Ungewöhnlicher Identitätswechsel
Es ist die Geschichte eines ungewöhnlichen Identitätswechsels: Ein israelischer Soldat verliert das Gedächtnis und lebt als Palästinenser weiter. Hubert Haddads gerade auf Deutsch erschienener Roman "Falastin" - arabisch für "Palästina" - führt mitten hinein in den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, in den Alltag im Westjordanland zwischen Checkpoints, Schikanen, Siedlern und Besatzern.
Der israelische Soldat Cham steht im Mittelpunkt des Romans "Falastin". Schon auf dem Weg in den Urlaub und ohne Papiere gerät er in einen palästinensischen Überfall. Er wird schwer verletzt (ohne dass nach ihm gesucht würde) und schließlich von einer blinden palästinensischen Witwe und ihrer Tochter Falastin gepflegt. Cham nimmt die Identität von Falastins verstorbenem Bruder Nessim an, dem er verblüffend ähnlich sieht.
"Die Transformation ist eine einfache Sache. Er ist verletzt, verliert das Gedächtnis und von da an ist er alle Menschen. Ohne Gedächtnis sind wir alle (und nicht jemand). Entscheidend wird, was ihm entgegenkommt, die Gesichter derjenigen, die ihn pflegen: Falastin und ihre blinde Mutter Asmahane, Palästinenser. Sie leben isoliert, der Vater starb bei einem Attentat. Falastin hat sich in eine Erwartung verstiegen, in eine Verrücktheit, die man bei jungen Menschen und ihrer Suche nach Absolutheit oft trifft. Ihr ist der Tod ständig gegenwärtig, selbst in ihrer Hoffnung. Wie manche Mystiker hat sie vor nichts Angst."
Chams Weg – Verletzung, Todesnähe, Gedächtnisverlust – und seine Wiederauferstehung als ein anderer, als Nessim: Das hat im Mittelmeerraum wohl bekannte mythologische Dimensionen. Er nimmt wahr, was er um sich herum sieht. Und diese Realität ist grausam; von Willkür, Ungerechtigkeit und Gewalt geprägt, voller Verzweiflung, trauriger Erinnerungen.
"Er lernt ihr Unglück kennen und identifiziert sich mit den Menschen, die ihn angenommen haben. Für mich ist Identität nur ein Abwehrmechanismus. Identitäten machen es unmöglich zu erkennen, dass wir uns nur um Nuancen voneinander unterscheiden, nicht strukturell. Wie kann man sich von identitätsstiftenden Restriktionen und Vorgaben einsperren lassen? Für mich ist das eine Art Verrücktheit. Kultur ist zur Öffnung da! Und solange die Juden noch umherirrten ohne Land, da war die Zeit und nicht der Raum entscheidend für sie."
Amnesie und Gedächtnisverlust sind mehr und grundsätzlicher als nur eine individuelle Diagnose. Wenn Hubert Haddad sich gegen alle Fundamentalismen ausspricht und zugleich seinen Protagonisten in die Hinterzimmer von Selbstmordattentätern begleitet – ohne Israel und seine Existenzberechtigung auch nur in Frage zu stellen – so liegt das auch in der Biographie des 1947 in Tunesien Geborenen begründet.
"Ich komme aus dem Exil, aus der Überschneidung vieler Kulturen: Mein Vater ist jüdischer Berber aus dem arabischen Tunesien, meine Mutter Algerierin mit marokkanischen Großeltern. Als Kind fand ich mich in einem Frankreich wieder, das war damals – kurz vor dem Algerienkrieg - nicht gerade angenehm.
Außerdem wollte in der Familie niemand über die Vergangenheit sprechen. Das Arabische wurde uns verboten und schaute doch überall hervor! Es gab jede Menge Brüche und Unverständliches. Die Vorstellung, sich wiederfinden zu wollen in der fernen Vergangenheit oder in Traditionen – ob bei Palästinensern, Juden oder Zigeunern – mir ist das völlig nachvollziehbar, wie man aus Nacktheit und Ungerechtigkeit so weit kommen kann. Auch wenn das von meinem Standpunkt aus eine völlige Verirrung darstellt."
In der Literatur sucht Hubert Haddad sich den widersprüchlichen und niemals eindeutigen Konstellationen zu nähern. Da stehen Alltagsbeobachtungen und zeitgeschichtlich untermauerte Episoden aus dem Westjordanland neben Erinnerungen, neben poetischen, unglaublich dichten Bildern, genauen Erkundungen von Gefühlen und Innenwelten. Der Blick auf die Tatsachen – statt Leugnung – und die Empathie für die "Opfer" des Konflikts haben in der arabischen Welt für Aufmerksamkeit gesorgt.
"Auf jüdischer Seite besteht ein Unbehagen. Dennoch auch der Wille zur Diskussion. Manche, die mir nahe stehen, hat es auch aufgeweckt und ihnen etwas bewusst gemacht. Sie stellen sich jetzt wenigstens Fragen."
Was er denn von den in den vergangenen Tagen durchgesickerten Verbrechen der israelischen Armee in Gaza halte, den willkürlichen Erschießungen von Zivilisten, den mutwilligen Aktionen, von denen Soldaten mittlerweile berichten:
"Das hat mich ungeheuer traurig gemacht. Es ist einfach katastrophal, wozu die Staatsmacht in Israel fähig ist. Das nimmt eine selbstmörderische Wendung. Mein Roman ist ein bis zwei Jahre früher entstanden und ich möchte damit auf israelischer und palästinensischer Seite und auch überall sonst in der Welt Menschen ansprechen, die sich für den Frieden einsetzen.
Wenn man so einen Roman schreibt, dann ändert man sich auch währenddessen, man reiht ja keine Thesen auf. Fiktion ist etwas anderes als ein Pamphlet. Ich wusste nicht, dass ich eine Art antiker Tragödie schreiben würde, wo die Psychologie keine allzu große Rolle spielt. Da kreuzen sich menschliche Wege in einer bestimmten historischen Situation, die ihre Spuren hinterlässt, sich eingräbt und – etwas Tragisches hat. Anders hätte ich darüber nicht schreiben können. Man versucht ja immer, etwas zu verstehen, wenn man einen Roman schreibt."
"Die Transformation ist eine einfache Sache. Er ist verletzt, verliert das Gedächtnis und von da an ist er alle Menschen. Ohne Gedächtnis sind wir alle (und nicht jemand). Entscheidend wird, was ihm entgegenkommt, die Gesichter derjenigen, die ihn pflegen: Falastin und ihre blinde Mutter Asmahane, Palästinenser. Sie leben isoliert, der Vater starb bei einem Attentat. Falastin hat sich in eine Erwartung verstiegen, in eine Verrücktheit, die man bei jungen Menschen und ihrer Suche nach Absolutheit oft trifft. Ihr ist der Tod ständig gegenwärtig, selbst in ihrer Hoffnung. Wie manche Mystiker hat sie vor nichts Angst."
Chams Weg – Verletzung, Todesnähe, Gedächtnisverlust – und seine Wiederauferstehung als ein anderer, als Nessim: Das hat im Mittelmeerraum wohl bekannte mythologische Dimensionen. Er nimmt wahr, was er um sich herum sieht. Und diese Realität ist grausam; von Willkür, Ungerechtigkeit und Gewalt geprägt, voller Verzweiflung, trauriger Erinnerungen.
"Er lernt ihr Unglück kennen und identifiziert sich mit den Menschen, die ihn angenommen haben. Für mich ist Identität nur ein Abwehrmechanismus. Identitäten machen es unmöglich zu erkennen, dass wir uns nur um Nuancen voneinander unterscheiden, nicht strukturell. Wie kann man sich von identitätsstiftenden Restriktionen und Vorgaben einsperren lassen? Für mich ist das eine Art Verrücktheit. Kultur ist zur Öffnung da! Und solange die Juden noch umherirrten ohne Land, da war die Zeit und nicht der Raum entscheidend für sie."
Amnesie und Gedächtnisverlust sind mehr und grundsätzlicher als nur eine individuelle Diagnose. Wenn Hubert Haddad sich gegen alle Fundamentalismen ausspricht und zugleich seinen Protagonisten in die Hinterzimmer von Selbstmordattentätern begleitet – ohne Israel und seine Existenzberechtigung auch nur in Frage zu stellen – so liegt das auch in der Biographie des 1947 in Tunesien Geborenen begründet.
"Ich komme aus dem Exil, aus der Überschneidung vieler Kulturen: Mein Vater ist jüdischer Berber aus dem arabischen Tunesien, meine Mutter Algerierin mit marokkanischen Großeltern. Als Kind fand ich mich in einem Frankreich wieder, das war damals – kurz vor dem Algerienkrieg - nicht gerade angenehm.
Außerdem wollte in der Familie niemand über die Vergangenheit sprechen. Das Arabische wurde uns verboten und schaute doch überall hervor! Es gab jede Menge Brüche und Unverständliches. Die Vorstellung, sich wiederfinden zu wollen in der fernen Vergangenheit oder in Traditionen – ob bei Palästinensern, Juden oder Zigeunern – mir ist das völlig nachvollziehbar, wie man aus Nacktheit und Ungerechtigkeit so weit kommen kann. Auch wenn das von meinem Standpunkt aus eine völlige Verirrung darstellt."
In der Literatur sucht Hubert Haddad sich den widersprüchlichen und niemals eindeutigen Konstellationen zu nähern. Da stehen Alltagsbeobachtungen und zeitgeschichtlich untermauerte Episoden aus dem Westjordanland neben Erinnerungen, neben poetischen, unglaublich dichten Bildern, genauen Erkundungen von Gefühlen und Innenwelten. Der Blick auf die Tatsachen – statt Leugnung – und die Empathie für die "Opfer" des Konflikts haben in der arabischen Welt für Aufmerksamkeit gesorgt.
"Auf jüdischer Seite besteht ein Unbehagen. Dennoch auch der Wille zur Diskussion. Manche, die mir nahe stehen, hat es auch aufgeweckt und ihnen etwas bewusst gemacht. Sie stellen sich jetzt wenigstens Fragen."
Was er denn von den in den vergangenen Tagen durchgesickerten Verbrechen der israelischen Armee in Gaza halte, den willkürlichen Erschießungen von Zivilisten, den mutwilligen Aktionen, von denen Soldaten mittlerweile berichten:
"Das hat mich ungeheuer traurig gemacht. Es ist einfach katastrophal, wozu die Staatsmacht in Israel fähig ist. Das nimmt eine selbstmörderische Wendung. Mein Roman ist ein bis zwei Jahre früher entstanden und ich möchte damit auf israelischer und palästinensischer Seite und auch überall sonst in der Welt Menschen ansprechen, die sich für den Frieden einsetzen.
Wenn man so einen Roman schreibt, dann ändert man sich auch währenddessen, man reiht ja keine Thesen auf. Fiktion ist etwas anderes als ein Pamphlet. Ich wusste nicht, dass ich eine Art antiker Tragödie schreiben würde, wo die Psychologie keine allzu große Rolle spielt. Da kreuzen sich menschliche Wege in einer bestimmten historischen Situation, die ihre Spuren hinterlässt, sich eingräbt und – etwas Tragisches hat. Anders hätte ich darüber nicht schreiben können. Man versucht ja immer, etwas zu verstehen, wenn man einen Roman schreibt."