Kommentar

Warum nicht jedes Unglück „tragisch“ ist

04:32 Minuten
Ein Raum des zerstörten Kinderkrankenhauses in Kiew: die Fenster sind beschädigt, überall liegen Steine und Schutt herum.
Zerstörtes Kinderkrankenhaus in Kiew: ein Kriegsverbrechen und keine Tragödie. © picture alliance / ZUMAPRESS.com / Andreas Stroh
Überlegungen von Arnd Pollmann · 14.07.2024
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Wenn irgendwo etwas Schlimmes passiert, wird schnell von einer Tragödie gesprochen und geschrieben – zuletzt beim russischen Beschuss eines Kinderkrankenhauses in Kiew. Doch wer Kriegsverbrechen „tragisch“ nennt, gibt die Schuld den Opfern.
Auf der Bühne der antiken Tragödie ist bereits nach wenigen Minuten klar: Es gibt kein Entrinnen. Das Schicksal der Hauptfiguren ist längst besiegelt. Ihr Verderben ist gewiss. Mit Blick auf die Sehgewohnheiten heutiger Netflix-Junkies dürfte damit die Spannung bereits raus sein. Aber die antike Tragödie zieht ihr Publikum genau dadurch in den Bann, dass sie von Anfang verrät: Es wird kein Happy End geben! Ob wir mit Ödipus, Antigone oder Aias mitfiebern: Hilflos sehen wir zu, wie diese Heldinnen und Helden fatale Fehler begehen – nicht aus Bosheit, sondern aus Unwissen, ja, mit besten Absichten. Und mit eben diesen hehren Absichten treten sie genau jene Katastrophe los, die ohne ihr Zutun wohl ausgeblieben wäre.

Spiel des Lebens

Die heute gängige Verwendung des Wortes „tragisch“ hat mit dieser antiken Theatralik nur noch wenig zu tun. Banalste Ereignisse werden künstlich zu schicksalhaften Tragödien aufgebauscht: ein verlorenes Elfmeterschießen, ein scheiternder Finanzplan, ein unglücklicher Flirt. Sicher, zuweilen sind auch sehr gravierende Dinge gemeint: ein schwerer Unfall, ein Suizid oder eine sogenannte Familientragödie. Zweifellos ereignet sich hier menschliches Unglück. Aber passt dazu der Ausdruck „tragisch“?
Zunächst will man wohl andeuten, dass es um lebenspraktische Debakel geht; um fatale Tiefschläge, mit denen nicht zu rechnen war. Doch die antike Tragödie zielte auf mehr: Es ging ihr nicht um eine Dokumentation scheiternder Einzelschicksale, sondern um eine kunstvolle Dramaturgie des Lebens.
Auf lehrreiche Weise sollte dabei etwas „Allgemeinmenschliches“ aufscheinen. Schon Aristoteles betonte die therapeutische Absicht der Tragödie: Mit dem „Jammern“ und „Schaudern“ angesichts exemplarischen Unglücks wird in den Reihen des Publikums zugleich auch eine „Katharsis“ möglich; eine heilende Reinigung von diesen schmerzhaften Empfindungen. Die Tragödie ist Ernst des Lebens und lustvoll inszeniertes Spiel zugleich.

Schuldlos schuldig?

Das Orakel von Delphi sagt voraus, dass Ödipus den eigenen Vater töten und die Mutter schwängern wird. Dies gilt es selbstredend zu verhindern. Doch indem die Eltern und später dann der Sohn dieser Prophezeiung aus dem Weg zu gehen versuchen, nimmt das Desaster seinen Lauf.
Das bedauerliche Unglück tragischer Heroen wird also gerade dadurch eingeleitet, dass diese es aktiv zu vermeiden suchen. Das führt uns zu einer existenziellen Einsicht: Jeder Mensch ist seines Unglücks Schmied! Auch wenn es heißt, die Stars der Tragödie machten sich „schuldlos schuldig“, so sind sie doch mit ihrem eigenen Tun in die Verursachung der Katastrophe verwickelt. Es gibt keine Ausreden. Genau das ist tragisch.
Damit sind wir bei dem entscheidenden Grund, warum der Alltagssprachgebrauch oft nicht nur irreführend, sondern bedenklich ist: Wer etwa den kriegerischen Beschuss einer Kinderklinik als „Tragödie“ bezeichnet, so wie es in dieser Woche medial zu verzeichnen war, sorgt damit für eine unangebrachte Täter-Opfer-Umkehr. Ob bewusst oder ungewollt: Man „verschiebt“ die Schuld, wenn man bereits auf Ebene der Begriffe unterstellt, dass sich die Opfer ihr Schicksal – zumindest teilweise – selbst eingebrockt haben.

Rhetorische Fehlgriffe

Im Fall von Kindern – ob in der Ukraine oder auch in Gaza – könnte kaum etwas abwegiger sein. Der Beschuss von Kliniken, Flüchtlingslagern, Schulen ist mit dem Wort „Tragödie“ selbst dann unangemessen etikettiert, wenn dieser Beschuss versehentlich erfolgt oder weil man eine militärische Mitnutzung dieser Orte vermutet.
Erfolgt dieser Beschuss gezielt, ist es noch viel schlimmer. Dann handelt es sich schlicht um Kriegsverbrechen. Diese sollte man entsprechend auch bei ihrem richtigen Namen nennen, statt die schuldigen Täter mit der irreführenden Behauptung von Tragik aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Spätestens dann nämlich wird der dramaturgische Kunstgriff zum rhetorisch fatalen Fehlgriff.

Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Onlinemagazins Slippery Slopes.

Porträt von Arnd Pollmann
© privat
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