Unter der Knute kirchlicher Verbote

Jeanette Winterson: "Ich las mich selbst als Geschichte."
Jeanette Winterson: "Ich las mich selbst als Geschichte." © picture alliance / dpa / Fiona Hanson
Jeanette Winterson im Gespräch mit Frank Meyer |
In ihrem Roman "Warum glücklich statt einfach nur normal?" arbeitet die britische Schriftstellerin Jeanette Winterson ihre Kindheit als adoptierte Tochter in einer fundamental christlichen Pfingstlerfamilie auf. "Das Schreiben war meine notwendige Form, um das zu überleben", sagt sie.
Frank Meyer: Was die britische Autorin Jeanette Winterson von ihrer Kindheit erzählt, das ist schrecklich und komisch zugleich. Jeanette Winterson ist als adoptierte Tochter in eine Familie von fundamentalistischen Christen geraten, Anhänger der Pfingstkirche, bei denen so gut wie alles verboten war: Alkohol und Zigaretten und Sex vor der Ehe, Kino und sogar Bücher – außer Erbauungsliteratur.

Wenn Jeanette Winterson als Kind gegen eines der vielen Verbote verstoßen hatte, wurde sie in die Dunkelheit gesperrt, in den Kohlenkeller. Oder sie wurde aus dem Haus ausgesperrt, manchmal musste sie nächtelang vor dem Haus in der Kälte sitzen. Jeanette Winterson hat nun ein Erinnerungs-Buch an diese Kindheit veröffentlicht – unter dem Titel "Warum glücklich statt einfach nur normal?"

Ich habe vor der Sendung mit ihr gesprochen und zuerst gefragt: Sie haben sich schon einmal in einem Buch mit Ihrer Kindheit auseinandergesetzt, in ihrem Debütroman "Orangen sind nicht die einzige Frucht", der zu einem großen Erfolg wurde. Überhaupt sind Sie heute eine sehr angesehene Autorin – und dennoch kehren Sie jetzt, als gestandene Frau von Mitte 50, noch einmal zu ihrer Kindheit zurück. Warum? Was hat sie da nicht losgelassen?

Jeanette Winterson: Ich wollte eigentlich nicht zu diesem Material zurückkehren. Aber ich habe alte Papiere, alte, eingestaubte Briefe und Papiere gefunden, die mich dazu gebracht haben, mich mit der Geschichte meiner biologischen Mutter auseinanderzusetzen. Und ich habe dann herausgefunden, dass die Geschichten, die meine Adoptivmutter über meine wirkliche Mutter erzählt hat, alles Lügen waren. Sie war also sehr talentiert darin, sich Geschichten auszudenken. Und so begann ich also, nach meiner wirklichen Mutter zu suchen, und ich begann, diese Suche in einem Tagebuch zu dokumentieren.

Und weil ich zwischendurch immer wieder Dinge vergessen habe – ich habe eigentlich ein gutes Gedächtnis, aber es war alles so aufregend und es hat mich so überwältigt, dass ich irgendwie auch dicht gemacht habe. Also habe ich angefangen, diese Dinge aufzuschreiben. Und aus dieser Schrift entwickelte sich dann diese Geschichte, und mein Kindheitsleben, meine ganz frühen Erinnerungen kamen plötzlich wieder in den Fokus. Und aus all diesem Material habe ich dann das Buch geschrieben. Das war für mich genauso überraschend wie für alle anderen auch.

Meyer: Das Zentrum dieser Kindheit, das ist Ihre Adoptivmutter. Sie zitieren immer wieder einen Satz, den Ihre Mutter gesagt hat, Ihre Adoptivmutter: Der Teufel hat uns ans falsche Bett geführt, also was bedeutet, dass damals in dem Kinderhospital, in dem Sie ausgesucht wurden, der Teufel eben Ihrer Adoptivmutter das falsche Kind zugeführt hat. War das das Grundgefühl, dass Ihre Mutter Ihnen gegeben hat? Du bist das falsche Kind, du bist der falsche Mensch, ja, sogar, der Teufel hat dich zu mir gebracht?

Winterson: Meine Mutter erzählte mir mein Leben, als sei es ein Märchen. Sie war ja wirklich eine Geschichtenerzählerin. Und wenn man Dinge hört wie, dass der Teufel einen ans falsche Bett geführt hat und man im falschen Bett lag, dann ist das ein Märchen, das ist eine ausgedachte Geschichte, wie von den Brüdern Grimm. Und so war es für mich auch. Mein Leben war für mich eine Geschichte, wie ein Märchen, ich sah mich praktisch selbst, ich las mich selbst als Geschichte. Und das gibt einem zwischen der Realität und dem Erfundenen auch eine gewisse Freiheit, seine Geschichte selber zu wählen, selber zu steuern.

Meyer: Aber wenn Sie das jetzt so sagen, klingt das so, als wäre das eigentlich ein beglückender Satz, der Sie dazu gebracht hat, später Schriftstellerin zu werden. Wenn ich mir vorstelle, ich höre das als Kind, das muss doch schrecklich sein für einen als Kind, wenn einem die eigene Mutter sagt: Der Teufel hat dich zu mir gebracht.

Winterson: Es war schon enttäuschend, aber meine Mutter gab mir viele Geschenke in meinem Leben. Das waren dunkle Geschenke, aber es waren auch Gaben. Und ich begann, mit dem Schreiben dagegen anzukämpfen. Ich schrieb sozusagen meinen Weg da heraus. Und das war jetzt nicht irgendwie ein Drang, zu schreiben, oder eine Berufung oder so was – es war meine notwendige Form, um das zu überleben.

Meyer: Zu dieser Welt Ihrer Mutter, die selbst ja ein sehr enger, zwanghafter Mensch war, dazu gehörte auch die Art Religion, die Ihre Mutter, Ihre Adoptivmutter für sich gefunden hatte und die irgendwie auch sehr zu ihr passte: Sie gehörte zu einer Pfingstlergemeinde mit ganz rigiden Regeln und Vorschriften. Sie selbst mussten jeden Tag als Kind zum Gottesdienst, außer donnerstags, ein freier Tag. Dieses Leben in dieser Pfingstlergemeinde mit all den Vorschriften, die es da gab – was hat das für Sie bedeutet als Kind?

Winterson: Ich glaube nicht, dass man das als Problem darstellen sollte. Man sollte es nicht so beschreiben, als sei es eine Problematik an sich. Ich wollte dort sein, ich fand das ja auch aufregend, es war bewegend, in diesen Umständen aufzuwachsen. Und die Pfingstkirchen und all diese protestantischen Kirchen sind ja nicht umsonst in der Arbeiterklasse so beliebt gewesen, die gaben auch einer Sache Struktur, die sonst vielleicht keine gehabt hätte. Sie haben unser Leben geformt, und nicht alles daran war jetzt reine Unterdrückung oder nur furchtbar, es gab auch vieles, was nützlich war gegebenenfalls. Und es war in diesem Sinne auch nicht schädlich für mich oder es war nicht schädlich an sich, es war eher etwas verrückt, etwas exzentrisch, und es hat mich geformt. Und von daher fühle ich auch kein Bedauern.

Meyer: Aber wenn man daran denkt, auch das schreiben Sie in Ihrem Buch, als Sie dann mit 16 merken, dass Sie andere Mädchen lieben, dass Sie lesbisch lieben und Sie das Ihrer Mutter sagen, dann wird das in der Gemeinde bekannt und dann wird eine Teufelsaustreibung mit Ihnen gemacht. Ich glaube, das ging drei Tage, um diesen Teufel der lesbischen Liebe aus Ihnen auszutreiben mit der halben Gemeinde um sich herum. War das auch nur aufregend oder ist das nicht auch bedrohlich für einen jungen Menschen?

Winterson: Oh ja, das war schon furchtbar. Da war aber auch schon einiges schiefgelaufen. Also als ich noch jünger war – als Kind, in den 60ern –, habe ich natürlich akzeptiert, was meine Eltern gemacht haben, wie Kinder das so tun, für sie ist das normal, für sie ist das ihr Leben. Wir hatten ja auch kein Fernsehen, wir waren sozusagen isoliert von der anderen Welt da draußen. Wir kannten keine andere Welt, es gab für uns nichts anderes.

Und wenn ich mich nicht in dieses andere Mädchen verliebt hätte, wäre ich möglicherweise weiterhin den Weg der Kirche gegangen und hätte das Gleiche weitergemacht. Meine Wahl zeigte sich dann aber sehr deutlich zwischen der Liebe einerseits und dem Hass und der Macht, den ich bei ich diesem Exorzismus und bei den Praktiken der Kirche kennengelernt habe. Und das wiederum half mir, die Kirche und ihre Lehre auf eine ganz neue Art und Weise zu sehen, und das hat alles verändert.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, die britische Autorin Jeanette Winterson ist bei uns, wir reden über ihr autobiografisches Buch "Warum glücklich statt einfach nur normal?" Was ich ganz erstaunlich fand an Ihrem Buch und auch beglückend, ist die radikale Offenheit, mit der Sie da über sich reden, auch über gescheiterte Beziehungen, über einen Selbstmordversuch, über Selbstgespräche, die Sie immer wieder mit sich geführt haben, mit einer wahnhaften Seite oder Stimme, die Sie lange Zeit begleitet hat, und am Ende auch über Ihre Suche nach Ihrer leiblichen Mutter.

Das war relativ spät in Ihrem Leben, da waren Sie selbst schon Ende 40, das ist, nebenbei gesagt, auch ein kleines Lehrstück über die Auswüchse der britischen Bürokratie, diese Suche nach der Mutter und die zahlreichen Formulare, die dafür auszufüllen waren. Sie haben Ihre leibliche Mutter dann tatsächlich gefunden und sie kennengelernt. Man hat den Eindruck, dass es eine sehr sympathische Frau ist, die auch sehr auf Sie zugeht und mit Ihnen neu anfangen möchte. Aber man hat auch den Eindruck, dass Sie das eigentlich nicht wollen oder nicht können, eine Beziehung mit Ihrer leiblichen Mutter beginnen, eine echte. Woran lag das?

Winterson: Man trifft seine Mutter nicht einfach so mit 50 und hat sofort eine innige Verbindung zu ihr und diese mütterlichen Gefühle. Also das kann man nicht erwarten. 50 Jahre ist eine wirklich lange Zeit. Und wir waren aber beide froh darüber, dass wir diese Geschichte gefunden haben, dass wir diese Geschichte sozusagen beenden konnten. Und keine Mutter gibt einfach so ihr Kind weg und findet es dann einfach mal so wieder. Das ist natürlich etwas, was einen bewegt, alle adoptierten Kinder wissen das, dass das einen bewegt, um zu erfahren, wer das war und so weiter. Und meine Mutter und ich, wir haben uns gegenseitig geholfen, aber wir sind gleichzeitig bei allem anderen, was wir haben, spüren, empfinden, wie wir sind, so weit auseinander, dass da sozusagen diese gemeinsame Basis für so eine Beziehung vielleicht auch gefehlt hat.

Zu diesem Punkt haben mir sehr viele Leute geschrieben, die es gelesen haben. Ich habe E-Mails bekommen, in denen die Leute mir gedankt haben, dass ihre Schuldgefühle nun weg sind, weil sie selber immer das Gefühl hatten, dass sie keine wirkliche Verbindung zu ihren biologischen Eltern herstellen konnten und das Gefühl hatten, dass das an ihnen lag, dass sie schuld daran waren. Aber das kann man so einfach nicht sagen. Man kann nicht erwarten, dass sich am Ende nach so einer langen Zeit ein Happy End im Hollywood-Stil anschließt.

Meyer: Aber hätten Sie sich gewünscht, dass Sie Ihrer leiblichen Mutter früher wieder begegnet wären, dass es einfacher auch gewesen wäre, dass es für ein adoptiertes Kind auch leichter hätte sein sollen, den Kontakt zu den leiblichen Eltern wiederzufinden? Sie mussten ja sehr lange danach suchen, Rechtsanwälte einschalten und so weiter, das war wirklich ein harter Weg dazu.

Winterson: Jetzt ist es leicht. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in England und in den USA haben Kinder jetzt das Recht, Informationen über ihre leiblichen Eltern zu erhalten und Zugang zu ihnen. Und in der Vergangenheit wurde halt immer geglaubt, dass man ein Kind einfach so nehmen kann und woanders wieder einpflanzen kann in diesem Sinne, und das hat man ja gesehen, dass das nicht so einfach funktioniert.

Und in diesem Sinne ist es natürlich besser, die eigene Geschichte zu kennen und seine Informationen zu erhalten, und dahingehend hat sich die Gesellschaft auch wirklich verbessert. Aber in meinem Fall war es so, dass ich ja schon ein paar verrückte Eltern hatte und ich brauchte nicht wirklich noch ein zweites. Und ich war vorher vielleicht auch psychisch noch gar nicht so weit, an dem Punkt, das das hätte funktionieren können. Der Zeitpunkt, zu dem es geschah, war genau richtig. Und so ist das halt auch, dass große Dinge wirklich immer zufällig passieren im Leben.

Meyer: Jeanette Winterson, ihr Buch heißt "Warum glücklich statt einfach nur normal?", ist erschienen im Hanser Berlin Verlag. Monika Schmalz hat es aus dem Englisch übersetzt. Für 18,90 Euro ist dieses Buch zu haben. Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.



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