Union der Egoisten

Alfred Grosser im Interview mit Marietta Schwarz |
Die Menschen empfinden sich nicht als europäische Bürger, sondern verfolgen eher ihre eigenen Interessen, findet der deutsch-französische Publizist Alfred Grosser. Er fordert: Den Bürgern müssen die Vorteile der Staatengemeinschaft besser vermittelt werden.
Marietta Schwarz: Das Debakel um das gekippte Waffenembargo gegen Syrien hat sie wieder aufgeworfen, die Frage: Quo vadis, Europa? Die Europäische Union muss an vielen Fronten gleichzeitig kämpfen und scheitert doch recht oft dabei, denn die Fronten verlaufen auch quer durch die Union, und da setzen sich gerne Einzelstaaten gegen die große Mehrheit durch: Deutschland, wenn es ums Sparen geht, Frankreich und Großbritannien wie soeben in der Syrienfrage. Und die Briten hadern sowieso mit der Mitgliedschaft. EU-Kommissar Oettinger spricht offen vom "Sanierungsfall Europa", doch irgendwie muss es weitergehen.

Im Juni ist der nächste Gipfel zur europäischen Wirtschaftspolitik, dazu treffen sich heute Angela Merkel und François Hollande in Paris. Muss die Europäische Union sich wieder mehr auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen, um voranzukommen? Fragen dazu an den deutsch-französischen Publizisten und Politikwissenschaftler Alfred Grosser. Guten Tag!

Alfred Grosser: Guten Tag!

Schwarz: Herr Grosser, fangen wir vielleicht mal mit dieser jüngsten Entscheidung zu Syrien an. Es gab Kommentatoren, die die Debatte um das Waffenembargo als schwärzeste Stunde in der europäischen Außenpolitik beschrieben haben – sehen Sie das ähnlich?

Grosser: Nein, denn ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden würde, wenn ich an der Stelle von Frau Merkel oder von François Hollande wäre oder von den Engländern. Wenn man militärisch eingreift, gehen die Waffen wahrscheinlich an die Hisbollah, gehen wahrscheinlich an die, die ein anderes Regime haben wollen, aber nicht gegen den jetzigen Diktator, sondern ein ultraislamisches Regime. Und es ist eine Frage, wo ich nicht weiß, wie ich entscheiden würde, bin also vorsichtig zu sagen, dass daran Europa kaputt geht, es geht an anderen Fragen auch noch kaputt.

Um ein Beispiel zu nehmen: Die gemeinsame Besteuerung der Paradiese, der Zollsteuerparadiese – wer ist dagegen, wer macht ein Veto? Jean-Claude Juncker. Er galt als großer Europäer, aber als Luxemburger Premierminister ist er total egozentristisch-egoistisch. Das ist schon ein Drama, weil man nicht weiterkommt. Und Frankreich und Deutschland streiten sich heute erneut über eine ganze Reihe von Fragen, zuerst einmal über China. Und das scheint mir heute das Dramatischste zu sein, nicht im Sinne, dass Menschen dort sterben, aber die Kanzlerin verhandelt alleine mit China, als sei sie Europa, und das finde ich sehr verheerend.

Schwarz: Wie steht es denn generell um diese nationalen Alleingänge, das haben wir ja eben am Beispiel Syrien auch erlebt: Zwei Mitgliedstaaten, Frankreich und Großbritannien, setzen sich gegen die große Mehrheit durch, ein anderes Beispiel haben Sie gerade genannt. Wie kommt das? Weil diese Staaten so stark sind oder die anderen so schwach?

Grosser: Beides. Beides. Zuerst mal, zu siebenundzwanzigt weiß man überhaupt nicht, wie regiert werden sollte. Die Kommission ist schwach, die nationalen Interessen sind allein vertreten im Rat, und es geht zwischen den Regierungen nicht im Sinne von Europa. Man könnte meinen, es gebe jetzt eine Legitimität des Europaparlaments, es gebe eine Legitimität der Kommission, die groß sei, aber so ist es eben nicht. Persönlich hoffe ich, dass der jetzige deutsche Präsident des Parlaments auch Präsident der Kommission wird beim nächsten Mal, aber damit ist nicht alles gelöst.

Schwarz: Wie wirkt sich denn dieses Agieren der Einzelstaaten auf diejenigen Mitgliedstaaten aus, die nie anführen, sondern immer folgen müssen?

Grosser: Na, sie folgten nicht immer, und es gibt genug Beispiele, ein verheerendes Beispiel ist Ungarn, wo eigentlich Ungarn jetzt das Stimmrecht verlieren sollte, weil es die Grundprinzipien von Europa verletzt, und das findet eben nicht statt. Europa ist noch nicht mal fähig, seine eigenen Werte zu verteidigen, und was fehlt, ist eine Idee von dem, was man eigentlich will und in welcher Richtung.

Schwarz: Sehen Sie denn, dass das Agieren der einzelnen Mitgliedstaaten oder das Dirigierenlassen von nationalen Interessen heute größer geworden ist, als es früher war?

Grosser: Also früher ist schwer zu sagen wann, aber jedenfalls dass es immer mehr wächst. Und zusätzlich, es gibt … theoretisch sind wir alle Bürger von Europa, so sagen die Verträge. Es gibt europäische Citoyennetés, aber es gibt auch keine Bürger eigentlich in unseren Ländern. Es gibt Agrarproduzenten, es gibt Apotheken, es gibt Interessenverbände, aber wer fühlt sich schon bei Ihnen in Deutschland, bei uns in Frankreich als Bürger Europas und zuerst einmal als echter Bürger seines Staates, der an die gemeinsamen Interessen denkt und nicht nur an seine Berufsinteressen?

Schwarz: Was kann man daran ändern? Jemand schrieb vor Kurzem, es fehlt an einer Opposition in der EU?

Grosser: Nein, oppositionell gibt’s viel zu viel, Kritik ist überall, und es müsste schon erklärt werden, durch die Medien, die das nie tun, was Europa eigentlich schon ist, was es eigentlich schon tut. In dem Palast der bayrischen Vertretung in Brüssel wird ein schönes Dokument verteilt, was hat Europa für Bayern getan, bei uns in Westfrankreich in der großen Zeitung "Ouest-France" wird eine Broschüre gemacht, was hat Europa für die Bretagne getan. Das müsste zuerst überall auch national getan werden: Was hat Europa für uns getan? Das wird aber nie gesagt.

Schwarz: Herr Grosser, zum Abschluss: Was funktioniert denn in der EU zurzeit richtig gut?

Grosser: Es funktioniert viel, in Brüssel und woanders, es wird viel gearbeitet, und das ist verdeckt. Zum Beispiel die institutionellen Menschenbeziehungen, die menschliche Infrastruktur, zum Beispiel Deutschland/Frankreich, die darf manchmal erwähnt werden, wenn es um 50 Jahre Vertrag geht, wenn groß gefeiert werden soll, aber die tägliche Kleinarbeit zwischen Menschen in Deutschland und Frankreich, die wird nie erwähnt.

Schwarz: Das war der Publizist und Politologe Alfred Grosser. Das Interview haben wir aufgezeichnet.


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