Wie veränderte die Balkanroute Europa? Andrea Beer ist Korrespondentin in Wien und zuständig für einen großen Teil der Länder, die durch die Balkanroute verändert worden sind. Sie meint: Was am meisten ins Auge fällt, sind die Grenzzäune und Mauern, die seitdem gebaut worden sind.
Fünf Jahre Balkanroute
25:35 Minuten
Im August 2015 kommen in Ungarn viele Tausende Geflüchtete und Migranten an. In Budapest verwandeln sich der Ostbahnhof und sein Vorplatz in ein provisorisches Flüchtlingslager. Eine ungarische Helferin schaut auf diesen Sommer zurück.
Es ist ein heißer, sonniger August-Nachmittag in Budapest. Ein ähnliches Wetter wie vor fünf Jahren, als Tausende Menschen aus der ungarischen Hauptstadt losgelaufen sind. Ihr Ziel: Österreich.
"Am 4. September vom Keleti Bahnhof, 25,26,30 Kilometer bis nach Zsambek", erklärt mir die gebürtige Ungarin Zsuzsa Zsohar.
Ich sitze mit ihr im klimatisierten Auto. Ein Luxus. Vor allem, wenn ich an die vielen Menschen denke, die vor fünf Jahren Kilometer zu Fuß zurückgelegt haben.
"Und da bin ich stolz", sagt sie. "Mein Dorf ist auf dem Weg. Bei uns haben die Leute auf der weißen Trennlinie Wasserflaschen herausgestellt. Da gab es drei oder vier Tage in der Gegend überhaupt keine Wasserflaschen. Man konnte sich kein Wasser kaufen, weil das alles von der Bevölkerung aufgekauft wurde und bereitgestellt auf der Autobahn wie bei so einem Marathonlauf."
Motiviert von der Geschichte ihrer Oma
Die ausgebildete Übersetzerin und dreifache Mutter hatte im Juni 2015 gehört, dass für Kinder, die angeblich von ihren Familien allein an der Grenze zurückgelassen worden waren, Pflegefamilien gesucht würden. Dafür wollte sie sich anbieten. Wie sich herausstellte, gab es diese Kinder nicht.
Dafür waren Familien, Männer, Frauen, Kinder über die Balkanroute nach Ungarn gekommen. Kurz entschlossen wurde Zsuzsa Zsohar Mitglied von Migration Aid – einer Facebook-Gruppe, die sich organisiert hatte, um Flüchtlingen in Ungarn zu helfen.
"Was mich da empathisch gestimmt hat, war die Geschichte mit meiner Oma", erzählt sie. "Meine Oma war damals, als Soldaten-Ehefrau schwanger, als Flüchtling nach Markt Schwaben in Bayern gekommen, und in einem Flüchtlingslager hat sie meine Tante zur Welt gebracht. Und diese Geschichte hat sie mir ziemlich oft erzählt, und auch gesagt: Hätte es diesen Ort nicht gegeben, wo sie aufgenommen wurde, wüsste sie nicht, wie sie ihr Kind am Leben erhalten hätte. Und ich glaube, sie hat mich geprägt, dass ich mich nicht abgewendet habe."
Es sollten die prägendsten dreieinhalb Monate in ihrem bisherigen Leben werden.
Angefangen hat alles für Zsuzsa Zsohar am Bahnhof Kelenföld in Budapest. In der Nähe: die Einwanderungsbehörde.
"Hier war alles verlassen. Und da auf den Bänken hatten wir unseren Platz, da haben wir Sandwiches mitgebracht und die Infoblätter, und haben angefangen auszuteilen. Die Leute waren zum Teil da auf der Wiese, und dahinten saßen auch einige. Sie haben sich immer zurückgezogen, in die abgelegenen Ecken, und das war hier nicht so befahren wie jetzt."
Neben der Versorgung mit dem Nötigsten haben die Freiwilligen den Hilfesuchenden auch einfach nur Gesellschaft geleistet, sich ihre Geschichten angehört – Seelensorge nennt Zsuzsa Zsohar das. Die Verständigung klappte auch ohne Sprachkenntnisse.
"Sehr viel mit Pantomime", erklärt sie. "Ich glaube, dass die Absicht, sich unterhalten zu können, sogar unter den Menschen Geschichten zum Vorschein gebracht hat, die ganz weit weg von einander standen, die keine gemeinsame Sprache hatten. Und sie konnten sich trotzdem gegenseitig vermitteln, wer wie mit Familie steht, wer wen verloren hat, wer wo wohnt, wer was kann, wer welchem Beruf nachgegangen ist. Und so haben sie sich über ihr Leben teilweise stundenlang unterhalten."
Mit Information gegen die Angstmacherei
Kommunikation ist schnell ihre Hauptaufgabe. Die Übersetzerin wird zur Sprecherin von Migration Aid. Mit Information gegen die Angstmacherei – nach diesem Prinzip hat Zsuzsa Zsohar gearbeitet. Denn die Regierung von Viktor Orbán hatte die Flüchtlinge zum Sicherheitsrisiko erklärt.
Am 3. Juli 2015 sagte Orbán zum Beispiel: "Wenn wir nicht klar sagen, dass wir dich zurückschicken werden, und dass dieser Kontinent nicht deine Heimat sein wird. Du hast deine eigene Heimat. Das ist unsere Heimat, wir haben sie erbaut. Wir kooperieren gerne mit dir, wir haben Gesetze dafür. Du sollst sie einhalten. Wenn du hierherkommen möchtest, dafür gibt es auch Regeln. Aber es geht nicht, dass du illegal durch den Zaun, über die Grenze kommst, und dass du alles mitnimmst. Wir wissen nicht, woher du kommst, wir kennen deine Absichten nicht, wir kennen deine gesundheitliche Lage nicht, wir wissen nicht, wie du hier leben möchtest. Wir wissen nicht, ob du unsere Kultur akzeptierst. Wenn wir es nicht klarmachen, dass es unmöglich ist und dass es zu Ende gekommen ist, dann werden sie weiterkommen."
Kritik am offiziellen Narrativ
Zsuzsa Zsohar: "Das sind Wirtschaftsflüchtlinge, die wollen ein besseres Leben, sie wollen sich mehrere Tausend Euro Unterstützung im Monat zuziehen, weil Deutschland, Österreich und die Europäische Union so bescheuert sind, dass sie Schmarotzer nur zum Spaß durchfüttern würden. Das waren die offiziellen Narrative, mit denen sie angefangen haben. Und dann stand ich irgendwann mal da, in einer Abendsendung, und habe den Reporter gefragt: Wissen Sie eigentlich, dass es im Nahen Osten mehrere Kriegsgebiete gibt?"
Auch heute regt sich die Frau mit dem dick gewickelten Dutt im Nacken darüber auf, was im Sommer 2015 von der ungarischen Regierung verbreitet wurde. Im Nachhinein freut sie sich, dass sie den öffentlichen Diskurs doch etwas beeinflussen konnte. Als sie zum Beispiel statt des Wortes Flüchtlinge das Wort Asylsuchende verwendet hat, haben Journalisten es aufgegriffen, erzählt sie.
Neben den Freiwilligen wie Zsuzsa Zsohar und ihren Mitstreiter der Gruppe Migration Aid kümmerten sich auch etablierte Menschenrechtsorganisationen um die Hilfesuchenden. So auch das ungarische Helsinkikomitee, das seit mehr als 30 Jahre Asylsuchende betreut und ihnen hilft, das System und ihre Rechte zu verstehen und auch anzuwenden. Das Büro des Komitees ist im dritten Stock eines typischen Budapester Hauses mit Innenhof und offenem Treppenaufgang. Hier arbeitet die Co-Vorsitzende Marta Pardavi.
Ungarn – ein Land mit Flüchtlingstradition
Nach ihrer Erfahrung hat es schon immer Flüchtlinge in Ungarn gegeben, auch größere Gruppen, zum Beispiel zur Zeit der Jugoslawienkriege Anfang der 90er-Jahre. Das habe aber kaum jemand mitbekommen. Auch sie wirft der Regierung Orbán vor, die Flüchtlingssituation für ihre Zwecke missbraucht zu haben. Marta Pardavi spricht über von der Regierung finanzierte Plakatkampagnen mit dem Ziel, die Angst vor den fremden Neuankömmlingen zu schüren.
"Der öffentliche Sender wurde als Propagandamaschine benutzt, die Propaganda als Nachrichten verkaufte", kritisiert sie.
Nach Angaben des europäischen Statistikamts suchten allein in der ersten Jahreshälfte 2015 rund 400.000 Menschen internationalen Schutz in der EU. Nach Berechnungen der Bundeszentrale für politische Bildung 85 Prozent mehr als im Vorjahr.
Als Problem kam hinzu: Die EU-Länder waren in dieser Zeit in der Frage des Flüchtlingsschutzes politisch zerstritten, die rechtlichen und administrativen Kapazitäten waren der hohen Zahl der Schutzsuchenden nicht gewachsen. Das politische Klima in Ungarn war vor fünf Jahren aber noch so, dass sich nicht alle von der Regierungspropaganda beeinflussen ließen, erzählt Marta Pardavi.
"Die Menschen sind hier aufgetaucht und auf einmal war Ungarn damit konfrontiert, wie Flüchtlinge aussehen. Junge Männer, ja, aber auch Familien mit nur einer Plastiktüte. Viele Ungarn wollten dann auch helfen."
Die Menschenrechtsaktivistin zitiert eine Studie, die gezeigt hat, dass die Fremdenfeindlichkeit in den Monaten Juni bis September 2015 in Ungarn sogar abgenommen hat.
"2015 gab es ein Integrationsprogramm, Flüchtlinge bekamen Unterstützung – deshalb haben sie sich eher fürs Bleiben entschieden. Wenn du das Gefühl hast, hier habe ich die Chance auf ein neues Leben, dann versuchst du es", sagt sie.
Die Erfolgsgeschichte des Ringers Amir Sarvari
Und so ist die Geschichte von Amir Sarvari als Erfolgsgeschichte zu verstehen.
Der gebürtige Iraner lebt in einer 2er-WG in Budapest. Er ist vor fünf Jahren aus dem Iran geflohen – Iran ist ein religiöses Land, das dem Scharia-Gesetz folgt. Der 30-Jährige habe nichts gegen den Islam, er sei nur nicht religiös, sagt er. Amir Sarvari sah sein Leben in Gefahr – er hat sein Leben also riskiert, um sein Leben zu verbessern. Und er ist dankbar, dass er es getan hat.
Weil für den legalen Weg keine Zeit blieb, hat sich der damals 25-Jährige zuerst in die Türkei abgesetzt und sich dann Schleppern anvertraut. Die brachten ihn über Bulgarien und Serbien bis nach Ungarn. Unterwegs wurden sie von bulgarischen Polizisten erniedrigt und beraubt. Es regnet, es ist kalt. Amir bekommt in der Dunkelheit einen Zweig ins Auge, zu einem Arzt kann er nicht. Nicht alle in der Gruppe überleben die beschwerliche 20-Tages-Tour. Eigentlich wollte es Amir Sarvari nach Deutschland schaffen, sein Onkel lebt seit 40 Jahren dort. Aber es kam anders, die Polizei erwischte ihn in Ungarn und nahm seine Fingerabdrücke.
Von staatlicher Seite bekommt er wenig Unterstützung, wird von einem Flüchtlingslager ins nächste verlegt: "Sie haben zu uns gesagt: Geht, hier steht ein kostenloser Bus, geht nach Österreich, da habe ich Nein gesagt. Also haben sie mich in ein Containerlager an der Grenze geschickt, bei einem Gefängnis, irgendwo im Nirgendwo. Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben, ich war gebrochen."
Doch er gibt nicht auf. Zugute kommt ihm, dass er Ringer ist, er schafft es sogar zur ungarischen Nationalmannschaft. Das hat wohl auch dazu geführt, mutmaßt er, dass er nach nur vier Jahren die ungarische Staatsbürgerschaft bekommen hat – eine extreme Seltenheit.
Am Bahnhof Keleti erinnert nichts an die Ereignisse
Mittlerweile bin ich mit der damaligen Migration-Aid-Helferin Zsuzsa Zsohar am Bahnhof Keleti angekommen, Budapests Ostbahnhof. Heute zeugt nichts mehr von den Menschenmassen. Der Vorplatz sieht aufgeräumt aus. Die Wand, auf der die Flüchtlinge Botschaften an Bundeskanzlerin Angela Merkel geschrieben hatten, ist hellgrau überstrichen.
Als Bundeskanzlerin Merkel die deutschen Grenzen für die Flüchtlinge in Ungarn geöffnet hatte, war die Arbeit von Migration Aid getan. Eigentlich.
Die Gruppe will, dass Zsuzsa Zsohar weitermacht, sie aber nicht: "Die Gesellschaft dachte, da wir jetzt mit den Freiwilligen ein so großes Problem gelöst haben in der Gesellschaft, wir würden dann wahrscheinlich auch weitere Probleme lösen. Und das ist so ein Wunschdenken. Wir können keine Rentenfrage lösen."
Ihr Einsatz für die Flüchtlinge im Sommer 2015 hat dazu geführt, dass die dreifache Mutter ihr Heimatland verlassen hat. Eine Entscheidung, die sie, wie sie andeutet, nicht ganz freiwillig getroffen hat.
"Ich habe sehr, sehr viel Druck von beiden Seiten bekommen", sagt sie. "Und ich bin, glaube ich, da auch herausgeflohen. Ich habe drei Kinder, und mir wurde nahegelegt, dass ich sie innerhalb von Sekunden verlieren könnte. Und natürlich war das mein wunder Punkt."
Sie lebt jetzt in Österreich, im Burgenland, und hofft, bald die Prüfung zur Gerichtsdolmetscherin zu bestehen. Auf die Frage, ob sie sich mit dem Wissen von heute wieder so entscheiden würde wie im Juni 2015, sagt sie: "Jederzeit, genauso. Ich würde ein bisschen mehr Absicherung holen für alle. Aber, na ja, man wird halt immer hinterher klug."