Ungebremste Entdeckungsfreude

Von Bernhard Doppler |
Auch in seinem 31. Jahr hat das Rossini-Festival in Pesaro noch etliche Überraschungen zu bieten. Neben der Rückbesinnung auf das Theater des 19. Jahrhunderts sind es vor allem die Stars auf der Bühne, die durch ihr Können für Begeisterung sorgen.
Die goldenen Anfangsjahre des Festivals scheinen lange zurückliegende Operngeschichte. In den 80er-Jahren sind von Rossinis Geburtsstadt Pesaro wohl die entscheidenden Impulse für eine Neubewertung der italienischen Oper des frühen 19. Jahrhunderts und ihre Wiedereingliederung ins internationale Opernrepertoire ausgegangen.

Wenn auch in den letzten Jahren bisweilen Ermüdungserscheinungen sichtbar wurden, ist dennoch weiterhin – wie die beiden Eröffnungspremieren des 31. Festivals zeigen – die Entdeckungsfreude ungebremst, "Demetrio e Polibio", zum Beispiel, ein Werk, das der nicht einmal 20 Jahre alte und bereits sehr erfolgreiche Komponist für die Sängerfamilie Mombelli geschrieben hat, eine Oper für vier Sänger.

Mutter Mombelli verfasste das Drehbuch, und neben dem Vater und einem weiteren Sänger brillierten seine Töchter, die "Mombelli-Schwestern", zwei Teenager. Rossini hat die Uraufführung nicht gesehen und es erfordert viel kriminalistischen Forscherehrgeiz von der Fondazione Rossini in Pesaro diese Aufführung musikwissenschaftlich zu rekonstruieren. In der Inszenierung von Davide Livermore wird gar nicht erst versucht, die im zweiten Jahrhundert vor Christi im Reich der Parther spielende Handlung zu erzählen, sondern eine amüsante Geisterstunde in einem alten Opernhaus – nach dem Ende einer Vorstellung - beschworen, in dem sich Kerzen unsichtbar bewegen, hinter dem Kostümfundus Gestalten mit Doppelgängern erscheinen, die sich wiederum in unheimlichen Spiegelschränken zeigen.

Nicht selten, dass plötzlich aus den Händen der Figuren Feuerflammen schlagen: Die Geister des Theaters um 1820. Da sich die eigentliche Handlung auf einen familiären Konflikt reduzieren lässt, der von einer legendären Theaterfamilie ausagiert wird, machen die Spiegelungseffekte Sinn. Bis auf wenige Nummern wirkt Rossinis Musik konventionell und nicht unbedingt der Entdeckung wert, Spannung erzeugt sie, wenn Vater Demetrio – sehr überzeugend gesungen von Yijie Shi –vom Sentiment in die Stretta wechselt oder María José Moreno als Tochter Lisegna zu den Waffen greifen will.

Musikalisch äußerst eindrucksvoll hingegen ist die vier Jahre später komponierte Oper "Sigismondo", zu Rossinis Zeiten wenig erfolgreich - einige Nummern daraus sind für spätere Werke, etwa den "Barbier von Sevilla" recycelt worden. Auch hier überrascht das Regiekonzept. Denn Damiano Michieletto erzählt nicht die Geschichte vom polnischen König Sigismund, der aus Eifersucht seine Gattin töten lassen wollte, von Kämpfen und Kriegen in den Schlössern und Wäldern Polens, sondern lässt die Handlung in einem Irrenhaus um 1900 spielen. Mitten unter den Patienten, die von Krankenschwestern betreut, gewaschen, zum Ausgang geführt werden, Besuch bekommen – auch der vom Wahnsinn geplagte König. Die Inszenierung radikalisiert damit ein Interesse, das die Oper – bereits zur Zeit Rossinis – zeigt: ein geradezu klinisches Interesse an Wahnsinn, Traumata, seelischen Lähmungen.

Hamlets Vater mag dafür im Theater Pate gestanden sein; aber die Geister der nicht bewältigten Vergangenheit holen auch die Opernhelden immer wieder ein. Besonders unheimlich und schwermütig, wenn sich zu einer lieblichen Melodie Rossinis einzelne Kranke von ihren Betten erheben und zart, aber ungelenk, die Sänger zu streicheln versuchen. Von oft gebrechlicher nuancenreicher Zartheit, dann wieder im Sog scharf konturierter Ausfälle auch das Orchester des Theaters Bologna unter Michele Mariotti und in den Hauptrollen ein imponierendes Sängertrio – Daniela Barcelona in der Hosenrolle des depressiven, von Angstzuständen geplagten Sigismondo, Antonio Siragusa als oft schneidend klarer Gegenspieler (beide schon lange Stars in Pesaro) und die 2007 dort entdeckte Olga Peretyatko als Ehefrau, von der ihr Gatte im Wahn lebt, dass er sie habe umbringen lassen. Das Rossini-Festival in Pesaro kann also auch noch in seinem 31. Jahr durchaus überraschen.