Ungelöster Konflikt um die Scharia

Rezensiert von Erik von Grawert-May |
Die gesammelten Aufsätze dieser gelehrten Autorin enthalten wichtige Überlegungen zu der Frage, ob sich Partizipation und Menschenrechte in der islamischen Welt durchsetzen können. Auch das Modell einer Mehrparteiendemokratie wird erörtert.
Der Verlag hat recht, wenn er eingangs feststellt, dass dieses Buch ein "Muss" für alle sei, welche die Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern verstehen wollten.

Und so werden wir mitten hineingeführt in die nicht enden wollende Diskussion darüber, ob die Scharia, das göttliche Gesetz des Islam, weiterhin für jeden Muslim privat wie politisch verpflichtend ist, oder ob sich in der islamischen Welt Demokratie und Menschenrechte durchsetzen können und damit die Trennung von Kirche und Staat. Diese Errungenschaften bleiben dort nach wie vor mit dem Stigma behaftet, typisch für das nicht-muslimische westliche Leben zu sein:

"Nicht die Trennung von Kirche und Staat ist das Thema, sondern das Verhältnis von Scharia, öffentlicher Ordnung und individueller Lebensführung. Die Mehrheit (der Muslime) hat Vorbehalte gegen das Prinzip des Säkularismus, weil sie es politisch belastet und befrachtet sieht. Der Konflikt ist somit nicht gelöst, das Thema bleibt aktuell."

Man sieht an den Geschehnissen in Tunesien oder in Ägypten, wie richtig die Autorin mit ihrer Einschätzung liegt. Die Idee der Volkssouveränität, heißt es an anderer Stelle, habe im Islam streng genommen keinen Platz. Doch wird diese Strenge von unterschiedlichen muslimischen Gemeinschaften unterschiedlich gehandhabt.

So spielt in den modernen islamischen Konzepten von Staatlichkeit und guter Regierungsführung das koranische Gebot der shura eine entscheidende Rolle. Es lässt sich als Recht zur Beratung, ja sogar zur Partizipation verstehen und könnte sich als Einfallstor für den Gedanken erweisen, dass das Volk letztlich die bestimmende Kraft ist und die politischen Entscheidungsträger zu wählen hat.

"Die parlamentarische Mehrparteiendemokratie kann demnach als eine zeitgemäße Form von shura gelten, solange sie sich auf dem Boden des Islam bzw. im Rahmen der Scharia bewegt. Selbst die ägyptischen Muslimbrüder verwenden mittlerweile die Formel, im islamischen Staat gehe die Gewalt vom Volke aus."

Wie das Gebot der Partizipation auf den Koran zurückgeht, so wird auch häufig die Idee der Menschenrechte von einer koranischen Sure abgeleitet. Der Koran soll eigentlich Wort für Wort die göttliche Rede wiedergeben. Wörtlich heißt "qur’an" "Lesung" oder "Rezitation". Seine Suren werden nicht einfach zitiert, sondern rezitiert. Es sind nahezu gesungene Verse, deren Rezitativ unterschiedlich ausfallen kann.

Wie in der Musik kommt es zu verschiedenen Interpretationen. Gudrun Krämer verdeutlicht das am arabischen Begriff des "Kalifen", wörtlich "Stellvertreter", der überraschenderweise das muslimische Individuum in seiner Würde hervorhebt.

"Gerade islamistische Theoretiker unterstreichen die religiöse und gesellschaftliche Verantwortung des Einzelnen, die sie aus den koranischen Aussagen ableiten, denen zufolge die Menschen von Gott als seine Stellvertreter oder Treuhänder auf Erden eingesetzt sind. Der arabische Terminus lautet "Khalifa": In diesem Sinn sind alle Menschen "Kalifen" Gottes auf Erden, nicht nur, wie in den klassischen Kalifatslehren, das legitime Oberhaupt der muslimischen Gemeinschaft."

Das trägt fast schon reformatorische Züge. Nicht auszudenken, wenn solche Konzepte in islamischen Staaten mehrheitsfähig werden. Vielleicht sind sie es bereits und haben etwa im Iran den Aufstand gegen das Regime beflügelt, ehe das klassisch legitimierte Kalifat zurückschlug. Vielleicht hat dieses Denken auch die Revolten in den nordafrikanischen Staaten von fern geleitet, vielleicht bewegt es selbst die Syrer, die gegen die Regierung in Damaskus revoltieren.

Über diesen aktuellen und akuten Kampf für die Freiheit erfahren wir in dem vorliegenden Buch nichts - anders als es der Leser erwartet. Der Verlag hat da beim Titel etwas nachgeholfen und ihn aktualisiert. Die Aufsätze, die der Band versammelt, wurden in den Jahren 2003-2009 geschrieben. Doch wenn sie auch keine Aussagen über die aktuellen Kämpfe enthalten, so sind sie doch lehrreicher als es eine Analyse sein könnte, die um Aktualität besorgt ist. Darin liegt der Vorzug der Überlegungen dieser gelehrten Autorin.

Ihre Lektüre ist nur manchmal etwas mühsam, da sich die Artikel vielfach überschneiden - eine leichte Trübung, die jedoch durch die souveräne Handhabung der Materie mehr als ausgeglichen wird.

Gudrun Krämer: Demokratie im Islam. Der Konflikt zwischen Reform und Islamismus in der arabischen Welt
C.H.Beck Verlag, München 2011
Cover Gudrun Krämer: "Demokratie im Islam"
Cover Gudrun Krämer: "Demokratie im Islam"© C.H. Beck
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