Ungarn und die Europäische Union

Die Orbán AG

23:22 Minuten
Viktor Orbán, Ministerpräsident von Ungarn, sitzt im Juli 2018 anlässlich eines Treffens mit Bundestagspräsident Schäuble im Deutschen Bundestag vor einer Europa-Flagge.
Seit dem EU-Beitritt haben der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Gefolgsleute gut verdient. © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Von Stephan Ozsvath |
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Seit Jahren hebelt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán demokratische Grundrechte aus und hat dafür gesorgt, dass seine Familie und Freunde reich wurden. Das Land ist ein Selbstbedienungsladen geworden, mit Auswirkungen auch jenseits der Grenze.
Die Strandstraße im ungarischen Grenzort Fertörákos führt direkt zum Ufer des Neusiedler Sees. Das Gewässer ist ein Paradies für Vogelkundler. Denn der Steppensee mit Schilfgürtel ist ein Rastplatz für Zugvögel auf dem Weg nach Afrika. Die Region ist als UNESCO-Weltkulturerbe geschützt. An der Strandstraße weisen Schilder auf den "Naturpark" hin. Eine neue Tafel ist hinzugekommen: Der Weg sei gefährlich wegen verstärkten Lkw-Verkehrs. Das bekommen auch diese Anwohner täglich mit.
"In die Richtung? Da gibt es Lastwagen. Gerade habe ich zu meinem Mann gesagt, alle fünf Minuten fährt ein Auto vorbei. Als wir Kinder waren, hatten wir eine Ausnahmegenehmigung für den Grenzstreifen. Jetzt können wir nicht raus zum Strand, obwohl wir hier wohnen. Dort, ein Stück weiter ist ein Sicherheitsmann, und da ist Schluss."

Schlimmer als zu Zeiten des Eisernen Vorhangs

Keiner dürfe an den Strand, pflichtet ihr Mann bei. Es sei schlimmer als zu Zeiten des Eisernen Vorhangs, erzählt die Anwohnerin lachend.
"Mein Mann könnte davon erzählen, wie es früher war, er war Grenzschützer. Wer damals Papiere hatte, konnte raus. Heute geht das nicht mehr."
Einige Hundert Meter hinter dem Wachschutzhäuschen erstreckt sich der Strand von Fertörákos. Auf den hat Rahél Orbán, die Tochter des Ministerpräsidenten, ein Auge geworfen, erzählt man sich in der Gegend, als sie mal zum Segeln hier war. In drei Worten umschreibt die Anwohnerin, was dort jetzt gebaut wird.
"Ein großes 100-Betten-Hotel, ein Segel- und Jachthafen."
Von einer Anhöhe im 2000-Einwohner-Dorf sieht man mit dem Fernglas in der verbotenen Zone Kräne, Baumaschinen, einen Sandhaufen – und einige Pfahlbauten im Wasser. Einer davon gehörte Franz Meisl aus Wien.
"Mein Haus, das ist von vorne das sechste."
Der pensionierte Geschichts- und Geografielehrer zeigt auf eine Luftaufnahme.
"Das waren 21 Häuser. Alles schilfgedeckt. Und am 28. Juni 2017 kam es zu einem Brand. Da hat jemand mit einem Winkelschleifer Metallgegenstände geschnitten. Da kam es zu einem Funkenflug. Und dann wurden zehn der 21 Häuser niedergebrannt."

Ein Brand, der die Besitzverhältnisse änderte

Schnell machte das Gerücht von Brandstiftung die Runde. Nur so viel ist sicher: Dem 75 Millionen Euro teuren Tourismusprojekt nutzt der Brand.
"Ich wollte sofort wieder aufbauen, habe auch die Genehmigung dazu bekommen. Habe 60 Stützen hineingetrieben ins Wasser. Dann hieß es ein Jahr später, dass es gestoppt werden sollte. Und eine Flächenumwidmung im Soproner Gemeinderat beschlossen wurde."
Die Pfahlhäuser mit Steg sind zwar Privatbesitz, aber die Hausbesitzer zahlten auch Pacht an den ungarischen Staat, denn das Seegelände unter den Häusern ist Staatsbesitz. Im neuen Bebauungsplan tauchen die Pfahlbauten von Fertörákos gar nicht mehr auf – der Bürgermeister von Sopron ist ein Parteifreund Orbáns. Franz Meisl berichtet von Schikanen.
"Es gab 14 Tage Einsichtnahme. Genau in diesen Tagen wurde das Büro von einer Straße in die andere in Sopron umgesiedelt."


Orbáns Schulfreund Lörinc Mészáros ist Federführer des Projekts. Weder seine Firma noch das zu Beginn noch zuständige Entwicklungsbüro in Sopron antworten auf Fragen. Franz Meisl und die anderen Pfahlhausbesitzer bekamen dieses Jahr erneut amtliche Post: Innerhalb von drei Monaten müssten die Häuser abgerissen sein. Auf eigene Kosten. Franz Meisl selbst hat schon 120.000 Euro verloren, erzählt er, trotz Entschädigung durch die Versicherung.
Ein älterer Mann mit Schirmmütze steht im Freien vor einem kleinen Gebäude.
Franz Meisl ist Pfahlhausbesitzer. Er sagt, er hat selbst schon 120.000 Euro verloren.© Stephan Ozsvath / Deutschlandradio
"Die anderen, die da noch vollwertige, schöne Häuser haben, die sind natürlich entsetzt, dass das abgetragen werden muss. Nur aus Gründen, die wir nicht ganz einsehen. Frage: Was vermuten Sie denn? Ein Bauinteresse des Orbán-Clans, so glauben wir."

Größtes Tourismusprojekt der Regierung Orbán

Fertörákos ist das größte Tourismusprojekt der Regierung Orbán. Deshalb wurde es zur Chefsache erklärt. Zuständig ist das Büro des Ministerpräsidenten selbst. Antwort auf Fragen? Vom Regierungssprecher kommt nur eine nichtssagende E-Mail. Fragen, ob Familienmitglieder von öffentlichen Ausschreibungen profitieren, beantwortet Regierungschef Viktor Orbán grundsätzlich nicht oder ausweichend.
Die Journalistin Blanka Zöldi hatte ihn 2017 auf einer Pressekonferenz in Brüssel gefragt, ob er seine Meinung geändert habe: Vor Jahren habe er noch empfohlen, dass seine Familie nicht von öffentlichen Aufträgen profitieren solle. Orbán antwortet erst nach einigen Nachfragen.
"Ich bin überrascht, dass Sie behaupten, dass jemand aus meiner Familie an EU-Projekten teilnimmt – als Haupt- oder Subunternehmer. Aber ich werde dem nachgehen."
Die Fragestellerin Blanka Zöldi gehört zum Team von Direkt 36, einer Gruppe Budapester Investigativjournalisten. Seit Jahren recherchieren sie den Geschäften von Orbáns Familie hinterher. Insbesondere denen von Orbáns Vater Gyözö, der eine Baufirma betreibt, erzählt sie im Skype-Gespräch.
"Er ist an vielen Infrastrukturprojekten beteiligt. Die werden meist von der EU finanziert. Die Firma Dolomit der Familie Orbán ist eine Firma, die Baumaterialien und Betonprodukte anbietet. Sie versorgen große staatliche Bauprojekte mit Baumaterial. Wir fanden sie beim Straßenbau, Eisenbahnbau, Kanalarbeiten, Rekultivierungsarbeiten. Die Familie Orbán hat noch eine andere Firma Nehéz Kö, die die Baustellen mit Baumaterial beliefert."
Das haben die Investigativjournalisten aus Budapest überprüft: Welche Firmenlogos stehen auf den Lastern? Es sei hier um millionenschwere Projekte gegangen. Allerdings, so Blanka Zöldi:
"In den offiziellen Unterlagen tauchen sie nicht auf. Dennoch geht es da um öffentliche Gelder. Wenn der Staat investiert – ob aus eigenen Mitteln oder mit EU-Mitteln – gibt er dem Hauptunternehmer Geld. Der gibt das Geld weiter an Subunternehmer. Die wiederum bezahlen die Transportunternehmer für das Baumaterial."

Geld für immer die gleichen Investoren

Blanka Zöldi und ihre Kollegen klagten die Einsicht in Verträge mit Subunternehmern ein – und stießen auf Orbáns Vater, etwa beim Ausbau einer Bahnlinie am Plattensee. Hauptauftragnehmer war Orbán-Freund Lörinc Mészáros. Auch am Tourismusprojekt am Neusiedler See ist der Schulfreund des Ministerpräsidenten beteiligt. Der pensionierte Ingenieur Gyula Major aus Sopron hat einen Verein der Freunde des Neusiedler Sees in Ungarn gegründet. Er vermutet:
"Leider scheint das Ziel zu sein zu bauen. Ob das dann genutzt wird, ist dann unwichtig. So war das mit den Stadionbauten. Bei der EU-finanzierten Kleinbahn in Orbáns Heimatdorf, in den Nachrichten habe ich gerade gesehen, dass in Debrecen ein Riesenmonstrum gebaut wurde – vielleicht Kulturzentrum. Das steht da und wird nicht genutzt. Als ob es egal wäre, wofür wir das Geld benutzen. Und immer bekommt der gleiche Investorenkreis das Geld – das haben wir hier auch gesehen."


Gegen das Mega-Projekt am Neusiedler See protestieren mittlerweile 30 Umweltschutzgruppen. Denn nicht nur ein Vogelparadies ist in Gefahr, sondern auch der Titel UNESCO-Weltkulturerbe.
Ein älterer Mann mit Schnurrbart sitzt in einem Zimmer.
Gyula Major vom Freundeskreis Neusiedler See sagt: "Leider scheint das Ziel zu sein zu bauen. Ob das dann genutzt wird, ist dann unwichtig."© Stephan Ozsvath / Deutschlandradio
Im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring hat Christian Schuhböck sein Büro. Der Generalsekretär von "Alliance for Nature" kämpft für den Erhalt des UNESCO-Weltkulturerbes am Neusiedler See. Touristische Bausünden gibt es rund um den Neusiedler See, auch in Österreich.
"Mittlerweile ist einfach der Bogen derartig überspannt worden, was diese Tourismusprojekte in Österreich und jetzt natürlich auch in Fertörákos betrifft, dass unserer Meinung nach jetzt Schritte gesetzt werden müssen, um das international aufzuzeigen. Das heißt: Die Eintragung in die Rote Liste der gefährdeten Welterbestätten bedeutet, dass diese beiden Staaten – Österreich und Ungarn – an den internationalen Pranger gestellt werden. Weil sie eben mit ihrem eigenen Welterbe derartig sorglos umgehen."

UNESCO-Welterbe ist in Gefahr

Aber wird das die Regierung Orbán beeindrucken? Aus der Pressestelle der ungarischen Regierung heißt es: Es habe von beiden UNESCO-Welterbebüros keine Einwände gegeben. Das 60 Hektar große Projekt verfüge über alle Umweltgenehmigungen. So stellte es auch der Soproner Fidesz-Parlamentarier Attila Barcza im regierungsnahen Hír TV dar.
"Wenn der Tourist ankommt, findet er den Strand vor, er wird erneuert, mit einer Strandpromenade, Spielplätzen für die Kinder, es wird einen Angler- und Bootshafen geben, ein Sportzentrum mit einem Fußball-, Tennis- und Volleyball-Platz. Einen großen Parkplatz, Imbissbuden, Restaurants, und zentral: ein Ökozentrum mit Ökopark. Natürlich hat das Projekt alle erforderlichen – auch Umwelt- Genehmigungen."


Das sieht man in Österreich etwas anders. Das in Fertörákos geplante Hotel – ein regelrechter Betonriegel – erfülle wohl kaum die UNESCO-Schutzkriterien, heißt es dazu aus dem zuständigen Weltkulturerbe-Büro in Eisenstadt. Mit der beschaulichen Ruhe im verschlafenen Weinort Fertörákos wäre es vorbei. Die Umweltschützer schlagen deshalb Alarm. Christian Schuhböck:
Eine Sumpfohreule im Nationalpark Neusiedler See imBurgenland, Österreich.
Eine Sumpfohreule im Nationalpark Neusiedler See im Burgenland, Österreich. Naturschützer und Schützerinnen haben Angst um die Artenvielfalt in der Region. © imago / blickwinkel / McPhoto / J. Bitzer
"Die gesamte Uferstruktur würde dann begradigt werden. Das Schilf wird weggenommen. Die Brutplätze werden dadurch beeinträchtigt. Noch dazu wird gerade jetzt die S85 errichtet, die Schnellstraße zwischen Fertörákos und Sopron, das heißt: Es kommt ein massiver touristischer Druck auf das Strandbad von Fertörákos. 880 Parkplätze! Und in der Hauptsaison würde es zu einer massiven Verkehrsbelastung an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn kommen von rund 8.000 Autos pro Tag."

"Ungarn gehört heute in erster Linie Viktor Orbán"

Videochat mit Sándor Lederer. Er ist der Direktor von K-Monitor, einer Nichtregierungsorganisation in Budapest, die eine Korruptionsdatenbank für Ungarn erstellt hat. Wer in einem Restaurant ausgeht oder in einem Hotel übernachtet, kann hier überprüfen, wem er die Taschen füllt. In der Suchmaske taucht auch das Projekt Fertörákos auf. Die Datenbank ist ein Atlas der Vetternwirtschaft in Ungarn. Hunderte Projekte sind aufgelistet, wie viel staatliche Gelder Freunde und Mitglieder des Orbán-Clans bekommen. Frage an Sándor Lederer: Wem gehört das Land?
"Meiner Überzeugung nach den ungarischen Staatsbürgern. Aber wenn wir das System von Wirtschaft und Korruption betrachten, gehört Ungarn heute in erster Linie Viktor Orbán und denen, mit denen er es teilt."
Öffentliche Gelder wandern in private Taschen. Orbán-Freund Mészáros gebietet über ein Netz von Hunderten Firmen. Hotels, Medien, Baufirmen – der einstige Gasinstallateur ist heute 1,3 Milliarden Euro schwer. Er gilt als Strohmann Orbáns – nur: Beweisen konnte das bisher niemand. Im Budapester Büro von Transparency International öffnet Miklos Ligeti die Tür. Er ist der juristische Vorstand der Korruptionsbekämpfer in Ungarn.


"In Ungarn ist eine ganze Generation von wirtschaftlichen Akteuren entstanden, nur mit einem Ziel: Sie leben nicht von ihrer Wettbewerbsfähigkeit, sondern davon, wie die Regierung EU-Gelder absaugen kann. Wie sie zu Geld kommen, wird nicht von ihrer Leistung bestimmt, sondern von ihrer Loyalität gegenüber den Mächtigen."
Viktor Orbán und Lõrinc Mészáros zur Einweihung des Fußballstadions der Pancho Arena im ungarischen Felcsút 2014.
Viktor Orbán und Lõrinc Mészáros zur Einweihung des Fußballstadions der Pancho Arena im ungarischen Felcsút 2014.© imago / PuzzlePix / Vörös Szilárd
Viktor Orbán spricht von einer neuen Schicht von Wirtschaftsführern, "nationalem Kapital". Doch das speist sich oft nicht aus eigenen Quellen, sondern aus Brüsseler Geld. Das wird in Ungarn in die Taschen von Günstlingen geleitet. Laut dem Korruptionsindex von Transparency International gehört Ungarn zusammen mit Bulgarien und Rumänien zu den korruptesten EU-Staaten. Miklós Ligeti:
"Der größte Missbrauch geschieht im Bereich EU-Gelder. Seit dem Beitritt Ungarns 2004 hat das Land Dutzende Milliarden Euro Unterstützung erhalten – vor allem das Geld deutscher Steuerzahler."

Fünf Milliarden Euro von der EU jedes Jahr für Ungarn

Ungarn bekommt jedes Jahr fünf Milliarden Euro aus dem EU-Topf. In den zahlt Deutschland am meisten ein. Ligeti schätzt, dass für viele Projekte mit EU-Förderung bis zu 25 Prozent Korruptionsaufschlag gezahlt werden muss. Regierungschef Orbán mag Korruptionsvorwürfe aus Brüssel nicht. Im staatlichen Rundfunk deutet er sie zu einem Ost-West-Konflikt um.
"Ich mag es nicht, wenn sich der Westen so darstellt, als ob er fehlerfrei wäre – etwa bei der Korruption. Man kann nicht sagen: Nur, weil Du Deutscher bist, oder aus dem Westen, bist Du nicht korrupt. Und nur, weil Du aus Mitteleuropa kommst, bist Du es. Das müssen wir zurückweisen."
Nur: In Deutschland wird Korruption in der Regel bestraft – das Mindeste ist der Verlust politischer Ämter. In Ungarn – da sind sich die Korruptionsbekämpfer einig – gibt es eine Schicht von Unberührbaren. Der grüne Europaparlamentarier Daniel Freund sagt:
"Es ist im Grunde ein System, das darauf ausgerichtet ist, dass er selbst und seine engsten Freunde und Familienmitglieder sich bereichern können. Das ist wirklich was, wo wir was unternehmen müssen."
Über Orbáns Schwiegersohn gibt es eine Akte von der europäischen Anti-Betrugsagentur OLAF. Ermittlungen in Ungarn? Eingestellt. Grenzüberschreitend tätig werden könnte die europäische Staatsanwaltschaft – bei der will Ungarn nicht mitmachen. Miklós Ligeti:
"Eine von der ungarischen Regierung unabhängige Institution würde die korrekte Verwendung der EU-Mittel kontrollieren. Und das will die ungarische Regierung nicht."
So lässt sich auch die Veto-Drohung gegen den EU-Rechtsstaatsmechanismus erklären – eine Art Brüsseler Geld-TÜV. Orbán hat gegen dessen Anwendung Klage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht. Er will Zeit gewinnen. Nächstes Jahr wird gewählt. Und damit die Ungarn das Kreuz an der richtigen Stelle machen, schüttet die Regierung das Füllhorn über den Fidesz-regierten Gemeinden aus. Dorthin, wo die Opposition regiert, leitet sie viel weniger Geld.

Mitte März hat sich die Europäische Volkspartei (EVP) von der ungarischen Regierungspartei Fidesz getrennt. Die Eskapaden der Partei von Viktor Orban waren nach einer jahrelangen Hängepartie sogar der EVP zu viel. Über den langen Weg der Entfremdung berichtet Paul Vorreiter im zweiten Teil dieser Weltzeit.

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