Ungenutzter Garten Eden

Von Thomas Kruchem |
Äthiopien ist für viele zum Synonym für Armut, Dürre und chronischen Hunger geworden. Gleichzeitig verfügt das Land über Millionen Hektar Gras- und Waldland. Nur fehlt es an geeigneter Nutzung. Das will die derzeitige Regierung ändern.
Eine in Zacken verlaufende, sechs Meter breite und zwei Meter tiefe Erosionsrinne hat der Regen der letzten Wochen in den Hang gegraben und viel rote Erde mit sich gerissen.

"Jetzt schrägen wir die Kanten der Rinne ab, um das Land wieder nutzbar zu machen", "

sagt schweißgebadet der Bauer Amare Bachy und deutet bergaufwärts.

" "Mit dem Holzpflug, den meine Ochsen ziehen, habe ich dies Jahr auch diesen steilen Hang gepflügt. Früher haben dort meine Ziegen geweidet. Aber jetzt, mit sechs Kindern, muss ich schauen, dass ich wirklich alles Land bebaue. An einigen Stellen habe ich auch Terrassen angelegt. Aber die zertrampelt das Vieh immer wieder."

Eine kleine Herde von Ziegen und Schafen, die es im Moment auf die hellgrün sprießende Gerste Bachys abgesehen haben, kaum beeindruckt vom Peitschenknallen des 11-jährigen Haile. Der Hof Amare Bachys liegt 2.500 Meter hoch außerhalb des Städtchens Dagam im Norden Äthiopiens. Die Berge hier waren dicht bewaldet zur Zeit seines Großvaters, erzählt Bachy. Heute gibt es, bis auf Eukalyptushaine da und dort, keine Bäume mehr; die erst abgeholzten und dann überweideten Berge bluten aus Wunden, die die Erosion geschlagen hat.

Die Landwirtschaft ist der bei Weitem wichtigste Wirtschaftssektor Äthiopiens; der Anbau von Getreide wie Gerste, Weizen, Teff und Mais; von Kartoffeln, Zuckerrohr, Kaffee und dem Rauschmittel Khat erwirtschaftet 45 Prozent des Sozialprodukts und 90 Prozent der Exporte. Doch die Produktivität der äthiopischen Landwirtschaft ist extrem gering. Die meisten Bauern bestellen weniger als einen Hektar steinigen Ackerlands in steiler Hanglage – heute wie vor tausend Jahren, mit Holzpflug und Ochsen; geplagt mal von Dürre, mal von sintflutartigem Regen, von fortschreitender Erosion. Trotzdem ließe sich die Produktivität der Getreideproduktion im Hochland leicht verdreifachen, sagt Mafa Chipeta von der Welternährungsorganisation FAO – und zwar ohne große Investitionen in besseres Gerät oder künstliche Bewässerung.

"Die wichtigsten Voraussetzungen für eine Steigerung der Produktivität liegen auf der Hand: Erstens braucht der Bauer Nährstoffe für seine Pflanzen. Er muss für sein Land geeigneten Dünger zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Menge ausbringen. Dazu muss er sich natürlich den Dünger leisten können. Zweitens braucht der Bauer gutes Saatgut; und das verkörpert in Äthiopien eine größere Herausforderung als die Versorgung mit Dünger. Weniger als fünf Prozent der hierzulande benutzten Saaten sind von solcher Qualität, dass sie aus Dünger Nutzen ziehen können. Das heißt: Der kleine Bauer, der jetzt Dünger kauft, wirft sein Geld in der Regel zum Fenster hinaus – weil seine Pflanzen nicht davon profitieren. Saatgut und Dünger – mit diesen beiden Inputs erzielt der Bauer den höchsten Produktivitätsgewinn. Hinzukommen muss, drittens, in einem Land wie Äthiopien, ein Getreidemarkt, der die Bauern für ihren Fleiß belohnt, wo also nicht bei guter Ernte die Preise kollabieren. Der Staat muss folglich in geeigneter Weise am Markt intervenieren. Viertens schließlich braucht der Bauer Zugang zu Krediten – dies aber nur in geringem Maße, wenn der Markt funktioniert. Wer gutes Geld für sein Produkt bekommt, ist weniger abhängig von Krediten."

Die große Frage: Wie bekommt man diese Heilmittel für die Landwirtschaft zu den zig Millionen Bergbauern Äthiopiens? Es gibt nur wenige qualifizierte Agrarberater, die Bauern helfen können, Saatgut und Dünger wirklich nutzbringend einzusetzen; und 70 Prozent der Bauern leben mehr als fünf Kilometer entfernt von der nächsten Straße. Wie sollen Dünger, Saatgut und Beratung zu ihnen gelangen, wie ihre Produkte zum nächsten Markt? – Gewaltige Herausforderungen, mit denen sich die Regierung und internationale Hilfsorganisationen seit Jahrzehnten herumplagen. Organisationen wie die "Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit", GTZ. In Modellprojekten hat, zum Beispiel, GTZ-Experte Winfried Zarges Bauern erklärt, wie man Terrassen anlegt und landwirtschaftlich nutzt.

Und wenn heute die kahlen Berge hinabstürzende Fluten Erosionsrinnen in die Hänge reißen, machen Bauern wie der eingangs erwähnte Amare Bachy aus der Not eine Tugend.

Winfried Zarges: "Wir machen aus vielen Gullys, aus Erosionsrinnen heraus Bewässerung. Weil das Wasser dann ganzjährig zur Verfügung steht, statt schnell abzulaufen, wird es im Boden gespeichert, steht ganzjährig zur Verfügung. Und damit kann man auch bewässern. Aber das Entscheidende davor ist, dass Terrassen gebaut werden. Bei den steilen Hanglagen, die wir hier haben, und der quasi nicht mehr existierenden Bewaldung fließen bei jedem Regen riesige Mengen an fruchtbarer Erde weg. Es geht darum, die fruchtbare Erde zu halten und damit auch die Infiltration von Wasser zu erhöhen und damit ganzjährig Wasser zur Verfügung zu haben."

Terrassen, Gully-Sanierung, Bewässerung mittels kleiner Dämme und Flussumleitungen – viele Milliarden Euro hat die internationale Not- und Entwicklungshilfe in den letzten Jahrzehnten investiert, um im Hochland Äthiopiens, wo die meisten Äthiopier nun mal leben, die Verschlechterung der Böden zu bremsen und so Ernährungssicherheit zu erhöhen. Doch der Erfolg blieb insgesamt deprimierend gering: Die Produktivität der Landwirtschaft ist kaum gestiegen, während sie sich in anderen Entwicklungsländern dramatisch erhöhte; nur, weil die Bauern nun auch die letzten Steilhänge unter den Pflug nehmen, fällt die Produktion noch nicht hinter das Bevölkerungswachstum zurück. FAO-Mann Chipeta bezweifelt denn auch, dass verbissene Bemühungen um die Landwirtschaft im Hochland Ernährungssicherheit schaffen können in Äthiopien:

"Ich glaube nicht, dass solche Bemühungen Schritt halten können mit dem Wachstum des Problems. Nur wenn wir den Bevölkerungsdruck auf das Land reduzieren und Bauern ermutigen, in weniger besiedelte Regionen zu ziehen, können wir dies Problem in den Griff bekommen. Zweitens glaube ich nicht, dass Äthiopien als ein Land mit chronisch zu wenig Geld den Löwenanteil seines Agrarbudgets in Land investieren sollte, dass schon degradiert ist."

Den Bevölkerungsdruck reduzieren – obwohl die bitterarmen Bauern bis heute in möglichst vielen Kindern ihre Altersversorgung sehen; obwohl bis heute wenige Menschen in die Städte ziehen, wo es kaum Arbeitsplätze gibt. Bliebe der Umzug von Millionen Bauern in weniger besiedelte Regionen Äthiopiens, die es – was viele hierzulande nicht wissen – in großer Menge gibt. Millionen Hektar fruchtbaren Gras- und Waldlandes im Tiefland des Südens – genutzt bislang nur von wilden Tieren und Nomaden. Äthiopiens Regierung versucht seit 2002, junge Bauern ins Tiefland umzusiedeln, bietet ihnen ein bis zwei Hektar Land an und allerlei Hilfe beim Existenzaufbau. Doch nur 400.000 Hochlandbewohner waren in den vergangenen acht Jahren bereit, ins schwül-heiße und malariabelastete Tiefland umzuziehen – während zugleich die Hochlandbevölkerung um zehn Millionen Menschen wuchs. Kein Wunder, dass die Regierung das Tiefland nun erst recht erschließen will.

"Äthiopien nutzt bis heute weniger als 20 Prozent seiner potenziellen Anbauflächen", sagt Demese Chanyalew, Agrarberater der Regierung. "Mit unserem Tiefland könnten wir ganz Afrika ernähren und Milliarden Euro an Devisen einnehmen." Zur Erschließung im großen Stil jedoch bedarf es gewaltiger Investitionen, die – so sagt Chanyalew – vor allem aus dem Ausland kommen sollen:

"Die Regierung will Investitionen in Tieflandregionen mit viel ungenutztem Land. Hier hat sie Infrastruktur wie Straßen und Stromversorgung bereitgestellt; und das Landwirtschaftsministerium hat Flächen identifiziert, die eine speziell dafür gegründete Behörde jetzt potenziellen Investoren offeriert."

Mit Anreizen wie günstigen Krediten, Steuerfreiheit für mehrere Jahre und der Erlaubnis, Produktionsmittel zollfrei zu importieren sowie alle Produkte zu exportieren. 3,3 Millionen Hektar hochwertigen Pachtlandes hat die Regierung für die nächsten Jahre bereitgestellt; mindestens eine Million Hektar sind bereits vergeben – an Investoren vor allem aus Indien, China und dem Mittleren Osten. Allein indische Firmen sollen inzwischen Verträge über Agrarinvestitionen von 4,2 Milliarden Dollar abgeschlossen haben, darunter einen Pachtvertrag über 300.000 Hektar. Ein saudiarabischer Investor gab kürzlich bekannt, er werde in Westäthiopien eine Million Tonnen Reis pro Jahr produzieren und exportieren; eine Gruppe europäischer Investoren will mit hohem Kapitaleinsatz Rinderfarmen aufbauen und Milch in den Mittleren Osten exportieren.

"Alle Verträge richten sich nach unseren Gesetzen", " sagt Regierungsberater Chanyalew. " "Wir halten uns hier an drei wichtige Prinzipien: Erstens wird bereits besiedeltes Land nur gegen eine angemessene Entschädigung an Investoren vergeben. Zweitens wird Land, auf dem bereits Infrastruktur in Form zum Beispiel von Bewässerungskanälen existiert, bevorzugt an äthiopische Investoren vergeben. Große Flächen schließlich, die noch erheblicher Investitionen bedürfen, werden vor allem an ausländische Investoren vergeben."

Genaueres über die Arrangements zwischen Investoren und Regierung wird selten bekannt, weil im autoritär regierten Äthiopien sämtliche Verträge hinter verschlossenen Türen unterschrieben werden. Verträge, die FAO-Experte Mafa Chipeta grundsätzlich begrüßt:

"Investitionen aus dem Ausland haben für Äthiopien folgende Vorteile: Erstens zählt Äthiopien zu den Ländern, die sehr stark von internationaler Nahrungsmittelhilfe und Nahrungsmittelimporten abhängen. Nun gibt es Nahrungsmittelhilfe für die Ärmsten in vielen Ländern – auch in Europa und den USA. Diese Hilfe jedoch stammt in der Regel aus dem betroffenen Land. Arme, die nicht arbeiten können oder wollen, werden von ihrer Gesellschaft unterstützt – mit Getreide, das die eigene Landwirtschaft produziert. Im Falle Äthiopiens jedoch wird Nahrungsmittelhilfe über oft 6.000 Kilometer hierher transportiert – aus den USA, Kanada oder Australien. Neue große Plantagen hier könnten das ändern, indem sie in Äthiopien Getreide für ganz Ostafrika produzieren. Das würde im Lande Jobs schaffen und zu einer enormen Kostenersparnis führen. Hinzukommt, dass große Plantagen die Handelsbilanz Äthiopiens enorm verbessern könnten. Dies Land exportiert auch in guten Jahren Waren von nicht mehr als zwei Milliarden Dollar jährlich; es importiert aber Not-und Entwicklungshilfe in Höhe von sechs bis sieben Milliarden Dollar. Darin, diese Bilanz dauerhaft zu verbessern, sehe ich eine wichtige Aufgabe großer kommerzieller Farmen."

Dessen ungeachtet stellen immer mehr Äthiopier Fragen. "Ist es nicht absurd", fragen manche, "dass Äthiopien zugleich Getreide exportiert und Nothilfegetreide importiert?" Das werde nicht auf Dauer so sein, meint der FAO-Mann.

"Schauen Sie sich Äthiopien an: Dies Land importiert Reis aus Vietnam; es importiert Weizen aus Iowa und Kanada. Jeder Besitzer einer Plantage hier wäre dumm, würde er nicht versuchen, solche Importe durch seine Produkte zu ersetzen. Davon abgesehen produziert keine Plantage ausschließlich Getreide von exportwürdiger Qualität. Es gibt immer einen gewissen Anteil, der lokal verkauft werden muss, weil die Transportkosten zu hoch sind für den Export. Ein erheblicher Anteil des Getreides, das ausländische Investoren hier produzieren, dürfte folglich in Äthiopien verbleiben."

Kritische Äthiopier stellen weitere Fragen: "Welche Auswirkungen", fragen sie "haben riesige Plantagen – mit ihrem hohen Wasser-, Dünger- und Pestizidverbrauch – auf das Grundwasser im Tiefland, welche auf die reiche Tier- und Pflanzenwelt dort? Schaffen die Investoren Jobs in Äthiopien? Oder entwurzeln sie, stattdessen, Nomaden und Waldbewohner?"– Zu den Wenigen, die solche Fragen auch in der Öffentlichkeit stellen, zählt Million Delay, Leiter der Organisation "Melca Mahiber", die Kultur und Umwelt kleiner äthiopischer Völker zu schützen versucht. Delay berichtet über zunehmende Konflikte im Tiefland des Südwestens; über Konflikte zwischen Investoren und Vieh hütenden Nomaden, denen kilometerlange Zäune jetzt die Weidewege abschneiden. Er berichtet von wandernden Antilopenherden, die angesichts der Zäune nicht mehr wissen, wohin; von Elefanten, die – verschreckt von Traktorenlärm – ganze Dörfer niedertrampeln. Million erzählt vom Volk der Shakicho, das in den Wäldern des Bezirks Sheka lebt, ganz im Südwesten Äthiopiens.

"Diese Region ist ein grünes Paradies – voller Bäume mit weit ausladenden Wipfeln; voller Antilopen, Löwen und Leoparden. Und der für diese Region typische weiße Honig schmeckt einfach fantastisch. Für die Menschen dort sind übrigens viele Bäume Heilige; ihre Guddu, Deto und Checho rühren sie nicht an. Und, ich sage Ihnen: Der Wald von Sheka ist unbeschreiblich schön. Wenn du die Augen schließt, versinkst Du im Gesang zahlloser Vögel. Ein wunderbarer Ort, wo die Menschen stets in Harmonie mit dem Wald gelebt haben."

Schwärmerisch wirkende Worte, zu denen Kasahun Kakilo immer wieder nickt – ein junger Shakicho, der in Addis Abeba studiert:

"Die Menschen meines Volkes leben von und mit dem Wald, indem sie jagen, Honig sammeln und Tiere halten. Von diesen mehr als 10.000 Menschen bin ich beauftragt, den Präsidenten Äthiopiens und das Amt für Umweltschutz auf unsere Situation aufmerksam zu machen."

Eine Situation, die vor einigen Jahren wie ein Gewitter hereinbrach über die Shakicho. Abgesandte einer großen Firma und der Regierung versammelten ein paar Stammesälteste, versprachen ihnen Straßen, Gesundheitsstationen, Arbeitsplätze und Schulen und ließen sie ein Papier unterschreiben. Ein paar Wochen später kamen Bulldozer, die den Wald der Shakicho niederrissen und den Boden bereiteten für eine tausend Hektar große Teeplantage. Viele Shakicho strandeten in der Stadt; wer blieb, überlebt als Teepflücker.

"Die Menschen dort sind eigentlich nur noch Sklaven. Ihr Lohn liegt weit unter dem äthiopischen Durchschnittslohn für Landarbeiter. Mit dem Sammeln und dem Verkauf von Honig haben sie früher weit mehr verdient als heute mit der Arbeit auf der Teeplantage. Auch sonst hat die Plantage der Region nichts gebracht – keine Verbesserung landwirtschaftlicher Technologie, weil lokale Bauern mit der Technik der Plantage absolut nichts anfangen können; keinen wirtschaftlichen Nutzen, weil die Plantage ihre Produkte unverarbeitet exportiert."

Die Shakicho haben alles verloren: ihre wichtigste Einnahmequelle, die Bienenstöcke; ihre heiligen Bäume, die Guddu und Deto, unter denen sie sich zu versammeln pflegten.

"Als mit der Anlage der Teeplantage die traditionellen Versammlungsorte der Shakicho zerstört wurden, vernichtete das zugleich die Spiritualität der Menschen. Streit um alles Mögliche begann unter den Menschen zu wuchern – weil keine heiligen Stätten mehr existierten, an denen man traditionell Konflikte beigelegt hatte. Inzwischen verfällt die Gesellschaft der Shakicho zusehends. Der Stammesführer ist zum Trunkenbold geworden; die Plantage hat Fremde in die Gegend gebracht, Kneipen und Bars; Vergewaltigung und Diebstahl greifen um sich."

In einer an das Gebiet der Shakicho angrenzenden Waldregion, berichtet Delay, will jetzt eine indische Firma auf 5000 Hektar Tee anbauen. Diesmal jedoch wollen sich die Waldbewohner wehren.