Ungarns Regierung hat sich "richtig einbetoniert"

Gábor Nemes im Gespräch mit Britta Bürger |
Die Gegengewichte zur Alleinherrschaft einer Partei würden in Ungarn demontiert, kritisiert der Journalist Gábor Nemes. Regierungschef Orbán habe von Stalin gelernt, wie man die eigenen Kader in allen Bereichen unterbringe - doch Ungarn sei "mit Ach und Krach" immer noch eine Demokratie.
Britta Bürger: Ungarn ist und bleibt demokratisch und ein Land der Freiheitskämpfer, so die Worte des Präsidenten Viktor Orbán, dem der Journalist Gábor Nemes vehement widerspricht. Der ehemalige Auslandskorrespondent des ungarischen Rundfunks meint, ein demokratischer Konsens existiere in Ungarn schon lange nur noch auf dem Papier. Darüber wollen wir mit Gábor Nemes sprechen, den ich jetzt in einem Studio der ARD in Madrid erreiche, wo er derzeit als freier Journalist arbeitet. Schönen guten Tag, Herr Nemes!

Gábor Nemes: Guten Tag!

Bürger: Viktor Orbáns Fidesz-Partei versucht, in vielen gesellschaftlichen Bereichen die wichtigsten Posten mit Leuten der Fidesz-Partei zu besetzen. Ein Beispiel, das für viel Kritik gesorgt hat, sind die Medien, die Orbán vollständig unter seine Kontrolle genommen hat, wie aber sieht das in anderen Lebensbereichen aus, Herr Nemes? Geben Sie uns ein paar Beispiele dafür, wie Ungarn derzeit systematisch umgebaut wird.

Nemes: Also alles, was mit dem Staat zu tun hat, ist unter Kontrolle, und manchmal braucht man auch keinen richtigen Mann einzusetzen, es reicht auch die Angst. Und dann, alle richten sich schon entsprechend danach. Aber ich kann zum Beispiel ein Beispiel geben, also ein ganz absurdes zum Beispiel: Es gibt oder gab eine Namenskommission – das ist eine unabhängige Kommission, die über Namensänderungen bei Straßennamen, bei öffentlichen Plätzen achtet –, und da haben sie einmal zufällig eine Entscheidung der Regierung irgendwie beanstandet. Sie haben gesagt, das ist fachlich nicht in Ordnung, einen Namen geben. Da hat man nicht nur die Kommissionsmitglieder zurückgezogen, die also aus dem Staatsdienst waren, sondern sie auch gleich entlassen. Das war ein bisschen lächerlich, weil das wirklich überhaupt kein richtiges politisches Anliegen war, aber die haben sich entgegengesetzt, die haben sich irgendwie nicht gefügt, und das reicht. Und alles ist machbar, das ist das Gefühl, was das Schlimmste ist.

Bürger: Sie haben eben diese Angst angesprochen in der Bevölkerung – auf welche Weise wird die Bevölkerung denn eingeschüchtert, wie macht sich das im Alltag bemerkbar?

Nemes: Ja, also über die Bevölkerung zu reden, das ist ein bisschen gewagt. Ich glaube, das sind Leute, die irgendwie entweder mit dem Staat was zu tun haben, die müssen dann loyal sein, aber wirklich loyal, politisch loyal, nicht sachlich loyal, und dann die, die irgendwie eine wichtige Stellung haben. Ich glaube, dass der Durchschnitts-Ungar davon kaum was merkt. Seine Sorge ist, die Rechnungen zu bezahlen und hat auch riesige Schulden, teilweise Schulden in Devisen, die er womöglich nie bezahlen wird. Aber das Problem ist richtig, dass immer mit juristischen, technischen und organisatorischen Tricks operiert wird. Also ich kann Ihnen solche Beispiele geben: Zum Beispiel es gab zwei Jugendzentren in Budapest, emblematische, wo Jugendmusik gespielt wurde. Das eine haben die geschlossen, dem anderen haben sie die Rechte entzogen, und nun ist es zu, oder es gab auch ein anderes alternatives Kulturzentrum, ohne jede Begründung … Und es ist auch nicht politisch, es ist einfach eine Geschmacksfrage oder auch Frage, das sind nicht unsere Leute, es müssen da unsere Leute kommen.

Bürger: Damit so ein strategischer Plan gelingt, muss es ja ein großes Netz an Zuarbeitern geben, also auch an Denunzianten?

Nemes: Ja, sicher, ich glaube aber, das ist wie bei Brechts Galileis, man soll die Folterinstrumente nur zeigen, man braucht sie nicht anzuwenden. Also wenn die Leute wissen, wo es langgeht, da richten sie sich. Man braucht nicht richtig Macht oder Kraft brutal auszuüben. Ich kann mich sehr genau erinnern, dass die Leute, die die Entlassungspapiere übergeben haben in den Medien, die haben das ohne Weiteres gemacht, und dann am nächsten Tag waren sie, die die Papiere bekommen haben – und die wissen, dass es möglich ist. Ich will es nicht sehr, sehr stark ausmalen, es ist noch immer mit Ach und Krach eine Demokratie, aber eine Demokratie im Zersetzen.

Bürger: Jemand sagte neulich zu mir, die Ungarn seien Experten in Sachen Selbstmitleid. Das klingt etwas hart, aber ist da was dran? Wozu führt Selbstmitleid in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Krisen, lähmt das eine Gesellschaft?

Nemes: Ja, es lähmt nicht nur, sondern auf der anderen Seite mobilisiert in eine sehr gefährliche Richtung, also Ungarn als die ewigen Opfer der Geschichte, und das ist dann die Jobbik, die richtigen Faschisten, die das nicht nur sagen, sondern das auch praktizieren, und sie profitieren davon. Deswegen ist es gefährlich. Diese nationalen Töne, die Orbán anschlägt, die werden ja verstärkt in Ungarn, und da ist es ganz leicht, die Minderheiten sich anzuschauen und sagen, ja, an allem sind, ja, jeder kann sagen, was er will, Zigeuner, Juden, Homosexuelle, wer auch immer, Linke Schuld. Es geht so weit, dass die Demokratie richtig ausgehöhlt wird und nicht nur institutionell, sondern auch so in den Köpfen. Also ich kenne Leute, die es nicht wagen, in der Straßenbahn eine linke Zeitung zu lesen. Vielleicht ist das Unsinn, vielleicht würde nichts passieren, aber sie haben schon Angst.

Bürger: Wohin steuert Ungarn? Darüber sprechen wir hier im Deutschlandradio Kultur mit dem Journalisten Gábor Nemes, der als Auslandskorrespondent des ungarischen Rundfunks unter anderem in Berlin, Peking und zuletzt in Moskau tätig war. In einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung" haben Sie geschrieben, Herr Nemes, dass Sie das Durchgreifen des Staates in sämtlichen Lebensbereichen an russische Verhältnisse erinnere – Sie waren ja bis vergangenen August als Korrespondent in Moskau. Worin unterscheiden sich die vermeintlichen Demokratien Russlands und Ungarns noch?

Nemes: Gut, Ungarn ist aber immer noch ein EU-Land. Ich glaube, dass diese Regierung immer noch abgewechselt werden kann – sehr schwer zwar, sie haben sich richtig einbetoniert mit Gesetzen, mit Verfassung und vor allen Dingen mit den Kadern. Das hat, ich glaube, Orbán von Stalin gelernt, dass die Kader entscheiden immer, aber es ist trotzdem noch so was wie eine Demokratie. Das ist eine andere Sache, dass für mich Orbán kein Demokrat ist.

Bürger: Aber Sie stellen dennoch diesen Vergleich her zu Russland.

Nemes: Ja, aber es ist ein Vergleich, aber ich würde das nicht gleichsetzen. Es gibt immer noch … Also ich würde als russischer Politiker mir bestimmte Dinge nicht erlauben können, die man in Ungarn noch immer erlauben kann. Aber die Gegengewichte, die Checks and Balances, die werden abmontiert, und dann ist es nur eine Frage der Zeit oder eine Frage des entsprechenden Mannes, wem diese Mittel in die Hand fallen, dass man dann auch richtige russische Verhältnisse schaffen kann. Obwohl ich sage wieder, das geht in Ungarn nicht, schon wegen der EU nicht und auch wegen der ganzen wirtschaftlichen Lage. Ungarn ist gerade dabei, für Kredite beim Internationalen Währungsfonds und bei der EU zu betteln, da kann er sich nicht leisten, irgendwie gegen den Wind zu laufen.

Bürger: Die von der EU eingeleiteten Strafverfahren, die sind ja eine deutliche Misstrauenserklärung gegenüber einem EU-Mitglied – wie kommt denn das bei der ungarischen Bevölkerung an?

Nemes: Ja, da habe ich Ängste. Also leider kann man das in den Medien sehr gut ausnutzen und sagen, ja, hier, der Freiheitskampf Ungarns, wir haben zwar verloren, aber wir haben es probiert. Das ist wieder diese Opferrolle: Wir haben alle Freiheitskämpfe immer verloren, aber wir haben es immer wieder probiert, und nun, das kleine heldenhafte Ungarn fällt jetzt also richtig den Heldentod auf dem Schlachtfeld und jetzt kommt das nächste Auferstehen. Ich sage nicht, dass das allgemein ist, aber es sind sehr viele Leute, die so denken. Und dann, die meisten Leute, die wollen einfach nur Ruhe, die wollen einfach nur ihren Alltag meistern, und sie sehen keine großen Alternativen, das ist ja das Problem.

Bürger: Es gibt aber Ansätze von neuen Bürgerbewegungen, auch einer neuen Oppositionsbewegung, die sich Szolidaritas nennt, angeführt von einem ehemaligen Oberstleutnant der ungarischen Armee, Peter Konya heißt der. Was ist das für eine Bewegung, könnte die tatsächlich zu einer Gefahr für die Fidesz-Partei werden?

Nemes: Also diese Bewegung alleine nicht, es gibt aber sehr viele – die wachsen jetzt wieder wirklich wie Pilze aus dem Boden –, sie sind witzig, spontan, aber auch unprofessionell. Also zur politischen Wirkung gehört ein bisschen mehr. Und da müssten doch die richtigen oppositionellen Parteien sich zusammennehmen, aber die sind jetzt nicht nur ohnmächtig, sondern auch zersplittert und untereinander zerstritten, und die Sozialisten, die mal die Wechselpartei waren, die haben so einen Riesenvertrauensverlust, dass es schwer ist, wieder wettzumachen. Zudem sind sie auch noch in zwei Teile zersplittert. Also das Problem in Ungarn ist nicht nur Orbán, das Problem ist auch die Opposition oder dass sie fehlt.

Bürger: Der ungarische Journalist Gábor Nemes. Ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Nemes: Gern geschehen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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