücher – und Kindermärchen. Er hat seinen eigenen Kopf, heißt es, er kritisiert auch mal die Regierung. Ich bin neugierig auf die Erfolgsgeschichte eines Fidesz-Politikers. Ich bin fest mit ihm zum Interview um 08 Uhr 30 verabredet. Wird aber leider nichts, am Abend davor, um 21 Uhr 30 lässt er absagen. Grundlos, ohne Ausweichtermin. So ist das fast immer mit Fidesz-Politikern.
Neun Uhr vormittags, Frühling an der Donau bei Dömös, ein Naherholungsgebiet für die Budapester, die Sonne scheint auf den Parkplatz am Ufer. Ungarn geht es gut, lassen die Nachrichten wissen, im staatlichen Radio:
Das Wirtschaftswachstum: historisch hoch. Deshalb bekommen Familien großzügig Einkommenssteuer zurück. 120.000 neue Notebooks für Schulen sind angekommen, neuer Corona-Impfstoff für die Kinder ist da – und der Frühling: 14 Grad, Sonne, an der ungarischen Donau. Während es im nördlichen Europa gerade heftig regnet und stürmt.
Nur eine halbe Stunde später schlägt, wie erwartet, der Blitz aus Richtung Europa in Budapest ein. Der Europäische Gerichtshof bestätigt: Die Europäische Union darf Gelder kürzen, wenn ein Mitgliedsstaat – wie Ungarn – gegen europäische Rechtsstaatsnormen verstößt. Das könnte teuer werden – für Ungarn.
Nachrichten außerhalb des staatlichen Rundfunks
Rita Bolla lacht – immer mittwochs, sagt sie, ist Zeit für „Revolution“. Warum? Weil sie mittwochs Zeit hat. Zeit, um ihre kleine Zeitung zu verteilen, ein Faltblatt, Din A4, für die Briefkästen und zum Weitergeben. Inhalt: Die Nachrichten, die nicht im staatlichen Rundfunk zu hören sind: Warum Krankenhäuser lange Wartelisten haben, warum EU-Gelder stocken. Und warum die Inflation in Ungarn galoppiert.
Weil fast alle Medien in Ungarn entweder staatlich oder fest in der Hand von Orbán-Freunden sind, will sie etwas entgegensetzen. Heute schwärmen sie in Dömös aus, einem verschlafenen Ort an der Donau. Manchmal lugt jemand hinter den Gardinen auf die Zeitungsverteiler, hinter fast jedem Gartenzaun ein Hund. Aber die Briefkästen sind gut erreichbar für Rita und ihre Freunde.
„Das war Zufall am Anfang. Unser Gründer-Chefredakteur wohnt in der Nähe. Aber jetzt ist Dömos wichtig. Dieser Ort gehört zu den Wahlkreisen, die wackeln.“
Das heißt: Eine Chance für die Opposition auf eines der so wichtigen Direktmandate.
Krieg in der Ukraine bestimmt Wahlverhalten
Der Krieg im Nachbarland scheint in Dömos weit weg zu sein. Aber er bestimmt die Schlagzeilen in Ungarn, die Stimmung und das Verhalten: der Wählerinnen und Wähler – und der Wahlkämpfer.
Viktor Orbán gibt den fürsorglichen Landesvater – und versucht, sich so weit wie möglich aus dem Krieg im Nachbarland herauszuhalten. Frieden und Freiheit für Ungarn, das sind seine Schlüsselwörter im Wahlkampf. Die Opposition dagegen wolle ungarische Soldaten in den Tod schicken, behauptet er.
Péter Márki-Zay versucht, Orbán zusätzlich scharf anzugreifen, wegen seiner zwiespältigen Rolle gegenüber Russlands Präsident Putin. In der Hoffnung, genügend bisherige Fidesz-Wähler umzustimmen.
Aber der Krieg im Nachbarland scheint jede Wechselstimmung zu dämpfen.