Unter der Obhut Himmlers
1937 bringt Eleonore von Brüning in einem Lebensborn-Heim eine uneheliche Tochter zur Welt: Heilwig wächst, nachdem ihre Mutter einen hohen Nazi-Funktionär geheiratet hat, in den höchsten Kreisen des Regimes auf. Das Ende des Krieges bedeutet auch das Ende des privilegierten Lebens. Dorothee Schmitz-Köster zeichnet in ihrem Buch "Kind L 364" die Geschichte der Familie nach.
Es ist eine Geschichte über Schicksal, Schuld und Verdrängung, über Täter, Mitläufer, Opfer. Die Geschichte einer deutschen Familie, zugleich ein rechtes Gruselstück. Die Hauptfiguren: eine Adelige, hohe Naziführer, ein blondes Mädchen. Die Schauplätze: ein Haus des Lebensborn-Vereins der SS, ein Anwesen in Bayern sowie ein Gut in Mecklenburg, zwei Konzentrationslager, ein Gefängnis mit Hinrichtungstrakt.
Erste Protagonistin der Geschichte ist Eleonore von Brüning, Jahrgang 1904, verwitwet, eine erfolgreiche Grafikerin und Mutter einer Tochter. 1937 wird Eleonore wieder schwanger, doch der Liebhaber hat schon Frau und Kinder. Um Aufsehen zu vermeiden, zieht Eleonore vom Landsitz Brünings-Au in das Lebensborn-Heim Steinhöring, knapp fünfzig Kilometer vor München. Lebensborn garantiert "arischen" Schwangeren ohne Ehemann eine Entbindung im Verborgenen.
Ende 1937 besucht Heinrich Himmler das Heim, der "Reichsführer SS". Er sieht Frau von Brüning und ist beeindruckt – groß, schlank, blond, sein Idealbild. "Was machen Sie denn hier?", fragt der zweitmächtigste Mann im Nazistaat. Acht Wochen später bringt Eleonore ein Mädchen zur Welt, Heilwig Hadwiga, das Kind "L 364"; von Himmler kommt ein Blumenstrauß.
Eine Bindung entsteht. Parteigenossin Eleonore schreibt dem "lieben Reichsführer" lange Briefe; der SS-Bonze revanchiert sich mit Tee, Kaffee, Schokolade, und er vermittelt ihr einen neuen Mann: Oswald Pohl, SS-Oberführer und General. Pohl wird Chef aller SS-Betriebe, zuständig auch für die Konzentrationslager. Sein Amt ist Umschlagstelle für Gold, Haare, Kleidung der Ermordeten. Auf seine Weisung renovieren Häftlinge das Anwesen Brünings-Au.
Hochzeit im Kriegsjahr 1942, Hitler schickt Orchideen. Oswald Pohl adoptiert die kleine Heilwig. Die Familie lebt auf einem SS-Versuchsgut, Comthurey bei Fürstenberg. Frau Eleonore genießt das Leben im Herrenhaus – mit Dutzenden Häftlingen als Domestiken. Kleider lässt sie in den KZs schneidern, in Dachau, im nahen Ravensbrück; zur Anprobe nimmt sie die Kinder mit. Ab und an schaut Himmler auf dem Gut vorbei, Klein-Heilwig geht stolz an seiner Hand.
1947 wird Pohl als Kriegsverbrecher verurteilt, 1951 in Landsberg gehenkt. Eleonore bleibt ihrer Überzeugung treu. Niemals, sagt sie, würde sie "einen deutschen Soldaten" verraten. Den Reichsführer SS nennt sie noch lange nach dem Krieg "gütig" und "ritterlich". 1968 nimmt sie sich das Leben.
Die Tochter, Heilwig, muss plötzlich mit unverschuldeter Schmach leben, unehelich im Lebensborn geboren, der "Vati" ein Schreibtischtäter. Gleichaltrige bewerfen sie ("Nazischwein!") in Bayern mit Steinen, mehrere Gymnasien verweigern dem "Verbrecherkind" die Aufnahme. Spät erfährt sie, dass Pohl nicht ihr Vater ist. Heilwig verschließt sich, schweigt. Sie heiratet 1967, bekommt Kinder, schweigt weiter – bis die Kinder selbst auf das bittere Erbe stoßen.
Vor kurzem hat Heilwig ihre Biographie einer Journalistin erzählt, Dorothee Schmitz-Köster aus Bremen (Jahrgang 1950). 1997 erschien ihr Buch "Deutsche Mutter, bist du bereit. Alltag im Lebensborn". Gemeinsam haben sie die Lebensstationen der Familie besucht, sie haben Fotos gesichtet, Dokumente. Nun liegt ein doppeltes Lebensbild vor, von "Kind L 364" und seiner Mutter. Ein gut lesbares Buch, in schlichtem Ton erzählt. Die Mängel: zu viele Nebenpersonen, zu viele Seitenstränge, Verästelungen, keine Quellenangaben zu Fakten und Zitaten, zu wenig Distanz zwischen Autorin und Stoff.
Die skandalträchtige Institution Lebensborn wurde in jüngerer Zeit oft beschrieben; viele der Kinder oder Enkel von Tätern wagten eine Auseinandersetzung. Was ist neu an Schmitz-Kösters Werk, außergewöhnlich? Vordergründig bedient das Buch den Voyeurismus und spielt – ein weiteres Mal – mit der Faszination des Grauens. Das Besondere ist also nicht das Schicksal der beiden Frauen. Bedenkenswert sind scheinbare Nebensächlichkeiten: Dass Eleonores bayerische Nachbarn nach dem Krieg so aggressiv reagierten, mitschuldig, mitverantwortlich auch sie. Dass Eleonore bis zu ihrem Tod SS-Chef Himmler nur als "Nothelfer" sah. Dass sich Tochter Heilwig in seltsamer Verkennung der Situation noch heute schuldig fühlt, schuldig der Mutter gegenüber. Und dass die Autorin aus Mitgefühl einige Deutungsmuster ihrer Informantin übernahm. Dem Lebensborn, das ist das Verdienst von Dorothee Schmitz-Köster, nimmt die Journalistin viel von seiner klebrig-düsteren Aura. Nicht "Zuchtanstalt" sei der Verein gewesen, kein Edelpuff, in dem SS-Hünen mit blonden Maiden arischen Nachwuchs produzierten, aber Sozialstation für ledige Mütter war er auch nicht. Denn Rassenpolitik, das betont die Verfasserin, wurde sehr wohl betrieben.
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Dorothee Schmitz-Köster: Kind L 364. Eine Lebensborn-Familiengeschichte
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2007
270 Seiten, 19,90 Euro
Erste Protagonistin der Geschichte ist Eleonore von Brüning, Jahrgang 1904, verwitwet, eine erfolgreiche Grafikerin und Mutter einer Tochter. 1937 wird Eleonore wieder schwanger, doch der Liebhaber hat schon Frau und Kinder. Um Aufsehen zu vermeiden, zieht Eleonore vom Landsitz Brünings-Au in das Lebensborn-Heim Steinhöring, knapp fünfzig Kilometer vor München. Lebensborn garantiert "arischen" Schwangeren ohne Ehemann eine Entbindung im Verborgenen.
Ende 1937 besucht Heinrich Himmler das Heim, der "Reichsführer SS". Er sieht Frau von Brüning und ist beeindruckt – groß, schlank, blond, sein Idealbild. "Was machen Sie denn hier?", fragt der zweitmächtigste Mann im Nazistaat. Acht Wochen später bringt Eleonore ein Mädchen zur Welt, Heilwig Hadwiga, das Kind "L 364"; von Himmler kommt ein Blumenstrauß.
Eine Bindung entsteht. Parteigenossin Eleonore schreibt dem "lieben Reichsführer" lange Briefe; der SS-Bonze revanchiert sich mit Tee, Kaffee, Schokolade, und er vermittelt ihr einen neuen Mann: Oswald Pohl, SS-Oberführer und General. Pohl wird Chef aller SS-Betriebe, zuständig auch für die Konzentrationslager. Sein Amt ist Umschlagstelle für Gold, Haare, Kleidung der Ermordeten. Auf seine Weisung renovieren Häftlinge das Anwesen Brünings-Au.
Hochzeit im Kriegsjahr 1942, Hitler schickt Orchideen. Oswald Pohl adoptiert die kleine Heilwig. Die Familie lebt auf einem SS-Versuchsgut, Comthurey bei Fürstenberg. Frau Eleonore genießt das Leben im Herrenhaus – mit Dutzenden Häftlingen als Domestiken. Kleider lässt sie in den KZs schneidern, in Dachau, im nahen Ravensbrück; zur Anprobe nimmt sie die Kinder mit. Ab und an schaut Himmler auf dem Gut vorbei, Klein-Heilwig geht stolz an seiner Hand.
1947 wird Pohl als Kriegsverbrecher verurteilt, 1951 in Landsberg gehenkt. Eleonore bleibt ihrer Überzeugung treu. Niemals, sagt sie, würde sie "einen deutschen Soldaten" verraten. Den Reichsführer SS nennt sie noch lange nach dem Krieg "gütig" und "ritterlich". 1968 nimmt sie sich das Leben.
Die Tochter, Heilwig, muss plötzlich mit unverschuldeter Schmach leben, unehelich im Lebensborn geboren, der "Vati" ein Schreibtischtäter. Gleichaltrige bewerfen sie ("Nazischwein!") in Bayern mit Steinen, mehrere Gymnasien verweigern dem "Verbrecherkind" die Aufnahme. Spät erfährt sie, dass Pohl nicht ihr Vater ist. Heilwig verschließt sich, schweigt. Sie heiratet 1967, bekommt Kinder, schweigt weiter – bis die Kinder selbst auf das bittere Erbe stoßen.
Vor kurzem hat Heilwig ihre Biographie einer Journalistin erzählt, Dorothee Schmitz-Köster aus Bremen (Jahrgang 1950). 1997 erschien ihr Buch "Deutsche Mutter, bist du bereit. Alltag im Lebensborn". Gemeinsam haben sie die Lebensstationen der Familie besucht, sie haben Fotos gesichtet, Dokumente. Nun liegt ein doppeltes Lebensbild vor, von "Kind L 364" und seiner Mutter. Ein gut lesbares Buch, in schlichtem Ton erzählt. Die Mängel: zu viele Nebenpersonen, zu viele Seitenstränge, Verästelungen, keine Quellenangaben zu Fakten und Zitaten, zu wenig Distanz zwischen Autorin und Stoff.
Die skandalträchtige Institution Lebensborn wurde in jüngerer Zeit oft beschrieben; viele der Kinder oder Enkel von Tätern wagten eine Auseinandersetzung. Was ist neu an Schmitz-Kösters Werk, außergewöhnlich? Vordergründig bedient das Buch den Voyeurismus und spielt – ein weiteres Mal – mit der Faszination des Grauens. Das Besondere ist also nicht das Schicksal der beiden Frauen. Bedenkenswert sind scheinbare Nebensächlichkeiten: Dass Eleonores bayerische Nachbarn nach dem Krieg so aggressiv reagierten, mitschuldig, mitverantwortlich auch sie. Dass Eleonore bis zu ihrem Tod SS-Chef Himmler nur als "Nothelfer" sah. Dass sich Tochter Heilwig in seltsamer Verkennung der Situation noch heute schuldig fühlt, schuldig der Mutter gegenüber. Und dass die Autorin aus Mitgefühl einige Deutungsmuster ihrer Informantin übernahm. Dem Lebensborn, das ist das Verdienst von Dorothee Schmitz-Köster, nimmt die Journalistin viel von seiner klebrig-düsteren Aura. Nicht "Zuchtanstalt" sei der Verein gewesen, kein Edelpuff, in dem SS-Hünen mit blonden Maiden arischen Nachwuchs produzierten, aber Sozialstation für ledige Mütter war er auch nicht. Denn Rassenpolitik, das betont die Verfasserin, wurde sehr wohl betrieben.
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Dorothee Schmitz-Köster: Kind L 364. Eine Lebensborn-Familiengeschichte
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2007
270 Seiten, 19,90 Euro