Bunt ist die Welt ein wunderbarer Ort
Toleranz, Flucht, Nationalsozialismus oder Fake News: Immer mehr Kinder- und Jugendbücher thematisieren eindrucksvoll moralische und politische Themen. Sie machen den jungen Leserinnen und Lesern klar: Sich einmischen ist wichtig.
Oft sind Kinder- und Jugendbücher aufgrund ihrer Ausstattung sogar besser geeignet, auch schwere Themen anschaulich näherzubringen. Auffallend bei diesem Buchtrend: Neben dem Thema Nationalsozialismus – das schon immer in diesen Büchern thematisiert wurde und immer noch einen Großteil der großartigen Neuerscheinungen ausmacht – gehen einige der aktuellen Bücher das Thema Politik allgemeiner an. Sie werben sehr gezielt für Toleranz und ein ausgewogenes Miteinander, indem sie fragen: Was ist eigentlich normal? Ergänzt werden diese Bücher durch die neue Sachbuchreihe "Carlsen Klartext", die Phänomene wie Populismus, Fake-News oder Extremismus – rechten wie linken – erklärt.
Tagebuch der Anne Frank als Graphic Diary
Anne Franks Tagebuch ist jetzt als Graphic Novel erschienen. Mit seinen eindrücklichen, detaillierten Bildern sorgt es für Gänsehaut und spricht gezielt junge Leser an. Ebenso wie das Bilderbuch "Anne Frank und der Baum", in dem aus Sicht einer Kastanie über Anne Frank erzählt wird. Der Baum wird zum Beobachter, der berichtet, was er sah. Letztendlich fragt er sich, als sein Leben vorbei geht und viele Menschen versuchen, ihn zu retten: Warum haben nur sehr wenige versucht, Anne Frank zu retten? Wie das jüdische Mädchen wird der Baum zu einer Geschichte und genau wie sie lebt er weiter: Seine Samen und Setzlinge sind weltweit eingepflanzt worden.
Auch Sharon E. McKay erinnert in ihrem Buch an die Judenverfolgung durch die Deutschen Nationalsozialisten: Sie erzählt die Geschichte der kleinen Beatrix, die allein zurückbleibt, als ihre Mutter in der Straßenbahn verhaftet wird. Die Sechsjährige wird von den Brüdern Lars und Nils Gorter mitgenommen: Der eine ist der Schaffner, der andere der Fahrer der Straßenbahn in Amsterdam. Die beiden kinderlosen Männer nehmen das Mädchen mit zu sich nach Hause. Drei Jahre lang passen sie auf das Kind auf, geben sie als ihre Nichte aus, besorgen falsche Papiere und riskieren so ihr Leben. Wie Fremde zu Rettern wurden – eindrücklich erzählt dieses Buch vom Mut, von der Kraft, von Freundschaft und Solidarität. Es ist ein hochpolitisches Buch, wenn man bedenkt, was gerade in den USA passiert: wo Kinder von ihren Eltern getrennt werden, sobald Familien versuchen, illegal in die USA einzureisen.
Auf der Suche nach der verlorenen Schwester
"Drei Steine für Betty" von Bettina Kupfer geht in eine ähnliche Richtung. Hier wird die wahre Geschichte von Minnie Rosenblat aus dem Jahr 1940 verwebt mit der Suche nach ihrer Schwester Betty, die sie das letzte Mal als Säugling sah, im Jahr 1917. Erzählt wird es aus Sicht der Enkelin Amit, die das Tagebuch ihrer Oma Minnie liest und sich dann selbst auf die Suche nach Betty macht. Sehr eingängig wird so nicht nur über die Gräuel der Nationalsozialisten erzählt, sondern auch über die Langzeitwirkung dieses dunklen Teils der deutschen Geschichte, aber auch über das jüdische Leben heute in Deutschland. Denn Amit ist Jüdin und lebt in Frankfurt.
Aber wie geht man mit der Schuld der Täter um? Dazu passt Reiner Engelmanns Buch "Der Buchhalter von Auschwitz". Er fragt darin nach der Schuld von Oskar Gröning. Dem ehemaligen SS-Mann wurde im Alter von 93 Jahren der Prozess gemacht, weil er in Auschwitz für das Geld verantwortlich war, das man den Gefangenen abnahm. Wie weit reicht seine Schuld? Trifft Gröning eine moralische Schuld oder ist er aktiv Täter gewesen? Worin liegt der Unterschied? All diese klugen Fragen werden hier verhandelt und zeigen: Es muss immer um die Opfer gehen. Ihre Geschichte ist es, die zählt. Und nur sie können Männer wie Oskar Gröning von ihrer Schuld freisprechen - oder auch nicht. 2015 wurde Gröning verurteilt: zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren.
Darf man als Junge einen Rock tragen?
Viele der neuen Kinder- und Jugendbücher werben ganz gezielt für eine tolerantere Haltung. Es wird sehr bunt und vielschichtig von der Verschiedenheit der Menschen erzählt – zum Beispiel in dem großartigen Buch "Ich so du so: Alles super normal". Bilder, Comics, Fotos, lustige und nachdenkliche Texte und Geschichten zeigen, was früher normal war, etwa dass Lehrer Schüler schlagen durften. Auf einem Bild sieht man eine Kommode mit Schubladen und auf jeder steht was: mutig, arm, hübsch, brav, sportlich. Aus einer der Laden schaut eine Sprechblase heraus, darin steht: Ich will hier raus!
Auf einer anderen Seite wird über die Farben Rosa und Blau geschrieben. Da lernt man, dass Rosa das kleine Rot ist und weil Rot für Mut und Kraft steht, war Rosa früher eine Jungenfarbe. Dazu sieht man Fotos, auf denen Mädchen Jungenkleidung tragen und umgekehrt, Bilder, auf denen Kinder aus aller Welt von ihrem Alltag erzählen. Seite für Seite werben die Buchmacher so dafür, Menschen neu und anders zu betrachten. Und sie machen Mut, so zu sein, wie man ist.
In die gleiche Richtung gehen auch die zwei Bilderbücher "Der Junge im Rock" und "Ein bunter Hund". Beide behandeln das Thema Anderssein. Felix will in den Kindergarten mit Rock gehen. Darf er nicht, weil die Eltern Sorge haben, er könnte gehänselt werden. Als sie schließlich nachgeben, passiert genau das: Felix wird gehänselt. Erst als sein Vater sich auch einen Rock anzieht und sich mit dem Kind solidarisiert, verstummen die anderen. Felix fragt zu Recht: Warum dürfen Mädchen beides tragen – Hose und Rock? Stimmt, warum eigentlich?
Sind alle gleich, ist es langweilig
Auch Rob Biddulph wirbt in seinem "Ein bunter Hund" dafür, selbstbewusst zu sein - auch dann wenn man anders ist als alle anderen, sich anders kleidet oder ein anderes Hobby hat. Erst kunterbunt ist die Welt ein wundervoller Ort. In herrlichen Reimen wird hier von einer Dackeldame erzählt, die sich gern bunt kleidet und immer genau das Gegenteil vom dem macht, was alle andern tun. "Wenn alle schweben, fliegt sie tief. Wenn alle kicken, wirft sie schief." Darum geht sie fort an einen Ort, wo alle so sind wie sie. Erst als sie dort einen Hund trifft, der auch da nicht hineinpasst, wird ihr klar: Sind alle gleich, ist es langweilig und die Bunten braucht es, um auch den andern Mut zu machen, sich zu ändern – und eben bunter zu werden. Das Ganze ist wundervoll gezeichnet in knalligen Farben, die nur so von Lebenskraft strotzen.
Popup-Buch zu den Menschenrechten
Toll gemacht ist auch das Buch "Frei und gleich geboren". Das ist ein großartiges Popup-Buch zu den Menschenrechten. Das kleine Format ist in der Innenansicht ganz groß. Da springt einem beim Öffnen ein silberner Kasten entgegen, in dessen Inneren eine Figur steht, die sich in der silbernen Folie spiegelt. Passender kann man "frei und gleich geboren" kaum abbilden. Auf einer anderen Seite geht eine Schranke auf – wenn es darum geht, den Aufenthaltsort frei zu wählen. Beim Thema "Schutz und Menschenrechte" schwebt die Figur beschützt in mehreren blauen Kreisen über der Buchseite. Eine wunderbare Geisteshaltung steht hinter jeder dieser kleinen Skulpturen und jede lässt einen nachdenklich zurück.
Der Wunsch nach einem magischen Stift
Eine ganz andere Machart schlägt die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai in ihrem Kinderbuch "Malalas magischer Stift" ein, in dem sie ihre eigene Geschichte erzählt und davon, dass sie sich immer solch einen magischen Stift gewünscht hat, mit dem sie die Welt besser machen könnte. War es anfangs noch der Wunsch, den Gestank in ihrer Heimat wegzumalen, ein Schloss an die Tür, einen Fußball für ihre Brüder, Kleider, - es endet bei der Freiheit für alle. Dann lernte die Autorin: Sie muss schreiben und von ihren Wünschen erzählen. Erst dann kann man etwas ändern. Heute ist es ein Chor, der Malalas Wünsche laut ausspricht und allein dadurch ist ihre Stimme noch lauter und wichtiger geworden.
Über Extremismus, Fake News und Populismus
Schnell auf aktuelle politische Themen reagieren - das zeichnet vor allem die neue Sachbuchreihe im Carlsen Verlag aus. "Carlsen Klartext" heißt sie und behandelt sehr klug Themen wie Extremismus, Fake News oder Populismus. Immer sind die Autoren jüngere Journalisten Anfang dreißig. Die Bände sind nie dicker als 180 Seiten, sie kosten 6,99 Euroo. Und das Beste ist: Sie sind wirklich gut geschrieben, verständlich, klar und holen junge Menschen da ab, wo sie stehen. Sie informieren und fordern auf, sich mit zentralen Themen unserer Zeit auseinanderzusetzen. Damit gehört diese Reihe ganz klar zur Pflichtlektüre für junge Menschen, die kritisch denken und sich fundiert eine eigene Meinung bilden wollen. Ein neuer Band ist schon in Planung: dann zum Thema Feminismus.
All diese Kinder und Jugendbücher machen klar: Sich einmischen ist wichtig, sich eine eigene Meinung bilden auch. Beides geht nur, wenn man Zusammenhänge erkennt und Ursachen nachspürt. Nur so lernt man Demokratien schätzen - und verteidigen. Dadurch, dass in diesen Büchern sehr konkret erzählt wird, sehr anschaulich, mit überzeugenden und interessanten Perspektiven, finden auch schon junge Leser und Leserinnen schnell Anknüpfungspunkte. Geschichte wird so erlebbar - auch für Kinder, wenn sie haptisch und ästhetisch anspruchsvoll bearbeitet ist. Wunderbar, dass es diese Bücher gibt und dass die Verlage sich nicht scheuen, dieser Aufgabe fantasie- und lustvoll zu begegnen.
Bücherliste
Rob Biddulph, Ein bunter Hund, übersetzt von Steffen Jacobs, Diogenes, Zürich 2018, 32 Seiten, 16,- Euro
Kerstin Brichzin, Der Junge im Rock, mit Illustrationen von Igor Kuprin, minedition, Bargtheheide 2018, 32 Seiten, 13,95 Euro
Carlsen Klartext:
- Anja Reumschüssel, Extremismus, Carlsen, Hamburg 2018, 176 Seiten, 6,99 Euro
- Karoline Kuhla, Fake News, Carlsen, Hamburg 2017, 192 Seiten, 6,99 Euro
- Jan Ludwig, Populismus, Carlsen, Hamburg 2018, 176 Seiten, 6,99 Euro
Reiner Engelmann, Der Buchhalter von Auschwitz. Die Schuld des Oskar Gröning, cbj, München 2018, 220 Seiten, 16 Euro
Jean-Marc Fiess, Frei und gleich geboren: Die Menschenrechte, Sauerländer, Frankfurt/Main 2017, 18 Seiten, 15 Euro
Ari Folman/ David Polonsky, Das Tagebuch der Anne Frank: Graphic Diary, übersetzt von Mirjam Pressler, Klaus Timmermann und Ulrike Wasel, S. FISCHER, Frankfurt/Main 2017, 160 Seiten, 20 Euro
Jeff Gottesfeld, Anne Frank und der Baum: Der Blick durch Annes Fenster, mit Illustrationen von Peter McCarty, übersetzt von Mirjam Pressler, Sauerländer Frankfurt /Main, 2018, 40 Seiten, 16,99 Euro
Bettina Kupfer, Drei Steine für Betty, Jacoby & Stuart, 2018, 192 Seiten, 15 Euro
Labor Ateliergemeinschaft, Ich so du so: Alles super normal, Beltz & Gelberg, Weinheim 2018 176 Seiten, 16,95 Euro
Peer Martin, Was kann einer schon tun? Oetinger, Hamburg 2017, 107 Seiten, 8,99 Euro
Sharon E. McKay, Die letzte Haltestelle. Cbj, München 2017, mit Illustrationen von Timo Grubing, übersetzt von Bettina Obrecht, 176 Seiten, 14,99 Euro
Malala Yousafzai, Malalas magischer Stift, mit Illustrationen von Kerascoët, übersetzt von Elisa Martins, NordSüd, Zürich 2018, 48 Seiten, 16 Euro