Einzigartig aber vernachlässigt
Klavier-Tanzrollen, Dissidenten-Nachlässe, Herbarien, Moulagen: In deutschen Universitäten lagern unglaubliche Schätze, von denen wir nichts oder kaum etwas wissen. Denn oft sind die wertvollen Sammlungen in Abstellräumen oder Kellern versteckt. Unsere Fazit-Reihe "Universitäre Sammlungen" hebt diese verborgenen Schätze wieder ins Bewusstsein.
Die nächsten Beiträge:
Montag, 27.7.: Nordische Helden: Die Edda-Sammlung – Institut für Skandinavistik, Goethe-Universität Frankfurt a. M.
Dienstag, 28.7.: Sammlung "Religiöser und weltanschaulicher Pluralismus in Deutschland" an der Universität Leipzig
Die Pflanzen der Botanischen Staatssammlung in München
Blumen, Pilze, Gräser: In der Botanischen Staatssammlung der Ludwig-Maximilians-Universität München lagern rund drei Millionen Pflanzen-Objekte. Sie ziehen Forscher aus der ganzen Welt an.
Andreas Beck klopft auf die Rinde eines mächtigen Baumstammes. Der Münchner Forscher ist auf der Jagd - für die Botanische Staatssammlung. Beck ist Kurator für Flechten und Moose.
Andreas Beck: "Man sieht hier an dieser älteren Eiche, am unteren Bereich der Stammbasis, diese etwas orange gefärbte Krustenflechte, die, wenn man ganz genau hinschaut, Strukturen ausbildet, die wie ganz feine Stecknadeln aussehen."
Nicht weit davon, gleich am nächsten Baum: ein hell leuchtender Flechtenteppich.
Andreas Beck: "Hier an diesem Ahorn finden wir nun sehr schöne, gut erhaltene Exemplare der gewöhnlichen Gelbflechte, die aufgrund des gelb-orangenen Farbtons sehr auffällig ist und sofort ins Auge springt."
Der Botaniker Beck zwinkert zufrieden hinter seinen runden Brillengläsern. Er sammelt Flechten, trocknet sie und archiviert die Pflanzen in den riesigen Schubladen der Staatssammlung.
In dem stolzen Jugendstil-Gebäude im Nymphenburger Park in München lagern bereits drei Millionen Pflanzen-Objekte. Blumen, Pilze, Gräser. Und das seit mehr als 200 Jahren - seit König Maximilian I. von Bayern 1813 das Königliche Münchner Herbar gründete. Die unscheinbaren Flechten sind kostbar: weil sie empfindlich auf den Stickstoffgehalt in der Luft reagieren, verraten sie viel über die Luftqualität.
Andreas Beck: "Hier sind Flechten sehr gut geeignet, weil sie zwar im Gegensatz zu Messgeräten keine exakten, quantitativen Aussagen zunächst ermöglichen, aber aufgrund dessen, dass sie längere Zeit am gleichen Standort wachsen, integrieren sie die Einflüsse über diesen Zeitraum und führen dann zu guten Aussagen über die Luftqualität in längeren Zeiträumen."
So kann die Botanische Staatssammlung zum Beispiel messen, wie sich der Stickstoffgehalt in der Luft im letzten Jahrhundert durch Autoabgase erhöht hat. Flechten speichern auch radioaktive Isotope, so dass Forscher mit ihrer Hilfe nachvollziehen können, wie hoch die radioaktive Verschmutzung in einer bestimmten Gegend ist oder früher einmal war. Andreas Beck bestimmt auch die DNA der herbarisierten Flechten und stellt die Ergebnisse der Datenbank GBOL zur Verfügung. GBOL steht für "German Barcode of Life" - das Projekt hat es sich zum Ziel gemacht, die Gene von Tieren und Pflanzen in Deutschland zu inventarisieren.
Andreas Beck: "Das ist wie eine Art Strichcode bei den Waren im Kaufhaus. Wenn man den Genbereich kennt, dann kann diese Sequenz eindeutig einem Organismus zugeordnet werden."
Auch andere Daten stellt die Staatssammlung der internationalen Forschergemeinde zur Verfügung. So können Wissenschaftler weltweit nachvollziehen, welche Arten wann und wo vorgekommen sind. Dr. Dagmar Triebel leitet das IT-Zentrum der Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns. Für die Forscher, sagt sie, bedeute das Portal eine enorme Erleichterung.
Einzigartige Sammlung von südamerikanischen Pflanzen
Dagmar Triebel: "Für die Wissenschaftler ist wichtig: Sie können diese Daten nicht nur anschauen, hineinklicken oder sich die Bilder dazu anschauen, sondern sie können sich diese gesamten Datensätze runterladen."
Seit 17 Jahren digitalisiert die Staatssammlung ihren Bestand. Bislang steht nur ein kleiner Teil der Sammlung im Netz. Doch selbst wenn die Staatssammlung irgendwann ihr Ziel erreicht und alles digitalisiert hat: Überflüssig wird das Herbar mit den echten, getrockneten Pflanzen auch dann nicht werden, sagt Direktorin Susanne Renner:
"Also die Digitalisierung, das klingt ganz toll. Es ist aber keinesfalls so, dass ein Bild die Pflanze ersetzt. Nur aus der echten Pflanze können wir genetische Informationen rausholen, können wir chemische Informationen rausholen und können wir mikroskopische Details, die man in so groben Bildern nicht sehen kann, rausholen. Und deswegen ist diese Sammlung für die Forschung bedeutender denn je."
So bedeutend, dass Forscher aus der ganzen Welt nach München reisen, um hier am Objekt zu forschen. Etwa Fernanda Carvalho. Die Doktorandin aus Rio untersucht brasilianische Papaya-Arten. Dazu ist sie extra aus Brasilien nach Bayern gekommen. Denn die Botanische Staatssammlung München besitzt eine einzigartige Sammlung südamerikanischer Pflanzen.
Fernanda Cravalho: "Ich erforsche, wie sich die Familie der Papaya-Pflanzen in den letzten 65 Millionen Jahren entwickelt hat. Um die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den einzelnen Arten zu klären, extrahiere ich die DNA aus Papayapflanzen, die in den 1950er und 1960er Jahren in Süd- und Zentralamerika gesammelt worden sind."
Um eine Typologie der Papaya-Familie zu erarbeiten, untersucht Fernanda Carvalho nicht nur die DNA der Pflanzen. Oft vergleicht sie auch einfach das Aussehen der verschiedenen Sammlungsobjekte. Das sei ein weiterer Vorteil des umfangreichen Herbars, sagt Direktorin Susanne Renner, die auch den Lehrstuhl für systematische Botanik an der Ludwig-Maximilians-Universität München leitet:
"Die Wichtigkeit von getrockneten Pflanzen ist auch die, dass es oft viel preiswerter und einfacher ist, morphologische Unterschiede zu benutzen, um zwei oder drei Arten auseinanderzuhalten, als genetische."
Kleine, aber markante Unterschiede, wie etwa Härchen an der Unterseite eines Blattes, reichen oft aus, um zwei Arten oder Unterarten voneinander zu unterscheiden. Welche Pflanzen wie miteinander verwandt sind, ist zum Beispiel für die Landwirtschaft interessant: Denn die wilden Verwandten von Nutzpflanzen besitzen positive Eigenschaften: sie sind häufig resistenter als ihre hoch gezüchteten Artgenossen.
Und je enger zwei Pflanzen miteinander verwandt sind, desto leichter lassen sie sich miteinander kreuzen. Hier hilft die Botanische Staatssammlung München seit mehr als 200 Jahren Forschern in aller Welt.