"Unglaubliches Grenzgängertum"
Wie nur wenig andere Schauspielerinnen habe Susanne Lothar die Fähigkeit gehabt, extreme Rollen spielen zu können. Dabei habe sie eine Resolutheit an den Tag gelegt, mit der sie vielleicht auch ihre innere Verzweiflung überspielen wollte, sagt die Berliner Journalistin Christiane Peitz.
Britta Bürger: Gestern Abend kam die überraschende Nachricht vom Tod der Schauspielerin Susanne Lothar. Fast auf den Tag genau ist es fünf Jahre her, dass sie von ihrem Mann Ulrich Mühe Abschied nehmen musste, ein Schock, der sie aus der Lebensbahn geworfen hat. Und doch hat sie danach erneut Kraft gefunden und großartige Rollen gespielt, in Stephen Daldrys "Der Vorleser", Michael Hanekes "Das weiße Band" und zuletzt in Hanna Dooses, gerade beim Münchener Filmfest mehrfach ausgezeichneten Film "Staub auf unseren Herzen". Wer immer mit Susanne Lothar zu tun gehabt hat, ist von dieser Nachricht geschockt, so auch ihr Schauspielkollege und Freund Ulrich Tukur.
O-Ton Ulrich Tukur: Ulrich Tukur zum Tod von Susanne Lothar auf Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio) Sie war eine extreme Theaterschauspielerin, sie war eine große Theaterschauspielerin und ich habe irrsinnig gerne mit ihr gespielt. Es war immer sehr viel Verzweiflung in dem, was sie gemacht hat. Also, ich glaube, da war sehr viel Angst und sehr viel Verzweiflung in ihrem Leben vorhanden, und das hat sie versucht, natürlich, irgendwie auf der Bühne … Das hat sie, diese Energie, die sie in sich hatte, diese dunkle Energie, die hat sie natürlich wunderbar umgesetzt … Aber sie war nicht glückvoll - im Leben. Auf der Bühne war sie toll, aber im Leben hat es nicht funktioniert. Und das macht mich gerade richtig traurig. Das eigentlich Wichtige ist, mit dem Leben zurande zu kommen, das ist ja die große Kunst, die Lebenskunst. Und ich sehe so viele, die sich auf der Bühne verglühen und großartig sind, und im Leben dann einfach nicht mehr zurande kommen und vielleicht auch deshalb so großartig auf der Bühne sind.
Brüger: Der Schauspieler Ulrich Tukur zum überraschenden Tod der Schauspielerin Susanne Lothar. Wir wollen weiter an sie erinnern im Gespräch mit Christiane Peitz, Filmkritikerin und Feuilletonchefin des Berliner "Tagesspiegels", guten Morgen, Frau Peitz!
Christiane Peitz: Guten Morgen!
Bürger: Susanne Lothar hat immer wieder extreme Frauenrollen gespielt, Ulrich Tukur sprach eben gerade von dieser dunklen Energie. Die war ja besonders stark zu spüren in den Filmen von Michael Haneke, "Die Klavierspielerin", "Das weiße Band" und vor allem "Funny Games". Wie zeigten sich darin, welche psychischen Abgründe hat sie darin ausgelotet?
Peitz: Sie sprachen ja eben bei der Anmoderation auch von dem Raubtier. Und natürlich war sie ein Raubtier, was man leicht unterschätzte, eben weil sie so fragil wirkte, so dünn, fast dürr war, knochig, kantig, zerbrechlich. Und deshalb sah man auf den ersten Blick manchmal diese Entschiedenheit nicht, auch diese Resolutheit, mit der das, was Ulrich Tukur eben auch erzählte, von ihr auch dann eben oft in einem guten Sinne, in einem sehr starken Sinne überspielt wurde. Das war so ein bisschen ihre Qualität.
Und eben bei Michael Haneke in "Funny Games" spielte sie eben diese ganz brutal schikanierte Ehefrau an der Seite von Ulrich Mühe, der dann schon zerschlagen wurde von diesen Gangstern, die da dieses Ferienhaus heimsuchen und dieses Ehepaar drangsalieren. Sie spielte in "Das weiße Band", ebenfalls von Michael Haneke, diese gedemütigte Geliebte und hat aus diesem fast masochistischen, aus dieser masochistischen Figur eben auch so eine starke Figur gleichzeitig gemacht. Also, sie spielte immer diese zähen, diese, man sagt dann immer gerne, sie spielte die Opfer, aber das ist vollkommen falsch, weil diese Opfer so eine Stärke hatten und so eine Resolutheit hatten. Auch in ihrer Stimme, die ja eher eine leise, weiche, gebrochene Stimme auf den ersten Eindruck hin war, aber dann eben so was Scharfes auch hatte. Also, da hörte man immer so ein bisschen auch den Abgrund, der da sozusagen übertönt werden sollte. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sie jedenfalls nach dem Tod von Ulrich Mühe dann sehr häufig Mütter gespielt hat und dabei den Mut hatte, nicht unbedingt die sympathischen Mütter zu spielen.
Bürger: Und auch nicht die Schönen, auch Mut zur Hässlichkeit …
Peitz: … auch nicht die Schönen, also, diesen Mut zur Kantigkeit, auch verhärmte Frauen, Unsympathinnen zu spielen. Aber das tut sie so auch nicht in jetzt großen Solorollen, wo sie allein einen Film dominiert, wie zum Beispiel Nina Hoss es tut in Filmen, aber in sehr prägnanten Nebenrollen, die man dann so schnell nicht mehr vergisst und die einen auch so schaudern machen. Ich denke da zum Beispiel an die Mutter von Gudrun Ensslin, die sie in Andres Veiels RAF-Drama "Wer wenn nicht wir" gespielt hat, das ist so eine typische Rolle. Und auch beim "Vorleser" von Stephen Daldry, den Sie schon erwähnten, spielte sie ja so eine verhärmte Mutter.
Bürger: Starke Nebenrollen im Film, sagen Sie, aber natürlich auch starke Hauptrollen am Theater. Sie war nur anderthalb Jahre auf einer Schauspielschule, dann haben sie schon die besten der besten Regisseure entdeckt und ein Auge auf sie geworfen, Peter Zadek, Luc Bondy, später dann eben kamen noch andere dazu. Welcher dieser Regisseure, meinen Sie, hat ihr Potenzial am stärksten erfasst, aber vielleicht auch am stärksten ausgeschöpft?
Peitz: Das war natürlich mit Sicherheit Peter Zadek. Berühmt, denke ich mal, wurde sie dann mit der "Lulu" im Hamburger Schauspielhaus, 1988, 89 war das. Zadek hatte einen, wie ich finde, grandiosen Regieeinfall, nämlich er stellte diese Lulu fast das ganze Stück über nackt oder fast nackt auf die Bühne, und das ist natürlich ein unglaubliches Grenzgängertum, was eine Schauspielerin da leisten muss, ein Kraftakt, den sie ganz toll gemacht hat. Also, sie war das Mädchen und die Femme fatale gleichzeitig, das ist ja das, was diese Wedekindsche Monstre-Tragödie so auszeichnet, dass das beides gleichzeitig ist. Und das hat man auch, ist auch so eine Figur, die man nicht mehr vergessen hat. Ähnlich war es dann natürlich mit Sarah Kane, "Gesäubert", auch das unter Regie von Peter Zadek.
Bürger: Sie suchte nach Regisseuren, die ihr mit Röntgenblicken bis auf die Knochen schauen, hat sie mal gesagt. Hat sie uns dann wiederum so eine Art Röntgenbild gezeigt, hat sie ihre Figuren wirklich durchleuchtet?
Peitz: Ich glaube, das ist sehr ambivalent. Also, weil, gleichzeitig haben ihre Figuren ja auch etwas Gepanzertes, etwas, was sich verschließt. Es ist nicht so, dass sie so jemand ist, der einfach seine Seele, sein Herz auf die Bühne packt und sich öffnet, sondern das ist immer etwas, was sich verschließt und aber auf eine Weise verschließt, auf eine Weise maskiert ist, dass man das, was hinter der Maske sich verbergen möchte, doch immer auch wahrnehmen konnte und sehr eindrücklich wahrnehmen konnte.
Bürger: Nach dem plötzlichen Tod der Schauspielerin Susanne Lothar erinnern wir hier im Deutschlandradio Kultur an sie im Gespräch mit der Filmkritikerin Christiane Peitz, Feuilletonchefin beim Berliner "Tagesspiegel". Fast auf den Tag genau ist es fünf Jahre her, dass Susanne Lothars Mann gestorben ist, der Schauspieler Ulrich Mühe. Mit ihm hat sie 17 Jahre lang intensiv gelebt und gearbeitet, auch zwei gemeinsame Kinder. Hören wir noch mal den Schauspieler Ulrich Tukur, der sich an die beiden erinnert:
O-Ton Tukur: Sie waren beide, muss ich sagen, beide verzweifelte Menschen. Uli auch ganz tief verzweifelt, hochgradig begabt, mit so viel Fantasie und so viel Sehnsucht wie auch Suse, und beide haben irgendwie nur halb im Leben Fuß gefasst. Und Suse hat es halt geschafft mit Uli. Mit Uli war das eine wunderbare Beziehung. Also, die beiden sind in ewiger Erinnerung, beide großartige Schauspieler. Und dass sie jetzt beide tot sind, hinterlässt mich eigentlich, ich bin fassungs…, sprachlos, ich muss auch überlegen, was das jetzt eigentlich wirklich bedeutet, was da passiert ist.
Bürger: Christiane Peitz, was war das für eine besondere Künstlerbeziehung?
Peitz: Sie haben ja beide dann gerne ihr Äußerstes gegeben, also auch gemeinsam vor der Kamera. Also, sie waren das Extremschauspielerpaar. Man sagt ja schnell, sie war eine Extremschauspielerin oder er war ein Radikaler, aber die beiden zusammen haben sich in diese Ehehöllen reinbegeben, die haben diese Grenzgänger gespielt, diese unendliche Einsamkeit in einer Beziehung, in einer Liebe, diese Tyrannei der Intimität, dieses Aneinanderkleben und sich trennen wollen und nicht können … Also die letzte gemeinsame Geschichte, die sie gespielt haben, "Nemesis", ein Film über ein Paar, das sich trennen will, aber nicht auseinander kann und sich hasst und so im Clinch verstrickt ist miteinander – dieser Film kam erst letztes Jahr ins Kino, das hat eine Weile gedauert, da gab es, glaube ich, einen Rechtsstreit drum –, aber da konnte man das auch noch einmal sehen. Und natürlich in "Funny Games" von Haneke, was, glaube ich, das eindrücklichste Beispiel ist von ihrer Art, gemeinsam das Äußerste zu geben und die Seelen zu erforschen, ohne … und diese Schutzlosigkeit, in diese Schutzlosigkeit sich hineinzubegeben.
Bürger: In einem Interview hat Susanne Lothar gesagt, ihre Grundtemperatur dem Leben gegenüber habe sich durch Ulrich Mühes Tod völlig verändert. Hat sie sein Tod also letztlich auch an ihre eigenen Grenzen geführt?
Peitz: Über ihr Privatleben kann ich nur spekulieren, da hat Ulrich Tukur sie wahrscheinlich mehr erlebt. Ich habe sie ein Jahr nach dem Tod für den "Tagesspiegel" interviewt, das war ein Zeitpunkt, wo sie von sich aus sagte a) ich will wieder arbeiten – sie hat dann sehr, sehr viele Rollen angenommen, unter anderem "Vorleser" war dabei – und ich will auch sprechen, ich will sprechen über meine Trauer, ich will sprechen über meinen Mann, ich will sprechen über den Schmerz. Das hat sie dann auch getan und das war ein sehr, sehr ambivalentes Gespräch, weil sie einerseits von sich aus eben sich öffnen wollte, andererseits aber natürlich ihre Privatsphäre, vor allem auch ihre Kinder schützen wollte. Sie war selber auch da, ich habe sie da als eine Zerrissene erlebt.
Es war dann auch so, dass wir hinterher – wir Zeitungen, wir müssen unsere Interviews ja autorisieren, da habt ihr es im Radio besser –, wir haben um einzelne Passagen, um Sätze, um einzelne Wörter zum Teil gerungen. Das war auch so, sie ist ja so eine Kämpferin gewesen. Ich habe sie dann auch persönlich als eine Kämpferin erlebt, aber es war ein Kampf, der es wert war. Es war dann ein sehr, sehr schönes Gespräch, mit dem wir alle dann sehr zufrieden waren, aber das war von dieser Ambivalenz des Sich-öffnen-Wollens, aber gleichzeitig natürlich den Schutzraum irgendwie, Den-privaten-Schutzraum-Bewahrenwollen sehr getragen, und es war eins der Interviews in meinem Berufsleben auch, was mir eindrücklichsten auch in Erinnerung ist eben deshalb.
Bürger: Christiane Peitz zum überraschenden Tod der Schauspielerin Susanne Lothar. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Peitz: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Am Leben verzweifelt - Zum Tod der Schauspielerin Susanne Lothar
O-Ton Ulrich Tukur: Ulrich Tukur zum Tod von Susanne Lothar auf Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio) Sie war eine extreme Theaterschauspielerin, sie war eine große Theaterschauspielerin und ich habe irrsinnig gerne mit ihr gespielt. Es war immer sehr viel Verzweiflung in dem, was sie gemacht hat. Also, ich glaube, da war sehr viel Angst und sehr viel Verzweiflung in ihrem Leben vorhanden, und das hat sie versucht, natürlich, irgendwie auf der Bühne … Das hat sie, diese Energie, die sie in sich hatte, diese dunkle Energie, die hat sie natürlich wunderbar umgesetzt … Aber sie war nicht glückvoll - im Leben. Auf der Bühne war sie toll, aber im Leben hat es nicht funktioniert. Und das macht mich gerade richtig traurig. Das eigentlich Wichtige ist, mit dem Leben zurande zu kommen, das ist ja die große Kunst, die Lebenskunst. Und ich sehe so viele, die sich auf der Bühne verglühen und großartig sind, und im Leben dann einfach nicht mehr zurande kommen und vielleicht auch deshalb so großartig auf der Bühne sind.
Brüger: Der Schauspieler Ulrich Tukur zum überraschenden Tod der Schauspielerin Susanne Lothar. Wir wollen weiter an sie erinnern im Gespräch mit Christiane Peitz, Filmkritikerin und Feuilletonchefin des Berliner "Tagesspiegels", guten Morgen, Frau Peitz!
Christiane Peitz: Guten Morgen!
Bürger: Susanne Lothar hat immer wieder extreme Frauenrollen gespielt, Ulrich Tukur sprach eben gerade von dieser dunklen Energie. Die war ja besonders stark zu spüren in den Filmen von Michael Haneke, "Die Klavierspielerin", "Das weiße Band" und vor allem "Funny Games". Wie zeigten sich darin, welche psychischen Abgründe hat sie darin ausgelotet?
Peitz: Sie sprachen ja eben bei der Anmoderation auch von dem Raubtier. Und natürlich war sie ein Raubtier, was man leicht unterschätzte, eben weil sie so fragil wirkte, so dünn, fast dürr war, knochig, kantig, zerbrechlich. Und deshalb sah man auf den ersten Blick manchmal diese Entschiedenheit nicht, auch diese Resolutheit, mit der das, was Ulrich Tukur eben auch erzählte, von ihr auch dann eben oft in einem guten Sinne, in einem sehr starken Sinne überspielt wurde. Das war so ein bisschen ihre Qualität.
Und eben bei Michael Haneke in "Funny Games" spielte sie eben diese ganz brutal schikanierte Ehefrau an der Seite von Ulrich Mühe, der dann schon zerschlagen wurde von diesen Gangstern, die da dieses Ferienhaus heimsuchen und dieses Ehepaar drangsalieren. Sie spielte in "Das weiße Band", ebenfalls von Michael Haneke, diese gedemütigte Geliebte und hat aus diesem fast masochistischen, aus dieser masochistischen Figur eben auch so eine starke Figur gleichzeitig gemacht. Also, sie spielte immer diese zähen, diese, man sagt dann immer gerne, sie spielte die Opfer, aber das ist vollkommen falsch, weil diese Opfer so eine Stärke hatten und so eine Resolutheit hatten. Auch in ihrer Stimme, die ja eher eine leise, weiche, gebrochene Stimme auf den ersten Eindruck hin war, aber dann eben so was Scharfes auch hatte. Also, da hörte man immer so ein bisschen auch den Abgrund, der da sozusagen übertönt werden sollte. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sie jedenfalls nach dem Tod von Ulrich Mühe dann sehr häufig Mütter gespielt hat und dabei den Mut hatte, nicht unbedingt die sympathischen Mütter zu spielen.
Bürger: Und auch nicht die Schönen, auch Mut zur Hässlichkeit …
Peitz: … auch nicht die Schönen, also, diesen Mut zur Kantigkeit, auch verhärmte Frauen, Unsympathinnen zu spielen. Aber das tut sie so auch nicht in jetzt großen Solorollen, wo sie allein einen Film dominiert, wie zum Beispiel Nina Hoss es tut in Filmen, aber in sehr prägnanten Nebenrollen, die man dann so schnell nicht mehr vergisst und die einen auch so schaudern machen. Ich denke da zum Beispiel an die Mutter von Gudrun Ensslin, die sie in Andres Veiels RAF-Drama "Wer wenn nicht wir" gespielt hat, das ist so eine typische Rolle. Und auch beim "Vorleser" von Stephen Daldry, den Sie schon erwähnten, spielte sie ja so eine verhärmte Mutter.
Bürger: Starke Nebenrollen im Film, sagen Sie, aber natürlich auch starke Hauptrollen am Theater. Sie war nur anderthalb Jahre auf einer Schauspielschule, dann haben sie schon die besten der besten Regisseure entdeckt und ein Auge auf sie geworfen, Peter Zadek, Luc Bondy, später dann eben kamen noch andere dazu. Welcher dieser Regisseure, meinen Sie, hat ihr Potenzial am stärksten erfasst, aber vielleicht auch am stärksten ausgeschöpft?
Peitz: Das war natürlich mit Sicherheit Peter Zadek. Berühmt, denke ich mal, wurde sie dann mit der "Lulu" im Hamburger Schauspielhaus, 1988, 89 war das. Zadek hatte einen, wie ich finde, grandiosen Regieeinfall, nämlich er stellte diese Lulu fast das ganze Stück über nackt oder fast nackt auf die Bühne, und das ist natürlich ein unglaubliches Grenzgängertum, was eine Schauspielerin da leisten muss, ein Kraftakt, den sie ganz toll gemacht hat. Also, sie war das Mädchen und die Femme fatale gleichzeitig, das ist ja das, was diese Wedekindsche Monstre-Tragödie so auszeichnet, dass das beides gleichzeitig ist. Und das hat man auch, ist auch so eine Figur, die man nicht mehr vergessen hat. Ähnlich war es dann natürlich mit Sarah Kane, "Gesäubert", auch das unter Regie von Peter Zadek.
Bürger: Sie suchte nach Regisseuren, die ihr mit Röntgenblicken bis auf die Knochen schauen, hat sie mal gesagt. Hat sie uns dann wiederum so eine Art Röntgenbild gezeigt, hat sie ihre Figuren wirklich durchleuchtet?
Peitz: Ich glaube, das ist sehr ambivalent. Also, weil, gleichzeitig haben ihre Figuren ja auch etwas Gepanzertes, etwas, was sich verschließt. Es ist nicht so, dass sie so jemand ist, der einfach seine Seele, sein Herz auf die Bühne packt und sich öffnet, sondern das ist immer etwas, was sich verschließt und aber auf eine Weise verschließt, auf eine Weise maskiert ist, dass man das, was hinter der Maske sich verbergen möchte, doch immer auch wahrnehmen konnte und sehr eindrücklich wahrnehmen konnte.
Bürger: Nach dem plötzlichen Tod der Schauspielerin Susanne Lothar erinnern wir hier im Deutschlandradio Kultur an sie im Gespräch mit der Filmkritikerin Christiane Peitz, Feuilletonchefin beim Berliner "Tagesspiegel". Fast auf den Tag genau ist es fünf Jahre her, dass Susanne Lothars Mann gestorben ist, der Schauspieler Ulrich Mühe. Mit ihm hat sie 17 Jahre lang intensiv gelebt und gearbeitet, auch zwei gemeinsame Kinder. Hören wir noch mal den Schauspieler Ulrich Tukur, der sich an die beiden erinnert:
O-Ton Tukur: Sie waren beide, muss ich sagen, beide verzweifelte Menschen. Uli auch ganz tief verzweifelt, hochgradig begabt, mit so viel Fantasie und so viel Sehnsucht wie auch Suse, und beide haben irgendwie nur halb im Leben Fuß gefasst. Und Suse hat es halt geschafft mit Uli. Mit Uli war das eine wunderbare Beziehung. Also, die beiden sind in ewiger Erinnerung, beide großartige Schauspieler. Und dass sie jetzt beide tot sind, hinterlässt mich eigentlich, ich bin fassungs…, sprachlos, ich muss auch überlegen, was das jetzt eigentlich wirklich bedeutet, was da passiert ist.
Bürger: Christiane Peitz, was war das für eine besondere Künstlerbeziehung?
Peitz: Sie haben ja beide dann gerne ihr Äußerstes gegeben, also auch gemeinsam vor der Kamera. Also, sie waren das Extremschauspielerpaar. Man sagt ja schnell, sie war eine Extremschauspielerin oder er war ein Radikaler, aber die beiden zusammen haben sich in diese Ehehöllen reinbegeben, die haben diese Grenzgänger gespielt, diese unendliche Einsamkeit in einer Beziehung, in einer Liebe, diese Tyrannei der Intimität, dieses Aneinanderkleben und sich trennen wollen und nicht können … Also die letzte gemeinsame Geschichte, die sie gespielt haben, "Nemesis", ein Film über ein Paar, das sich trennen will, aber nicht auseinander kann und sich hasst und so im Clinch verstrickt ist miteinander – dieser Film kam erst letztes Jahr ins Kino, das hat eine Weile gedauert, da gab es, glaube ich, einen Rechtsstreit drum –, aber da konnte man das auch noch einmal sehen. Und natürlich in "Funny Games" von Haneke, was, glaube ich, das eindrücklichste Beispiel ist von ihrer Art, gemeinsam das Äußerste zu geben und die Seelen zu erforschen, ohne … und diese Schutzlosigkeit, in diese Schutzlosigkeit sich hineinzubegeben.
Bürger: In einem Interview hat Susanne Lothar gesagt, ihre Grundtemperatur dem Leben gegenüber habe sich durch Ulrich Mühes Tod völlig verändert. Hat sie sein Tod also letztlich auch an ihre eigenen Grenzen geführt?
Peitz: Über ihr Privatleben kann ich nur spekulieren, da hat Ulrich Tukur sie wahrscheinlich mehr erlebt. Ich habe sie ein Jahr nach dem Tod für den "Tagesspiegel" interviewt, das war ein Zeitpunkt, wo sie von sich aus sagte a) ich will wieder arbeiten – sie hat dann sehr, sehr viele Rollen angenommen, unter anderem "Vorleser" war dabei – und ich will auch sprechen, ich will sprechen über meine Trauer, ich will sprechen über meinen Mann, ich will sprechen über den Schmerz. Das hat sie dann auch getan und das war ein sehr, sehr ambivalentes Gespräch, weil sie einerseits von sich aus eben sich öffnen wollte, andererseits aber natürlich ihre Privatsphäre, vor allem auch ihre Kinder schützen wollte. Sie war selber auch da, ich habe sie da als eine Zerrissene erlebt.
Es war dann auch so, dass wir hinterher – wir Zeitungen, wir müssen unsere Interviews ja autorisieren, da habt ihr es im Radio besser –, wir haben um einzelne Passagen, um Sätze, um einzelne Wörter zum Teil gerungen. Das war auch so, sie ist ja so eine Kämpferin gewesen. Ich habe sie dann auch persönlich als eine Kämpferin erlebt, aber es war ein Kampf, der es wert war. Es war dann ein sehr, sehr schönes Gespräch, mit dem wir alle dann sehr zufrieden waren, aber das war von dieser Ambivalenz des Sich-öffnen-Wollens, aber gleichzeitig natürlich den Schutzraum irgendwie, Den-privaten-Schutzraum-Bewahrenwollen sehr getragen, und es war eins der Interviews in meinem Berufsleben auch, was mir eindrücklichsten auch in Erinnerung ist eben deshalb.
Bürger: Christiane Peitz zum überraschenden Tod der Schauspielerin Susanne Lothar. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Peitz: Danke schön!
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