Sinologin Jo Smith Finley von der britischen Newcastle Universitiy forscht seit 30 Jahren über Uiguren. Im Podcast der Weltzeit erklärt sie, wie sich Repressionen gegenüber muslimischen Minderheiten in Xinjiang seit 2016 verschärft haben. Letztlich gehe es bei allen Maßnahmen um das "Ausradieren der Uiguren als eigenständige Kultur".
Das Auslöschen einer Kultur
24:13 Minuten
Nach Recherchen über die extrem gesunkene Geburtenrate in Xinjiang sprechen Wissenschaftler vom "Genozid" an Uiguren. Chinas Kommunistische Partei rechtfertigt ihre Politik gegen muslimische Minderheiten als Terrorbekämpfung.
"Der Kampf gegen Terrorismus in Xinjiang" – so heißt eine Dokumentation im chinesischen Staatsfernsehen CGTN. Darin versucht China propagandistisch, seine Politik in Xinjiang zu rechtfertigen: dramatische Musik, martialische Bilder, schnell gegeneinander geschnitten. Hier die beeindruckenden Wüsten, Oasenstädte und Hochgebirge in Xinjiang – dort die dramatischen Bilder von Terroranschlägen: betonierende Bomben auf menschenvollen Plätzen und Straßen.
Das Narrativ der chinesischen Regierung ist dabei immer gleich, auch in dieser Dokumentation: Chinas Politik in der Uiguren-Region Xinjiang als Beitrag im internationalen Kampf gegen den Terrorismus. So formuliert es auch Xinjiangs Vize-Gouverneur Erken Tuniyaz.
"Terrorismus und Extremismus sind die gemeinsamen Feinde der Menschheit. Zwei Feinde, die die internationale Gemeinschaft gemeinsam bekämpft. Die chinesische Regierung lehnt jede Form von Terrorismus und Extremismus ab."
2009 gab es Unruhen und Tote in Ürümqi
Die muslimische Minderheit der Uiguren klagt seit Jahrzehnten über Diskriminierung und Unterdrückung. In Xinjiangs Hauptstadt Ürümqi kam es 2009 zu Protesten von Uiguren, bei denen auch Han-Chinesen angegriffen wurden. Nach offiziellen Angaben kamen damals 197 Menschen ums Leben und mehr als 1600 wurden verletzt. Für die chinesische Regierung waren diese blutigen Unruhen ein Grund, die Repressionen in der Uiguren-Region Xinjiang zu erhöhen. Der Konflikt ist weiter eskaliert.
Die UN, westliche Regierungen, Wissenschaftler, Medienberichte und Menschenrechtler werfen China vor, ein beispielloses Kontroll- und Umerziehungsregime gegen Uiguren und andere Muslime in Xinjiang eingerichtet zu haben. Mehr als eine Million Muslime sollen dabei in politischen Umerziehungslagern interniert worden sein. China dagegen spricht von Trainings- und Ausbildungszentren, so auch Xu Hairong, Parteisekretär der Kommunistischen Partei in Ürümqi.
"Unsere Arbeit in den Ausbildungszentren ist fruchtbar und effektiv. Im Wesentlichen erreichen wir damit drei Dinge: Zum einen retten wir Menschen, die dem religiös-extremistischen Lager zugerechnet werden und bereits terroristische Verbrechen begangen haben. Zum anderen entziehen wir dem religiösen Extremismus den Nährboden. Und zum Dritten schützen wir damit das Grundrecht der Bürger auf ein sicheres Leben, das nicht von Extremismus oder Terrorismus bedroht wird."
Anteil der Han-Chinesen stieg von vier auf 45 Prozent
China behauptet, die Uiguren und andere muslimische Minderheiten wie die Kasachen seien freiwillig in den Lagern. Das Staatsfernsehen zeigt passend dazu gerne Filme mit lächelnden Uiguren in Lernklassen, die singen, tanzen und fröhlich sind. Für den Pekinger Regierungskritiker Zhang Lifan ist der Konflikt in Xinjiang eine Folge der jahrzehntelangen Politik Chinas, die Uiguren zu marginalisieren.
"Vor Gründung der Volksrepublik haben die Han-Chinesen nur vier Prozent der Bevölkerung in Xinjiang ausgemacht. Von Mao Zedong bis heute ist dieser Anteil aber auf 45 Prozent gestiegen. Das ist der zentrale Grund für die ethnischen Konflikte: die Ausbeutung der Ressourcen in Xinjiang durch die Bevölkerungsgruppe der Han-Chinesen."
Uigurische Frauen wurden massenweise sterilisiert
Systematisch wurden über Jahrzehnte Han-Chinesen in der autonomen Region Xinjiang angesiedelt. Die Uiguren sind zur Minderheit in ihrer eigenen Heimat geworden. Laut einer Studie und Recherchen der US-Nachrichtenagentur AP und anderer westlicher Medien versucht China in Xinjiang außerdem, die Geburtenraten unter muslimischen Minderheiten mit drakonischen Mitteln zu senken.
Der Wissenschaftler Adrian Zenz von der Jamestown-Foundation hat dazu offizielle Regierungsdokumente und Statistiken ausgewertet. Pläne zur Geburtenverhinderung, mit genauen Budgets und Zielvorgaben.
"Dazu gehört der massenweise Einsatz von Spiralen und anderen Langzeitverhütungsmitteln, die auch nicht selbst entfernt werden können, sowie eine Kampagne, uigurische Frauen im gebärfähigen Alter massenweise zu sterilisieren."
Die chinesische Regierung weist die Vorwürfe der systematischen Geburtenkontrolle und -verhinderung zurück. Ebenso die Existenz der politischen Umerziehungslager. Der Parteisekretär der Kommunistischen Partei in Ürümqi, Xu Hairong.
Die chinesische Regierung weist die Vorwürfe der systematischen Geburtenkontrolle und -verhinderung zurück. Ebenso die Existenz der politischen Umerziehungslager. Der Parteisekretär der Kommunistischen Partei in Ürümqi, Xu Hairong.
"Ich will noch mal betonen: Es gibt keine sogenannten Internierungslager in Xinjiang. Die Berichte der New York Times, des Internationalen Netzwerks investigativer Journalisten und anderer internationaler Medien sind lediglich heimtückische Verzerrungen der Wirklichkeit. Sie dienen nur dazu, unsere Ausbildungs- und Trainingszentren in Xinjiang zu verunglimpfen. Diese sind aber dafür da, Terrorismus zu bekämpfen und Extremismus auszulöschen!"
Forscher Adrian Zenz: "Demografischer Genozid"
China führt bei jeder Gelegenheit die vermeintlichen politischen Erfolge in Xinjiang an: wachsende Wirtschaft, bessere Lebensbedingungen, harmonische und stabile Gesellschaft. Internationale Beobachter, Experten und Kritiker fordern dagegen, die Lage in Xinjiang neu zu bewerten. Forscher Adrian Zenz spricht von demografischem und kulturellem Genozid. Und der chinesische Regierungskritiker Zhang Lifan sieht Xinjiang als ein sehr spezielles Modellprojekt.
"Die Region Xinjiang ist ein Testfeld, in der Chinas Zentralregierung neue Technologien ausprobiert, um die Menschen zu überwachen und zu kontrollieren. Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus Xinjiang können dann landesweit von Nutzen sein und eingesetzt werden. Die politische Führung in Peking glaubt, dass dies der einzige Weg ist, das Land unter Kontrolle zu halten und zu managen. Ansonsten sieht sie es bedroht."
Im Namen von Sicherheit und Stabilität ist Xinjiang danach zu einem beispiellosen Überwachungs- und Unterdrückungsstaat geworden. Religionsfreiheit und die kulturelle Selbstbestimmung der Uiguren und anderer muslimischer Turkvölker werden immer weiter eingeschränkt. Kritik aus dem Westen, auch Sanktionen der USA wegen Chinas Xinjiang-Politik, haben bislang keine Wirkung. Die politische Führung in Peking zeigt sich davon unbeeindruckt.