Der Underground des Ostblocks
Wer in der damaligen DDR und anderen Ostblockländern an der staatlichen Zensur vorbei publizieren wollte, dem blieb nur der Selbstverlag, das Samisdat. Die Uni Bremen beherbergt eine der größten Sammlungen an selbstverlegten Zeitschriften und Büchern aus Osteuropa.
Alexander Galitsch singt "Erika", eine Aufnahme aus den 80er-Jahren, auf Vinyl gepresst in den USA. In Galitschs sowjetischer Heimat waren seine Werke verboten. Ihm blieb – wie so vielen anderen Dissidenten – nur der Selbstverlag, der sogenannte "Samisdat". Die in der DDR hergestellte Schreibmaschine "Erika" war dabei ein wichtiges Instrument. Denn wer publizieren wollte, vorbei an den öffentlichen Staatsverlagen, musste selber tippen und vervielfältigen. Dafür war die "Erika" mit ihrem harten Anschlag besonders beliebt.
Susanne Schattenberg steht vor einer dieser "Erikas". Die Historikerin leitet die Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen, zu der auch das umfangreiche Samisdat-Archiv gehört.
"Das war der Hit, weil man dort bis zu sieben Blätter noch einspannen konnte, immer mit Kohlepapier dazwischen und auch die hintersten Durchschläge noch so halbwegs lesbar waren, was also bei der sowjetischen Produktion kaum mehr möglich war."
Willy Brandt als Impulsgeber
Die Direktorin hat die Forschungsstelle Osteuropa vor sieben Jahren von ihrem Vorgänger Wolfgang Eichwede übernommen. Der hat das Archiv 1982 gegründet, nach einem Treffen zwischen Willy Brandt und dem tschechoslowakischen Dissidenten Jiří Pelikán. Die beiden waren der Meinung, es sei höchste Zeit für ein Institut des "Underground", der Opposition und des Dissens.
Der damalige Bremer Bürgermeister Hans Koschnik sah das genauso und holte das Samisdat-Archiv an seine Uni. Danzig kündigte daraufhin die Städte-Partnerschaft mit Bremen, und dabei blieb es nicht.
Susanne Schattenberg : "Wir wissen, dass es nicht nur Versuche, sondern auch einen Erfolg gab, hier Inoffizielle Mitarbeiter zu installieren. Es gab diverse Arbeiten von Geheimpolizei-Schulen über unsere Forschungsstelle zur Frage, wie man uns infiltrieren kann. Die Ohren waren sozusagen gespitzt die ganze Zeit in Ost- und Ost-Mittel-Europa."
Doch trotz dieser Widerstände sammelte das Samisdat-Archiv weiter: Flugblätter, Zeitschriften, selbst verlegte Bücher und persönliche Papiere aus der ehemaligen Sowjetunion, Polen, der ehemaligen Tschechoslowakei, der DDR und Ungarn – alles Dokumente, die nur im Selbstverlag in Umlauf gelangen konnten. Oft waren es Journalisten oder Diplomaten, die die Untergrund-Dokumente mühsam durch den Eisernen Vorhang schleusten.
Musik auf Röntgenfolie
An diese Samisdat-Zeugnisse konnten die Forschungsstellen in Polen, Russland oder der Ukraine gar nicht herankommen vor dem Zerfall der Sowjetunion. Als der Kalte Krieg zu Ende ging, erhielt das Archiv auch viele Vor- und Nachlässe - zum Teil umfangreiche Sammlungen mit Schallplatten, Audio-Kassetten und Bildern. Um sie vor dem Zerfall zu schützen, befinden sich viele von ihnen in der 16-Grad-Schatzkammer, wie Susanne Schattenberg einen weiteren Magazinraum nennt. In einer der vielen akribisch geordneten Kartons: eine sogenannte Knochen-Musik-Platte.
Susanne Schattenberg: "Es fehlte einfach an Material. Und die sind irgendwie an schon benutzte Röntgenfolien gekommen, so eine gallert-artige Masse, fast wie Vinyl, und haben dann die Musik, die sie sich irgendwie schwarz besorgt hatten, aufgenommen auf diesen Röntgenplatten."
Heute lässt sich die Musik, die auf Schädel- oder Arm-Aufnahmen geprägt wurde, kaum mehr abspielen. Der skurrile Gegenstand aber bleibt. Es wird weiter geforscht Noch immer forschen vor allem Historikerinnen und Historiker im Samisdat-Archiv, aber Objekte wie die Knochen-Platte bewirken mehr Nachfragen aus dem Kultur- und Kunst-Sektor, und auch Museen bitten inzwischen häufiger um Exponate. Im Gegensatz zu vielen anderen außergewöhnlichen Sammlungen an deutschen Unis liegt das Samisdat-Archiv also nicht mehr im Dornröschenschlaf. Deshalb hat sich die Direktorin auch dagegen entschieden, den Bund um weitere finanzielle Hilfen zu bitten. Die Ausschreibung der Bundesforschungsministerin sollen andere nutzen, damit zwischen ihnen Netzwerke entstehen können. Das will Susanne Schattenberg zwar auch, allerdings bereits auf europäischer Ebene. Susanne Schattenberg: "Dass man eine – quasi – übergeordnete Suchmaschine hat. Oder noch besser: dass wäre dann der nächste Schritt, dass das digitalisiert wird. Also nicht nur die Info abrufbar ist, sondern die Dokumente. Da haben wir gerade einen Antrag bei der EU gestellt und hoffen, dass der dann auch genehmigt wird." Einzigartig aber vernachlässigt
Klavier-Tanzrollen, Dissidenten-Nachlässe, Herbarien, Moulagen: In deutschen Universitäten lagern unglaubliche Schätze, von denen wir nichts oder kaum etwas wissen. Denn oft sind die wertvollen Sammlungen in Abstellräumen oder Kellern versteckt. Unsere Fazit-Reihe "Universitäre Sammlungen" hebt diese verborgenen Schätze wieder ins Bewusstsein.Die nächsten Beiträge:
Donnerstag, 23.7.: Eine der weltweit größten Stammsammlungen von Schimmelpilzen, Universität Jena
Freitag, 24.7.: Krankheiten in 3-D moduliert: Die Moulagensammlung, Medizinhistorisches Museum in der Berlin Charité
Samstag, 25.7.: Wachswalzen und Edison-Phonograph: Die phonetische Sammlung der Uni Halle/Wittenberg
Sonntag, 26.7.: Weltweit bedeutendste Herbarien-Sammlung - Die Botanische Staatssammlung, Ludwig-Maximilians-Universität München
Montag, 27.7.: Nordische Helden: Die Edda-Sammlung – Institut für Skandinavistik, Goethe-Universität Frankfurt a.M.
Dienstag, 28.7.: Sammlung "Religiöser und weltanschaulicher Pluralismus in Deutschland" an der Universität Leipzig
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