Unmögliche Mission

Von Bettina Kaps |
Die Zeit der großen Randale auf den Straßen der Pariser Vorstädte ist vorerst vorbei. Präsident Sarkozy verlässt sich nicht mehr allein auf den Hochdruckreiniger, um dort für ein friedliches soziales Umfeld zu sorgen. Er hat ein Entwicklungsprogramm für die Banlieues vorgelegt.
Doch Pläne allein reichen nicht, wie die sogenannten "vordringlichen Bildungszonen" zeigen, die es in Frankreich schon seit über 25 Jahren gibt. Mit mehr Geld und kleineren Klassen sollte das Bildungsniveau angehoben werden. Das Programm hat sich nicht ausgezahlt. Die Leistungen der Schüler haben sich nicht verbessert, es gibt viel Gewalt an den Schulen, und die Lehrer sind frustriert.

Die Ausbilderin Dominique Gallene hat 15 junge Lehrer versammelt, Berufsanfänger, die ihr erstes Jahr unter besonders schwierigen Bedingungen absolvieren. Alle unterrichten in Gegenden, die zu "Zones d´Education Prioritaire" erklärt wurden, zu "vordringlichen Bildungszonen", kurz ZEP genannt. Gallene möchte wissen, welche Erfahrungen die Lehrer in ihren Klassen gemacht haben.

Eine schmale Frau mit braunem Pferdeschwanz stellt sich vor: Alix ist 24 Jahre alt. Sie unterrichtet Biotechnologie und Hauswirtschaft in einer Berufsschule von Champigny, im Osten von Paris.

Alix: "Ich hatte ein Problem mit zwei Schülern. In einer Klasse, in der ich nur sechs Mädchen und einen Jungen habe. Die Mädchen ärgern den Jungen andauernd. Ich konnte das unterbinden. Aber dann musste ich eine Videokassette holen. Ich war drei Sekunden fort. Als ich zurückkam, war eine Schülerin in Tränen aufgelöst, und wiederholte ständig: Er wollte mich töten, er wollte mich töten.

Die anderen Mädchen berichteten, dass der Junge sie gewürgt hatte. Ich war völlig aufgeschmissen. Zum Glück half mir eine Kollegin, die im Nebenraum unterrichtet. Sie nahm das Mädchen zur Seite und so konnte ich mich mit dem Jungen und den übrigen Schülerinnen beschäftigen. Ich trennte sie und sorgte für Ruhe."

Gewalt unter Schülern hat auch Alexandre erlebt. Er unterrichtet Französisch in derselben Berufsschule wie Alix. Und ist entsetzt über die schlechte Ausstattung: Es fehlen Computer, Internetanschlüsse, und es fehlt Personal.

Alexandre: "Vorher dachte ich, es gibt Probleme, aber auch Mittel, um sie zu bewältigen. Jetzt weiß ich, dass es Probleme gibt, aber überhaupt keine Mittel. An unserer Schule wurden letzte Woche 13 Schüler in Handschellen abgeführt, weil sie einen Typen zusammengeschlagen haben. Zuvor sind sie in die Metallwerkstatt gegangen und haben einen Hammer und anderes Werkzeug geklaut. Damit haben sie zugeschlagen."

Wie die meisten Berufsanfänger in den Pariser Trabantensiedlungen stammt Alexandre aus der Provinz: er wuchs in einem Dorf in der Nähe der südfranzösischen Stadt Toulon auf. In der Vorstadtsiedlung von Champigny ist er mit einer Welt konfrontiert, deren Bevölkerung und deren Regeln er nicht kennt. Marion, eine Bretonin, ist den Tränen nahe.

Marion: "In der Klasse kann ich mich nicht umdrehen, weil ich sonst eine Batterie oder ein anderes Wurfgeschoß abkriege. Wenn ich den Raum betrete, bete ich, dass nichts passieren wird. Und sie werden nicht einmal bestraft. Eine Kollegin hat ihre Schüler angezeigt. So weit kann es kommen… Wir fühlen uns bedroht, wir haben Angst, dass sie uns am Ausgang abfangen und schlagen werden. Ich halte es nicht mehr aus in dieser Schule."

Dennoch will die junge Lehrerin die Zähne zusammenbeißen und durchhalten. Genau wie Alexandre, der inzwischen Hilfe bei einem Psychotherapeuten sucht. Denn wer eines Tages in eine Schule seiner Wahl versetzt werden will, muss Punkte sammeln – und die bekommen die jungen Lehrer nur, wenn sie zuvor fünf Jahre lang an ein und derselben Schule gearbeitet haben.

Die "vordringlichen Bildungszonen" wurden 1982 ins Leben gerufen, um soziale, wirtschaftliche und kulturelle Ungleichheiten zu korrigieren. Die Regierung, so hieß es damals wörtlich, wollte "jenen mehr geben, die weniger haben". Mit verstärkten Mitteln und kleineren Klassen sollte das Bildungsniveau angehoben werden. Im ersten Jahr wurden 363 Zonen festgelegt, heute gibt es 895 so genannte vordringliche Bildungszonen. Inzwischen geht jeder fünfte Schüler in Frankreich in einer solchen Zone zur Schule.

Doch das Ergebnis ist gleich null. Die Leistungen der Schüler verbesserten sich nicht. Und die Gelder – 1, 4 Prozent des staatlichen Gesamtbudgets für den Bildungsapparat - verpuffen. Sie fließen vor allem in magere Prämien für die Lehrer dieser Schulen. Die Klassenstärke konnte nur minimal um ein bis zwei Schüler vermindert werden. Eins wurde allerdings erreicht, was das eigentliche Ziel zunichte macht: Schüler, die aus einer ZEP kommen, sind in der Gesellschaft und bei Arbeitgebern stigmatisiert.

Trotz des Lohn-Zuschlags von eintausend Euro im Jahr sind die schwierigen Banlieue-Schulen bei den Lehrern so unbeliebt, dass dort vor allem Berufsanfänger eingesetzt werden. Magali, Mathematiklehrerin an einem Collège, findet das ganz normal.

Magali: "Wenn man Berufserfahrungen gesammelt hat, geht man natürlich lieber an Schulen, an denen es besser läuft. Ich glaube, es gibt keine erfahrenen Lehrer, die einen Schritt zurück machen und freiwillig in den vordringlichen Bildungszonen unterrichten. Dort werden immer die Berufsanfänger arbeiten."

In ihrem jeweiligen Fachgebiet sind die französischen Lehrer bestens ausgebildet. Aber ihr pädagogisches Rüstzeug wiegt nicht schwer. In den Universitätsinstituten für die Lehrerausbildung kommt die praktische Ausbildung nach Ansicht aller Fachleute zu kurz. Zum Glück gibt es die Kollegen: Weil alle im selben Boot sitzen, ist die Solidarität unter den Lehrern groß. Magali konnte im Referendarjahr von ihrer Mentorin ein paar Tricks lernen, die ihr die Arbeit jetzt erleichtern.

Magali: "Früher fing ich an, zu schreien, wenn die Klasse sehr laut war,– genau das ist verkehrt. Der Lehrer muss schweigen und abwarten, bis wieder Ruhe herrscht, dann kann er mit normaler Stimme weiter sprechen. Wenn meine Schüler in die Klasse kommen, lasse ich sie jetzt neben ihren Tischen stehen. Sie holen ihre Schulsachen aus den Taschen und müssen warten. Solange sie nicht still sind, dürfen sie sich nicht setzen. Danach ist es viel einfacher, mit dem Unterricht zu beginnen. Manchmal müssen sie allerdings sehr lange stehen bleiben."

Die Kollegen staunen. So viel Disziplin könnte er bei seinen Schülern nie durchsetzen, sagt Alexandre. Auch er fühlt sich von den Kollegen unterstützt. Die Vorgesetzten bieten allerdings nicht immer Rückhalt.

Alexandre: "Wir sind ganz allein auf uns gestellt. Wir müssen zusehen, wie wir die Klasse in den Griff bekommen. Wenn ich mich an meinen Rektor oder den Inspektor wende, werde ich als schlechter Lehrer abgestempelt. Solange das Problem nicht benannt wird, gibt es kein Problem."

Im Schuljahr 2005 – 2006 ist die Zahl der Frechheiten und Aggressivitäten gegen Lehrer und Aufsichtspersonal in den französischen Schulen erneut um 7 % gestiegen. Das sind die letzten Zahlen, die "Signa" geliefert hat. So hieß ein Computerprogramm des Bildungsministeriums, das es jedem Schuldirektor ermöglichte, kleine und große Zwischenfälle zu melden. Aber Signa gibt es nicht mehr. Ende 2006 veröffentlichte das Wochenmagazin "Le Point" eine Rangliste der gefährlichsten Schulen – daraufhin boykottierten die Direktoren das System. Inzwischen hat das Bildungsministerium ein neues Programm entwickelt, das sich auf ausgewählte Schulen konzentriert und nur die schlimmsten Vorfälle registriert. Die ersten Ergebnisse sollen vor der Sommerpause veröffentlicht werden.

Dominique Gallene, die Ausbilderin, drängt die jungen Lehrer, der "Fédération Autonome de Solidarité" beizutreten. Die FAS ist eine Lehrer-Solidaritätsgemeinschaft. Sie schützt vor Berufsrisiken und leistet allen Mitgliedern juristischen und psychologischen Beistand. Der Verband ist bestens darüber informiert, mit welchen Problemen seine Mitglieder konfrontiert sind. Nach seinen Angaben hat es allein im ersten Halbjahr des laufenden Schuljahres mehr als 5.000 Gewalttaten gegen Lehrer gegeben, die zu einer Klage geführt haben. Roger Crucq ist Vorsitzender der Lehrer-Solidaritätsgemeinschaft.

Roger Crucq: "Wir haben neun Aggressionen pro Tag verzeichnet, dazu zählen Beleidigungen oder Drohungen und es geht bis hin zum Einsatz von Messern. Einmal wurde ein ehemaliger Schüler zu 13 Jahren Haft verurteilt. Er hatte seine Kunstlehrerin, Karen Montet-Toutain, durch Messerstiche schwer verletzt hatte. Kürzlich versuchte ein Schüler einer 6. Klasse, seinen Mathematiklehrer zu erdrosseln. Solche Angriffe verbreiten Angst. Aber diese extremen Gewalttaten sind zurückgegangen. Was hingegen zunimmt, sind Drohungen, Anschuldigungen und vor allem Beleidigungen."

Viele Schüler weigern sich, die Autorität der Lehrer zu akzeptieren. Sie provozieren, testen ihre Grenzen aus. Opfer sind zuerst die eigenen Mitschüler. Sie gehen rücksichtslos und aggressiv miteinander um. Rempeleien und Faustschläge sind die Regel. Die Lehrer sind gezwungen, Polizist zu spielen – in der Hoffnung, irgendwann auch Wissen vermitteln zu können. Solche Spannungen gibt es in vielen Schulen. In den vordinglichen Bildungszonen verhindern sie oft jeglichen Unterricht.

Roger Crucq: "In den Vierteln mit den größten Problemen, wo vor allem Einwandererfamilien leben, wo Frankreich zulässt, dass sich das ganze Elend des Landes in Ghettos konzentriert, dort werden auch Jugendliche mit besonders großen Problemen eingeschult. Die gesellschaftlichen Schwierigkeiten treten in der Schule konzentriert auf. Der Lehrer muss immer mehr Zeit darauf verwenden, Konflikte zu regeln. Für die Wissensvermittlung bleibt kaum noch Platz. Die Gesellschaft schafft es nicht, ihre Probleme zu bewältigen, und verlangt von den Lehrern, dass sie Antworten finden. Das ist eine unmögliche Mission."

Die größten Probleme treten in den berufsorientierten Oberstufen auf. Dorthin schieben die Mittelschulen ihre schwachen und ihre undisziplinierten Schüler ab. Oft werden sie zudem in Fachrichtungen gedrängt, die sie nicht gewünscht haben. In seiner Berufsschule, sagt Alexandre, seien viele Schüler längst volljährig. Sie würden dort nur aufbewahrt.

Alexandre: "Die Schule behält diese Schüler, damit sie nicht auf der Straße herum hängen und dort noch mehr anstellen. In unserem Jargon heißen sie "écoles poubelles", "Mülleimer-Schulen". Bei ihrem Benehmen, müssten sie eigentlich von der Schule fliegen. Aber sie bleiben und auf diese Weise tauchen sie nicht in der Arbeitslosenstatistik auf und werden auch nicht straffällig. Deshalb sind die Abschlüsse dieser Schulen nichts wert."

Auch die Kunstlehrerin Karine Montet-Toutain, die Opfer einer Messerattacke wurde, hat ihre Vorgesetzte beschuldigt, sie würden den Problemen ausweichen. Sie hat ihre Erfahrungen in einem Buch veröffentlicht. Darin schreibt sie:

"Wie in den meisten Schulen dieser Art weigern sich fast alle Lehrer, schlechte Noten zu geben, die angebracht wären. Sie würden aber die Schüler, die ohnehin schon in großen Schwierigkeiten stecken, noch mehr demütigen. Obwohl ihr Niveau extrem schwach ist, begleiten wir diese Jugendlichen also bis zum Berufsabitur. Zumal uns auch das Rektorat in seinen Anweisungen energisch auffordert, diese Jugendlichen in die nächste Klasse zu versetzen. Zuerst widerstrebte es mir, diesen Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Aber es ist schwierig, darauf zu verzichten, ohne das gesamte System zu sprengen."

Das böse Erwachen kommt dann nach dem Abitur, weil die Arbeitgeber nicht nach den Noten, sondern den tatsächlichen Fähigkeiten entscheiden.
Das Collège Elsa Triolet liegt ebenfalls am Stadtrand der Pariser Vorstadt Champigny, nur wenige Schritte von der Berufsschule entfernt. Ein College besteht aus vier Klassenstufen. Hier sind noch alle Schüler gemischt, denn die Aufteilung auf verschiedene Schultypen erfolgt in Frankreich erst nach der neunten Klasse. Das erhöht die Chancengleichheit, sorgt aber auch für Spannungen und Probleme.
Äußerlich macht die Schule einen guten Eindruck: Das Gebäude ist blendend weiß und bildet damit einen Kontrast zu den tristen Hochhäusern rundherum. Die Flure sind ocker, orange und rot gestrichen. Die Lehrer schärfen den Schülern ein, dass sie ihre Schule für sich und ihre kleinen Geschwister instand halten müssen – offenbar mit Erfolg. Schmierereien gibt es nicht.

In der Sporthalle des College Elsa Triolet unterrichtet ein junger Lehrer eine achte Klasse in Boxen. Die meisten Schüler stammen aus afrikanischen, arabischen oder asiatischen Ländern. Nur drei sind europäischer Abstammung, einer ist Franzose und zwei sind Portugiesen. Einige Jungen und Mädchen sitzen auf der Tribüne und warten auf die nächste Runde. Die 14-Jährigen geben zu, dass sie die Lehrer zermürben.

"Wir machen viel Blödsinn. Weil wir oft nichts verstehen. Die Lehrer erklären schlecht. Wir reden laut und werfen mit Radiergummis. Die Lehrer schließen uns für nichts und wieder nichts aus dem Unterricht aus, zum Beispiel der Englischlehrer. Manchmal mache ich ziemlichen Mist in seinem Unterricht."

Mädchen: "In Mathe fangen die Jungen plötzlich an zu singen. Das bringt uns zum Lachen. Einmal hat die Lehrerin geweint, weil sie es nicht mehr aushielt mit uns. Wir Mädchen, wir finden es manchmal ein bisschen hart für die Lehrer, aber andere in der Klasse, die lachen nur, denen ist das egal."

Über 500 Schüler besuchen das College Elsa Triolet. Alle wohnen in der "Cité du Bois l´Abbé", einer Hochhaussiedlung mit den typischen Merkmalen eines französischen Ghettos: Die meisten Bewohner sind Einwandererfamilien, Französisch ist nicht ihre Muttersprache. Ein Drittel der Bevölkerung ist jünger als 20 Jahre. Die Arbeitslosenquote liegt weit über dem Landesdurchschnitt, und Berufsanfänger sind ganz besonders betroffen: Von ihnen ist jeder Fünfte auf Jobsuche. Weil das Geld nicht reicht, kaufen viele Familien hin und wieder auch gestohlene Lebensmittel, die sind billiger. Wer in einem solchen Milieu groß wird, braucht enorme Kraft, um die Schule zu meistern, sagt die Französisch-Lehrerin Sylvie Lalanne.

Lalanne: "Es gibt hier Kinder, die ganz allein aufwachsen. Ich habe schon viele unterrichtet, die als Einzige in der Familie den Wecker stellen müssen. Weil die Eltern arbeitslos sind, und die Großeltern, und der große Bruder… Nur das Kind steht morgens früh auf. Und das mit zwölf Jahren…"

Das schwache Bildungsniveau lässt sich am "Brevet" ablesen, einer landesweiten Prüfung, die einem Realschulabschluss gleich kommt. Im College Elsa Triolet haben letztes Jahr wieder nur 48 Prozent der Schüler die Prüfung bestanden. Landesweit lag die Erfolgsquote bei 82 Prozent. Obwohl "Elsa Triolet" schon seit 27 Jahren eine "vorrangige Bildungszone" ist, konnte das Niveau nicht gehoben werden. Die schlechten Resultate führen dazu, dass ehrgeizige Familien in der Siedlung alles daran setzen, um ihre Kinder anderswo einzuschulen – selbst in katholischen Privatschulen, die Schulgeld kosten. So wird die Spirale nach unten noch verstärkt.

Eine Komposition des Musiklehrers läutet die Pause ein. Zwei Dutzend Männer und Frauen strömen ins Lehrerzimmer. Sie unterhalten sich vor dem Kaffeeautomaten, schauen in ihr Schließfach oder ruhen sich auf den grau gepolsterten Stühlen aus. Die Atmosphäre ist entspannt. Zwei Lehrerinnen tauschen sich aus.

Lehrerin: "Ich habe die 6 A, sie ist besonders schwach. Beim landesweiten Test in Französisch haben zehn Schüler gar nicht geantwortet. Sie haben nicht einmal fünf Zeilen aufs Papier gebracht… Sie schaffen es auch nicht, sich zu konzentrieren. Zwei Stunden, das ist für sie unmöglich."

Chantal Hanselaar, eine lebhafte Frau mit lockigen braunen Haaren, lila Brille und violetter Kleidung, ist nicht überrascht. Sie kennt und mag die Schüler aus den sozial schwachen Familien. Anders als viele ihrer Kollegen will sie nicht in einen besseren Stadtteil wechseln. Hanselaar arbeitet schon 15 Jahre an diesem College. Außerdem unterrichtet sie hier eine spezielle Klasse mit Einwandererkindern, die kein Französisch sprechen. Jetzt endlich, so glaubt sie, kann sie die Probleme ganz gezielt angehen.

Hanselaar: "Wir haben einen Test entworfen, der uns helfen soll, die Schüler mit den größten Schwierigkeiten zu entdecken, damit wir kleine Gruppen für die Nachhilfe zusammenstellen können. Das Problem ist nur: wir haben sehr viele Schüler mit enormen Schwächen."

Ihre Kollegin Laurence Cerchiari ruft laut ins Lehrerzimmer:
"Ich habe euch Formulare ins Fach gelegt, für die Beurteilung der Schüler. Das betrifft alle Klassen. Donnerstag haben wir eine Besprechung mit den Streetworkern und dann versuchen wir, uns so schnell wie möglich um die Schüler zu kümmern, die euch Sorgen machen. Ich verspreche euch keine Wunder. Aber wenn ihr diese Zettel ausfüllt, können wir sofort mit dem Wesentlichen beginnen. Werft die Zettel dann einfach in das Fach mit der Aufschrift "Ambition Réussite"."

"Ambition Réussite", "Mit Ehrgeiz zum Erfolg", so heißt das jüngste Nothilfeprogramm für die Schulen in den sozialen Problemvierteln. Nach den Vorort-Unruhen vom November 2005 stand die französische Regierung unter Handlungszwang und entwickelte rasch eine Reform, die mittelfristig zum Verschwinden der "vordringlichen Bildungszonen" führen dürfte. Kernpunkt: Schüler in den schwächsten Schulen sollen gezielt gefördert werden.

Das Ministerium bestimmte für seine Reform 253 Colleges, "Elsa Triolet" gehört dazu. Zugleich werden auch alle 1700 Grundschulen in ihrem Einzugsgebiet gefördert. Für diese Schulen wurden 1000 Lehrer freigestellt, so genannte "enseignants référents". Der Job ist neu und lässt sich als Koordinationslehrer umschreiben. Die "enseignants référents" sollen schwache Schüler so früh wie möglich identifizieren und dann Projekte entwickeln, um ihnen gezielt zu helfen. Dafür müssen sie nur halb so lange unterrichten.

(Die Lehrer-Gewerkschaft SNES kritisiert das Projekt, weil die Aufgaben der Koordinationslehrer nicht klar definiert sind. Außerdem wurde für das Programm "Mit Ehrgeiz zum Erfolg" kein Geld zur Verfügung gestellt. Um die Koordinationslehrer frei zu stellen, kürzte das Ministerium einfach das Programm aller französischen Mittelschulen um eine Stunde Unterricht pro Woche. Und eins steht fest: Im Schuljahr 2008 / 2009 werden über 11.000 Lehrerstellen gestrichen, betroffen sind auch Schulen in den Problemvierteln.)

Konrektor Alain Chataud glaubt, dass das Förderprogramm "Ambition reussite" seinen Schülern helfen kann.

Chataud: "Dank "Ambition réussite" haben die Schüler zusätzliche Unterrichtsstunden. Wir konzentrieren uns stark auf die sechste Klasse, um ihre enormen Schwächen in Mathematik und Französisch auszugleichen. Außerdem bekommen alle Jahrgänge Unterstützung in Mathematik. Bislang schaffte nur etwa die Hälfte unserer Schüler den Wechsel in die Oberstufe. Unser Ziel ist nun, dass 65 oder sogar 70 Prozent weiterkommen. Wir hoffen, dass es selbst Schüler mit erheblichen Anfangsschwierigkeiten in den 4 Jahren schaffen werden. Ohne "Ambition réussite" wäre es für sie aussichtslos."

Lehrer und Schulleitung fördern die Schüler so intensiv wie möglich, und das Reformprogramm gibt ihnen die Mittel dazu. Mit festem Willen, so Konrektor Chataud, lasse sich zumindest Disziplin erreichen. Wer rempelt oder schlägt, wird im College Elsa Triolet für zwei oder mehr Tage vom Unterricht ausgeschlossen. Wer zu spät kommt, den fängt der Direktor persönlich am Tor ab und verpasst ihm eine Stunde Nachsitzen.

Direktor Chataud: "Ob es Gewalt gibt oder nicht, hängt von der Politik der jeweiligen Schule ab. Die Jugendlichen aus den Siedlungen sind vielleicht gewalttätiger als andere. Aber wenn man innerhalb der Schule strenge Regeln aufstellt und sie konsequent durchsetzt, dann herrscht hier nicht mehr Gewalt als anderswo. Alles andere ist einfach nicht wahr."

Chataud geht hinaus in den Pausenhof. Aufsicht gehört eigentlich nicht zur den Pflichten eines Konrektors. Für ihn aber schon: Chataud will seine Schüler möglichst oft sehen – und von ihnen gesehen werden.