"Der Krieg ist für die Kinder noch nicht vorbei"
Kurz vor der Innenministerkonferenz hat der Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, Christian Schneider, ein dramatisches Bild der Lage in Syrien gezeichnet. Der Krieg sei nicht vorbei und der Weg zu Wiederaufbau und möglichen Rückführungen noch weit.
In der Union ist eine Diskussion darüber entbrannt, ob syrische Flüchtlinge wieder in ihre Heimat abgeschoben werden sollen. Auf der Innenministerkonferenz in Leipzig soll ein von Bayern und Sachsen eingebrachter Antrag beraten werden, der sich für Abschiebungen nach Syrien ausspricht. Auch in der Berichterstattung ist das Thema Syrien weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden.
Fünf Millionen Kinder betroffen
"Für unsere Kollegen, die weiter in Aleppo und in Syrien ihre Arbeit tun, macht es das Problem größer", sagte der Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, Christian Schneider, im Deutschlandfunk Kultur. Es sei die Sorge da, dass Wiederaufbau oder eine großangelegte Rückkehr von Menschen noch lange nicht in Sicht seien. Stattdessen gebe es eine "riesige humanitäre Notlage". Es gebe fünf Millionen Kinder in Syrien, die dringend versorgt werden müssten. Gerade jetzt vor dem Winter werde dringend Geld für warme Kleidung für 700.000 syrische Kinder benötigt. Es werde in einigen Orten unverändert gekämpft. Dort litten Kinder große Not und seien von Hilfe weitgehend abgeschnitten.
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Noch bevor sich die Innenminister von Bund und Ländern in dieser Woche zur Herbsttagung in Leipzig treffen, ist eine heftige Diskussion entbrannt: Darf, soll und kann man nach Syrien abschieben oder nicht. Wer eine Antwort auf diese Frage will, der sollte vielleicht heute Christian Schneider zuhören. Er ist Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, war gerade in Syrien unterwegs, genauer in Aleppo, Homs und Damaskus, und berichtet eben heute in Berlin über diese Reise in einer Pressekonferenz. Guten Morgen, Herr Schneider!
Christian Schneider: Guten Morgen, hallo!
Welty: Ein gutes Jahr ist es ja jetzt her, dass vor allem Aleppo Schlagzeilen machte, dass auch eben der Osten der Stadt von den Rebellen durch die syrischen Truppen zurückerobert wurde. Was war Ihr Eindruck von der Situation heute?
Schneider: Der erste Eindruck ist natürlich überwältigend, wenn man im Ostteil Aleppos steht und dieses unglaubliche Ausmaß der rein physischen Zerstörung erst mal erlebt. Ich habe verschiedene Schulen besucht, Kinderzentren mit UNICEF, bin durch Wohngebiete gegangen, in denen wirklich im Grunde 360 Grad nur noch Ruinen zu sehen waren, ausgebrannte Wohnungshöhlen.
Das ist schon mal für unsereinen erschlagend, das zu erleben. Und ich glaube, das, was mich dann sehr angefasst hat, war im Grunde in jedem Gespräch, das ich in den Tagen in Aleppo führen konnte, dass hinter dieser totalen Zerstörung der Stadt im Osten der Stadt sichtbar wird, was das eben mit den Seelen, mit dem Zustand der Kinder vor allen Dingen macht.
Welty: Was macht es denn mit den Seelen der Kinder?
Schneider: Man muss einfach sagen, der Krieg ist für die Kinder noch nicht vorbei, auch wenn der Höhepunkt der Kämpfe in Aleppo vor einem Jahr war. Zum einen ist die Konfliktlinie noch in der Nähe, es fliegen auch jetzt noch, im September zum Beispiel etwa 66 Mörser in einem Monat über die Stadt und landen irgendwo, bringen Kinder und Familien, Zivilisten in Gefahr.
Dann lauern natürlich in den Schuttbergen, in den zerstörten Stadtteilen, nicht explodierte Sprengkörper, Landminen, also viele echte Gefahren für Kinder. Aber das Erschütternde war eigentlich, dass wir in jedem Gespräch, das wir geführt haben, unmittelbar nach so einem Gesprächseinstieg an Geschichten der Kinder kamen, die für uns eigentlich nicht ertragbar sind und für die Kinder schon gar nicht. Also wirklich furchtbare Dinge, die sie unmittelbar miterleben mussten. Bombardements ihrer Schulen, Zerstörung ihres eigenen Hauses, selbst miterlebten Tod in unmittelbarer Nähe.
Sauberes Trinkwasser für Aleppo
Welty: Sie sprechen von fünf Millionen Kindern, die allein in Syrien humanitäre Hilfe benötigen. Wer kann die denn leisten?
Schneider: UNICEF zusammen mit vielen Partnern, auch mit vielen Freiwilligen, die uns dabei helfen, kann sehr viel leisten. Wir haben es zum Beispiel in Aleppo auch in den Monaten nach dem Ende der schwersten Kämpfe geschafft, die Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser zu versorgen, extrem wichtig, damit zum Beispiel jetzt in den Monaten danach keine Epidemien ausgebrochen sind.
Mich hat sehr beeindruckt, dass es auch gelungen ist, längst nicht für alle Kinder, aber eben doch für einige, inmitten der Ruinen sehr schnell nach dem Ende der Kämpfe zum Beispiel über Container erste Schulen aufzubauen. Ich glaube, das können wir uns alle vorstellen, was das für ein Symbol der Hoffnung auch ist, wenn inmitten dieser Zerstörung dann Kinder mit Schulrucksäcken von UNICEF endlich wieder zur Schule gehen können.
Welty: Neben den Kindern in Syrien gibt es ja auch die Hunderttausende, die geflüchtet sind in Nachbarländer, in Flüchtlingslagern ausharren. Wodurch ist deren Situation gekennzeichnet?
Schneider: Ich glaube, für alle Kinder, ob wir nun über die sprechen, die noch innerhalb Syriens diesen Krieg im siebten Jahr mitgemacht haben, oder eben für die, die jetzt schon lange oder seit einigen Monaten auf der Flucht sind, gilt diese eigentlich nicht aufhörende Instabilität, dieses völlige Fehlen einer normalen Kindheit schon seit so langer Zeit.
Wenn ich zum Beispiel an die 14-jährigen Kinder denke, die ich jetzt in Aleppo gesprochen habe, muss man einfach sagen, die Hälfte ihrer Kindheit haben die mit Bombenangriffen, mit Mörsereinschlägen, mit immer neuer Vertreibung zu tun. Das gilt auch für die Kinder, die sich eben in den Libanon, nach Jordanien oder weiter nach Europa retten konnten. Das lässt die Kinder ja so schnell nicht los.
Traumatisierte Kinder
Welty: Auf welche Spätfolgen muss man sich in diesem Zusammenhang dann einstellen angesichts solcher Zustände und solcher Schicksale?
Schneider: Das ist schwer zu sagen. Wir können auch im Moment nicht sagen, wie viele Mädchen und Jungen, wenn ich jetzt mal nur wieder über die Situation in Syrien nachdenke, wirklich traumatisiert sind. Wir schätzen, dass etwa zwei Drittel der Kinder entweder ein nahes Familienmitglied verloren haben, dass sie miterlebt haben, wie ihr Wohnhaus zerstört wurde, oder dass sie womöglich selbst verletzt wurden. Es ist also wirklich eine sehr große Zahl von Kindern.
Gleichzeitig muss man sagen, ich habe zum Beispiel einen 14-jährigen Jungen kennengelernt, der wirklich grauenhaftes bei einem Angriff auf die eigene Schule erlebt hat, der dabei war, als seine Lieblingslehrerin und sein bester Freund ums Leben kamen, dann überhaupt nichts mehr von Schule wissen wollte.
Wenn wir es dann schaffen, in dem Fall zum Beispiel über eine fantastische Betreuerin in einem Kinderzentrum, diese Kinder individuell zu unterstützen, sie auch zu begleiten, dann zeigen die Kinder selbst in Syrien noch eine unglaubliche Stärke. Dieser Junge zum Beispiel ging inzwischen wieder zur Schule und war sehr fleißig dabei, weil er nämlich später Arzt werden wollte.
Welty: Syrien ist fast aus den Schlagzeilen verschwunden. Macht das das Problem kleiner oder größer?
Schneider: Für unsere Kollegen, die weiter in Aleppo und in Syrien die Arbeit tun, macht es das Problem größer, weil die Sorge wirklich da ist, dass nicht mehr gesehen wird, dass wir lange vor Diskussion über einen Wiederaufbau oder auch die groß angelegte Rückkehr der Menschen eine riesige humanitäre Notlage haben.
Wir haben eben fünf Millionen Kinder in Syrien, die wir dringend versorgen müssen. Wir haben zum Beispiel jetzt vor dem Winter die Situation, dass dringend auch Geld fehlt, um allein die Winterhilfe anzukurbeln, um 700.000 Kinder allein in Syrien mit Winterkleidung zu versorgen. Das ist schon eine große Sorge, die Situation aus humanitärer Sicht ist nach wie vor groß, und es wird eben auch noch gekämpft. Es gibt eine Reihe von belagerten Orten, in den Kinder extreme Not leiden und von Hilfe weitgehend abgeschnitten sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.