Unruhe im Denken
Seit 1998 stellt der Literaturagent John Brockman jedes Jahr Wissenschaftlern auf der ganzen Welt über seine Internetplattform Edge eine herausfordernde Frage. 2006 griff er einen Vorschlag des Psychologen Steven Pinker auf, der wissen wollte "Was ist Ihre gefährlichste Idee?" Über 100 Antworten sind in dem vorliegenden Buch versammelt.
Die Wissenschaftler geben nicht etwa Auskunft darüber, mit welchen Massenvernichtungswaffen sich der nächste große Knall ihrer Meinung nach am wirkungsvollsten in Szene setzen ließe. Gefährlich an ihren Ideen ist eher ihr Zersetzungspotenzial. Sie untergraben die Moral oder den gesellschaftlichen Konsens, indem sie Liebgewonnenes, Alltägliches oder vermeintlich Unantastbares infrage stellen. Es ist eine Aufforderung, Provokantes zu denken.
Dabei bleibt es nicht aus, dass, was für den einen ein erschreckender Gedanke sein mag, für den anderen eine Belanglosigkeit ist. Es gibt keine Seele, keinen Gott und Religion ist eine zu überwindende Obszönität, lautet die Meinung einer Seite. Gott existiert als emergente Eigenschaft aller Lebewesen, hält ein anderer für denkbar.
Metaphysische Gedanken sind jedoch eher die Ausnahme unter den Antworten. Ideen, die Unruhe im Denken auslösen können, lauern auf den unterschiedlichsten Gebieten. Anthropologisch, sozial, politisch, ökonomisch, medizinisch, physikalisch, philosophisch – die Forscher, zu denen viele bekannte Namen wie Richard Dawkins, Ray Kurzweil, Freeman Dyson, Ernst Pöppel, Lee Smolin, Brian Greene, J. Craig Venter oder Paul Davies gehören, schreiben zumeist aus der Perspektive ihrer jeweiligen Fachrichtung.
Sind wir Marionetten unserer Gene? Existiert unser Ich oder ist es nur eine Chimäre? Haben wir einen freien Willen? Wenn nicht, was heißt das für unsere Gesellschaftsordnung? Sind wir allein im Universum? Ist der Ursprung des Lebens erklärbar? Kann die Wissenschaft allgemeingültige Gesetze finden oder ist sie nur eine Erzählung? Haben Eltern tatsächlich Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder? Löst der zunehmende Individualismus den Kitt unserer Gesellschaft auf? Ist der freie Markt als Garant für Frieden und Wohlstand nur eine Illusion? Ist die Demokratie wirklich die beste Staatsform? Warum sollten wir keine Menschen züchten? Und vor allem: Darf man über manche dieser Ideen überhaupt nachdenken oder ist das nicht an sich schon eine gefährliche Idee?
Man muss Brockman und den Wissenschaftlern dankbar sein. Viel zu selten werden Fragen diskutiert, die an unserem Selbstverständnis als Mensch rütteln oder Überzeugungen und mit ihnen Deutungshoheiten und Herrschaftsstrukturen infrage stellen. Sie sind unbequem. Natürlich hat das Buch einen entscheidenden Nachteil. All diese potenziell gefährlichen Ideen werden im Schnitt nur auf zwei bis drei Seiten angerissen. Es gibt keine Lösungen, keine Antworten, nur Spekulationen, Anregungen, Visionen, Meinungen.
Das Spiel mit den unterschiedlichsten Ideen ist dennoch wertvoll. Denn in der Konfrontation durch die Lektüre offenbaren sich nicht zuletzt die eigenen Schranken im Denken.
Besprochen von Gerrit Stratmann
John Brockman (Hg.): Was ist Ihre gefährlichste Idee? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit denken das Undenkbare
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2009
341 Seiten, 9,95 Euro
Dabei bleibt es nicht aus, dass, was für den einen ein erschreckender Gedanke sein mag, für den anderen eine Belanglosigkeit ist. Es gibt keine Seele, keinen Gott und Religion ist eine zu überwindende Obszönität, lautet die Meinung einer Seite. Gott existiert als emergente Eigenschaft aller Lebewesen, hält ein anderer für denkbar.
Metaphysische Gedanken sind jedoch eher die Ausnahme unter den Antworten. Ideen, die Unruhe im Denken auslösen können, lauern auf den unterschiedlichsten Gebieten. Anthropologisch, sozial, politisch, ökonomisch, medizinisch, physikalisch, philosophisch – die Forscher, zu denen viele bekannte Namen wie Richard Dawkins, Ray Kurzweil, Freeman Dyson, Ernst Pöppel, Lee Smolin, Brian Greene, J. Craig Venter oder Paul Davies gehören, schreiben zumeist aus der Perspektive ihrer jeweiligen Fachrichtung.
Sind wir Marionetten unserer Gene? Existiert unser Ich oder ist es nur eine Chimäre? Haben wir einen freien Willen? Wenn nicht, was heißt das für unsere Gesellschaftsordnung? Sind wir allein im Universum? Ist der Ursprung des Lebens erklärbar? Kann die Wissenschaft allgemeingültige Gesetze finden oder ist sie nur eine Erzählung? Haben Eltern tatsächlich Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder? Löst der zunehmende Individualismus den Kitt unserer Gesellschaft auf? Ist der freie Markt als Garant für Frieden und Wohlstand nur eine Illusion? Ist die Demokratie wirklich die beste Staatsform? Warum sollten wir keine Menschen züchten? Und vor allem: Darf man über manche dieser Ideen überhaupt nachdenken oder ist das nicht an sich schon eine gefährliche Idee?
Man muss Brockman und den Wissenschaftlern dankbar sein. Viel zu selten werden Fragen diskutiert, die an unserem Selbstverständnis als Mensch rütteln oder Überzeugungen und mit ihnen Deutungshoheiten und Herrschaftsstrukturen infrage stellen. Sie sind unbequem. Natürlich hat das Buch einen entscheidenden Nachteil. All diese potenziell gefährlichen Ideen werden im Schnitt nur auf zwei bis drei Seiten angerissen. Es gibt keine Lösungen, keine Antworten, nur Spekulationen, Anregungen, Visionen, Meinungen.
Das Spiel mit den unterschiedlichsten Ideen ist dennoch wertvoll. Denn in der Konfrontation durch die Lektüre offenbaren sich nicht zuletzt die eigenen Schranken im Denken.
Besprochen von Gerrit Stratmann
John Brockman (Hg.): Was ist Ihre gefährlichste Idee? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit denken das Undenkbare
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2009
341 Seiten, 9,95 Euro