Untergegangen, aber nicht verschwunden
Gibt es nach 300 Jahren widersprüchlicher Preußen-Rezeption einen nüchternen Blick auf den Staat, der Deutschland entscheidend mitgeprägt? Was ist übrig geblieben von der "preußischen Legende" im 21. Jahrhundert? Ein Rückblick wird unternommen auf den Flötespielenden "Fritz", das "Säbelrasseln" und die Sekundärtugenden, und auf das Preußenbild in der DDR bis hin zur Wiederentdeckung im neuen Jahrtausend.
Im Brandenburg der Großen Koalition wird ganz offen mit dem Preußen-Vorbild geworben. Ministerpräsident Matthias Platzeck sprach vor Jahresfrist von der Rückbesinnung auf positive preußische Tugenden wie "Anständigkeit, Verlässlichkeit und Pflichterfüllung".
"Ich bin nun mal ein Preuße und freue mich, es zu sein."
Theodor Fontane, 1849. Preußen ist 148 Jahre und er ist 30 Jahre alt und Apotheker. Den Beruf wird er aufgeben, er will sein "Leben auf den Vers" zu stellen. Als freischaffender Dichter und Journalist. Eine kühne Entscheidung. Gerade eine Novelle und ein paar Gedichte hat er veröffentlicht. Aber Fontane ist "bienenfleißig", schreibt über "Männer und Helden", preußische Feldherren und – bekommt eine Anstellung im preußischen Innenministerium.
"Alle Märker sind auch Preußen."
Und gelegentlich hugenottischer Abstammung - Henri Théodore Fontane. Aufgewachsen in Neuruppin, Mark Brandenburg, bald Provinz Preußen im Deutschen Kaiserreich. Zu Fuß und mit der Feder wandert er die Heimat ab. Vier Bände markieren den Weg, die Eindrücke, die Geschichte und Geschichten. Akribisch, schnörkellos, loyal. Preußisch.
"Ich bin in einer märkischen Marktstadt zu Hause: Gymnasium, Kreisgericht, zwei Bataillone und ein Regimentsstab. Das sind preußische Städte. In diesen Städten gibt es, wie überall, Liberale, Demokraten, Monarchisten, aber alle sind sie Preußen, die das Gefühl von der Besonderheit ihres Könnens, von den Großtaten ihrer Fürsten beständig gegenwärtig haben."
Notiert er in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg". Nach über 3000 Seiten Wanderung sagt er zu seinen Preußen:
"Man nehme sie fort und alles fällt auseinander, das große gegenwärtige Preußen und Deutschland mit. Jeden einzelnen könnte man in Gold fassen."
Vorerst ist nur Sand. Preußen, Mark Brandenburg, die Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches. Es dauert ein paar Jahrhunderte, bis aus märkischen Rübenäckern die preußische Idee keimt.
Eigentlich liegt Preußen weit weg. Eine Landschaft im nordöstlichen Mitteleuropa, zwischen Königsberg und Danzig. Seit Menschengedenken wohnen dort die heidnischen Pruzzen, ein baltischer Volksstamm.
Groß und blond sind sie, notiert der Römer Tacitus im ersten Jahrhundert nach Christus. Aber er hat auch nur von ihnen gehört. Erst 900 Jahre später traut sich jemand in die Gegend zwischen Weichsel und Memel. Adalbert von Prag will aus den Pruzzen Christenmenschen machen. Doch die Bauern am Ostseestrand haben ihre eigenen Götter. Sie schlagen Adalbert kurzerhand tot.
Von den wilden Pruzzen am Rande Europas bleibt nur ein Name übrig: Preußen.
Fontane: "Wir besaßen damals weder Schönheit der Natur noch Hoheit der Sitten, weder Hervorbringung der Kunst noch Liebenswürdigkeit der Menschen; nichts hatten wir, aber auch nicht einen Mann, durch den wir für Gesamtdeutschland ein Glück, ein Segen, ein Muster gewesen wären. Mark Brandenburg war der Letzte in der Klasse: unmanierlich, malpopre, faul. Aber derselbe dreißigjährige Krieg, der die Marken so geistig nichtig vorfand und sie verarmt und verwüstet hinterließ, dieser selbe schreckliche Krieg streute auch zugleich die Samenkörner für die Zukunft aus."
Fakten mit märkischem Schriftzug.
"Da kam ein kluges Fürstengeschlecht ins Land und schuf einen Staat und die Entstehungsgeschichte desselben muss in ihrer Art als bewundernswert gelten. Aus einem ziemlich wertlosen Rohmaterial entstand etwas relativ Gutes."
Die hohenzollerschen Kurfürsten von Brandenburg erben 1618 das Herzogtum Preußen. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 ist das Land verwüstet. Aber nicht am Ende. Friedrich Wilhelm, genannt der Große Kurfürst, setzt auf Soldaten und Haushaltspläne. Und Nachfolger Friedrich III. setzt sich 1701 in Königsberg die Krone auf. Die wochenlangen Feierlichkeiten begeistern das Volk und ruinieren fast die Staatskassen. In Europas Königshäusern ist man amüsiert über den "eitlen Tropf", der noch nicht einmal ein richtiges Schloss hat.
Sein Sohn, der "Soldatenkönig", hat nur noch Augen für seine "Langen Kerls". Sie müssen 1,88 groß sein. Er sucht sie sich in ganz Europa zusammen. Als der "Soldatenkönig" stirbt, zählt die Armee über 80.000 Mann, ist die viertstärkste in Europa.
Die Familie ist entsetzt über den militärischen Ton am Hofe, vor allem sein Sohn, der spätere Friedrich der Große. Dessen Lieblingsphilosoph Voltaire, der lange in Potsdam lebt, nennt den König einen "Vandalen". Friedrich Wilhelm lacht über die schönen Künste und ernennt seinen Hausgelehrten Gundling zum "Lustigen Rat". Viele Wissenschaftler der berühmten Universität Viadrina in Frankfurt/Oder fliehen aus seinem Königreich. Da ist keine Luft mehr für die schönen Künste, schreibt ein Professor. Nur Drill, Disziplin, Gehorsam.
Aber das Königreich Preußen macht Karriere.
Fontane: "Denn ich muss doch den ‚alten Fritz’, obschon er König von Preußen war, auch noch nebenher als ‚Brandenburger’ fassen dürfen. Auch wenn er nur französisch sprach, er wusste sich seinem Volk verständlich zu machen."
Und kümmerte sich auch um die deutsche Sprache. Fontane weiß das. Eine Schrift Friedrich II. wird es auf den notwendigen Punkt bringen: "Über die deutsche Literatur, die Mängel, die man ihr vorwerfen kann, welches ihre Ursachen sind und mit welchen Mitteln man sie beheben kann." Kleinere Irrtümer inbegriffen, ein großer Wurf.
"Werfen wir noch einen Blick auf jene ersten Jahre nach der Trockenlegung des Oderbruchs. 1300 Kolonistenfamilien sollen angesetzt werden. Aber wo die Menschen hernehmen? Jede Familie erhielt neunzig bis zwanzig Morgen Ackers von dem entwässerten Boden. Jegliche Religionsausübung war frei. Der König ließ sechs neue Kirchen bauen, setzte vier Prediger, zwei reformierte, zwei lutherische, ein und gab jedem Dorf eine Schule."
"Ich bin der erste Diener meines Staates", sagt Friedrich II., den sie später den Großen nennen, als er sich die Tugenden des verhassten Vaters zueigen macht. Und: er hat eine profitable Idee. Alle Religionen sind gleich gut, sagt der – wenn überhaupt – Protestant, "und wenn Türken und Heiden kämen, und wollen das Land peupliren, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen."
Es spricht sich in Europa herum, dass man in Preußen nach seiner Facon selig werden kann. Während die absolutistischen Fürsten die Nase rümpfen, kommen 300.000 Flüchtlinge ins Land. Für Friedrich eher eine vernünftige, denn eine moralische Angelegenheit.
Friedrich II. heißt der Große, weil er ein erfolgreicher Kriegsherr ist. Er macht Preußen zu einer europäischen Großmacht, fordert von den Preußen "Staatsräson", auch auf dem Schlachtfeld.
Der Alte aus Sanssouci ist kein beliebter Mann in Europa. Die österreichische Kaiserin hasst ihn, die russische Zarin ebenfalls. Weil er so erfolgreich ist. "Preußisch" gilt als Schimpfwort in den Salons von Wien oder St. Petersburg. Preußisch bedeutet: Keine Leichtigkeit, keinen Prunk, keine barocke Lebensart.
Fontane: "Von Freiheit keine Rede. Und daran kranken wir noch. Aller gegebenen und gesetzlich garantierten Freiheit zum Trotz sind wir innerlich unfrei geblieben und teilen uns nach wie vor in Regierende und Regierte. Die Selbstständigkeit fehlt, die Initiative; wir erwarten nach wie vor alles von der Regierung. Wir finden es bequem und vorteilhaft, uns regieren zu lassen."
Fontane notiert dies in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" 1878. Manchmal zweifelt der Gesinnungspreuße an seinen Landsleuten.
"Es geht uns in Erscheinung und Auftreten etwas Freies, Sicheres, Weltmännisches dadurch verloren. Was sich davon zeigt, fällt dann leicht in die Übertreibung und nimmt Formen der Unbildung und Unsalonfähigkeit an, - wir werden verassessort und verreserveleutnantet!"
Preußens Glanz und Gloria. Dauert – streng genommen – von 1740 bis 1871. Von Friedrich dem Großen bis zur Gründung des deutschen Kaiserreiches. Vorher ist Preußen ein Nichts, danach ein Teil Deutschlands. Dazwischen eine Großmacht. 130 Jahre. Ein Emporkömmling unter den alten europäischen Reichen.
Mit einer magischen Anziehungskraft. Alle großen Namen sind keine preußischen. Der Staatsreformer Stein kommt aus dem Hessischen, Hardenberg aus Hannover. Die Feldherren Scharnhorst und Gneisenau sind keine gebürtigen Preußen. Preuße zu sein, ist eine Entscheidung.
Preußische Tugenden. Nicht alle finden sie positiv. Im Deutschen Reich des 19. Jahrhunderts spottet man über den Staat, der nur aus Beamten und Militärs zu bestehen scheint. Die Süddeutschen frösteln beim Anblick der "slawischen Bauern, die mit etwas französischer Firniss überzogen" sind. Der schwäbische Liberale Friedrich Theodor Vischer atmet Stubenluft in Preußen. So eng ist es, kein Vergleich zu Österreich, das die Luft des Himmels und des Meeres verströmt.
Man fährt nicht gern nach Preußen, es soll unwirtlich sein, hinter der Elbe, das "russische Deutschland", militärisch und autoritär.
Fontane: "Der König hatte nicht vergessen, dass es sächsische Truppen gewesen, die das Schloss Charlottenburg geplündert hatten, und voll Begier nach Revanche gab er beim Einrücken in Sachsen sofort Befehl, Schloss Hubertusburg zu plündern. Der Befehl zur Ausführung traf unseren Marwitz, der damals Oberst war. Dieser schüttelte den Kopf. Nach einigen Tagen fragte ihn der König bei Tisch, ob Schloss Hubertusburg ausgeplündert sei. ‚Nein’, erwiderte der Oberst. ‚Warum nicht?’ fuhr der König auf. ‚Weil sich dies allenfalls für Offiziere eines Freibataillons schicken würde, nicht aber für den Kommandeur von Seiner Majestät Gensdarmes’."
Fontane, der Bürger, würdigt am preußischen Offizier, was zu würdigen ist. In den "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" beschreibt er ausführlich das Gut des Johann Friedrich Adolf von der Marwitz, der sich Friedrich dem Großen zu widersetzen wagte. Auf dessen Grab, notiert Fontane, steht die Inschrift:
"Johann Friedrich Adolf. Er sah Friedrichs Heldenzeit und kämpfte mit ihm in allen seinen Kriegen. Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte."
Das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche: "Üb immer Treu und Redlichkeit, bis an dein kühles Grab." Es spielt von 1797 bis zum 15. April 1945. Dann stürzt es zusammen.
Es erklang auch am 21. März 1933, am "Tag von Potsdam". Hitler stellt sich in der Garnisonkirche in eine Reihe mit Friedrich II. und Bismarck. Der senile Reichspräsident von Hindenburg reicht ihm die Hand. Das Militär applaudiert.
"Üb immer Treu und Redlichkeit, bis an dein kühles Grab" ertönt auch am 11. April 1943. Zwei junge Burschen haben Konfirmation. Der Vater, Henning von Tresckow, einst vom Führer begeistert, ist nun einer der Köpfe des militärischen Widerstandes vom 20. Juli. In seiner Rede in der Garnisonkirche gibt er den Söhnen folgenden Worte mit auf den Weg: "Vom wahren Preußentum ist der Begriff der Freiheit niemals zu trennen. Wahres Preußentum heißt Synthese zwischen Bindung und Freiheit, zwischen selbstverständlicher Unterordnung und richtig verstandenem Herrentum. Ohne diese Verbindung läuft es Gefahr, zu seelenlosem Kommiss und engherziger Rechthaberei herab zu sinken."
Im Schlachtenlärm des II. Weltkrieges geht die preußische Idee endgültig unter. Der geflohene Preuße Sebastian Haffner schreibt nach dem Krieg in seinem Buch "Preußen ohne Legende": "Pflichterfüllung ist richtig und angebracht, solange der Staat, dem man diente, ordentlich und anständig blieb. Die Grenzen und Gefahren der preußischen Pflichtreligion haben sich erst unter Hitler gezeigt."
Fontane: "Einsamkeit auch hier. Sie klang wie ein Idyll aus alten Zeiten und schuf dem Herzen ein süßes Glück. Ich wurde des stillen Lebens, das aus diesen Bildern zu mir sprach, nicht müde. In Front des Hauses stand ein uralter Birnbaum, in der einen Hälfte abgestorben, aber in der anderen noch frisch und mit Früchten bedeckt."
Immer wieder findet Fontane in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" die Einsamkeit. Ein typischer Zustand für diesen Landstrich, notiert er. Keine liebliche Landschaft wie Bayern, sondern karg und – sandig. Wie geschaffen für nüchterne Pflichtmenschen.
"Das ist es, was mir imponiert. Immer da sein, wenn Not am Mann ist. Die wirklich Vornehmen, die gehorchen, nicht einem Machthaber, sondern dem Gefühl ihrer Pflicht.
Ich bin nun mal ein Preuße und freue mich, es zu sein."
Preußen ist von der Landkarte verschwunden. Ein "Eselstritt gegen den toten Löwen", meint der Dichter Golo Mann. Im Westen hat man panische Angst, dass das tote Preußen noch aus dem Grab nach der braven Bundesrepublik greift, wie der Verleger und Preußenfreund Wolf Jobst Siedler schreibt.
In der DDR sehen viele das "rote Preußen" – arm und gehorsam. Die Regierung lässt die Preußenschlösser in Berlin und Potsdam sprengen.
1990 formt sich aus der Konkursmasse der ehemals preußischen Territorien das Land Brandenburg mit der alten preußischen Residenzstadt Potsdam als Regierungssitz.
Das Land sucht seine Identität. Die Sachsen sind Sachsen, die Thüringer sind Thüringer. Alte Kulturlandschaften. Aber Brandenburg ist ein Kunstgebilde - wie Preußen. Doch letzteres hatte eine Idee.
"Wir brauchen Preußen, um unsere Identität zu finden und Mut zu machen!", sagt 2001 Ministerpräsident Manfred Stolpe anlässlich des 300. Jubiläums der Königskrönung. Stolpe will das alte Preußen aus der Schublade holen. Das gute alte Preußen.
Fontane: "Das Pflichtgefühl der Märker, ihr Lerntrieb, ihr Ordnungssinn, ihre Sparsamkeit – das ist ihr Bestes. Und das sind auch die Eigenschaften, wodurch sie’s zu was gebracht haben."
Fontane glaubt an seine Landsleute. Er schreibt nicht gerne schlecht über sie. Die "Wanderungen" über staubige märkische Landstraßen machen die Sicht klarer.
"Im Übrigen sind sie neidisch, schabernackisch und engherzig und haben den ridikülen Zug, alles, was sie besitzen oder leisten, für etwas ganz Ungeheures anzusehen. Ja, es sind tüchtige, aber eingeengte Leute."
"Ich bin nun mal ein Preuße und freue mich, es zu sein."
Theodor Fontane, 1849. Preußen ist 148 Jahre und er ist 30 Jahre alt und Apotheker. Den Beruf wird er aufgeben, er will sein "Leben auf den Vers" zu stellen. Als freischaffender Dichter und Journalist. Eine kühne Entscheidung. Gerade eine Novelle und ein paar Gedichte hat er veröffentlicht. Aber Fontane ist "bienenfleißig", schreibt über "Männer und Helden", preußische Feldherren und – bekommt eine Anstellung im preußischen Innenministerium.
"Alle Märker sind auch Preußen."
Und gelegentlich hugenottischer Abstammung - Henri Théodore Fontane. Aufgewachsen in Neuruppin, Mark Brandenburg, bald Provinz Preußen im Deutschen Kaiserreich. Zu Fuß und mit der Feder wandert er die Heimat ab. Vier Bände markieren den Weg, die Eindrücke, die Geschichte und Geschichten. Akribisch, schnörkellos, loyal. Preußisch.
"Ich bin in einer märkischen Marktstadt zu Hause: Gymnasium, Kreisgericht, zwei Bataillone und ein Regimentsstab. Das sind preußische Städte. In diesen Städten gibt es, wie überall, Liberale, Demokraten, Monarchisten, aber alle sind sie Preußen, die das Gefühl von der Besonderheit ihres Könnens, von den Großtaten ihrer Fürsten beständig gegenwärtig haben."
Notiert er in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg". Nach über 3000 Seiten Wanderung sagt er zu seinen Preußen:
"Man nehme sie fort und alles fällt auseinander, das große gegenwärtige Preußen und Deutschland mit. Jeden einzelnen könnte man in Gold fassen."
Vorerst ist nur Sand. Preußen, Mark Brandenburg, die Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches. Es dauert ein paar Jahrhunderte, bis aus märkischen Rübenäckern die preußische Idee keimt.
Eigentlich liegt Preußen weit weg. Eine Landschaft im nordöstlichen Mitteleuropa, zwischen Königsberg und Danzig. Seit Menschengedenken wohnen dort die heidnischen Pruzzen, ein baltischer Volksstamm.
Groß und blond sind sie, notiert der Römer Tacitus im ersten Jahrhundert nach Christus. Aber er hat auch nur von ihnen gehört. Erst 900 Jahre später traut sich jemand in die Gegend zwischen Weichsel und Memel. Adalbert von Prag will aus den Pruzzen Christenmenschen machen. Doch die Bauern am Ostseestrand haben ihre eigenen Götter. Sie schlagen Adalbert kurzerhand tot.
Von den wilden Pruzzen am Rande Europas bleibt nur ein Name übrig: Preußen.
Fontane: "Wir besaßen damals weder Schönheit der Natur noch Hoheit der Sitten, weder Hervorbringung der Kunst noch Liebenswürdigkeit der Menschen; nichts hatten wir, aber auch nicht einen Mann, durch den wir für Gesamtdeutschland ein Glück, ein Segen, ein Muster gewesen wären. Mark Brandenburg war der Letzte in der Klasse: unmanierlich, malpopre, faul. Aber derselbe dreißigjährige Krieg, der die Marken so geistig nichtig vorfand und sie verarmt und verwüstet hinterließ, dieser selbe schreckliche Krieg streute auch zugleich die Samenkörner für die Zukunft aus."
Fakten mit märkischem Schriftzug.
"Da kam ein kluges Fürstengeschlecht ins Land und schuf einen Staat und die Entstehungsgeschichte desselben muss in ihrer Art als bewundernswert gelten. Aus einem ziemlich wertlosen Rohmaterial entstand etwas relativ Gutes."
Die hohenzollerschen Kurfürsten von Brandenburg erben 1618 das Herzogtum Preußen. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 ist das Land verwüstet. Aber nicht am Ende. Friedrich Wilhelm, genannt der Große Kurfürst, setzt auf Soldaten und Haushaltspläne. Und Nachfolger Friedrich III. setzt sich 1701 in Königsberg die Krone auf. Die wochenlangen Feierlichkeiten begeistern das Volk und ruinieren fast die Staatskassen. In Europas Königshäusern ist man amüsiert über den "eitlen Tropf", der noch nicht einmal ein richtiges Schloss hat.
Sein Sohn, der "Soldatenkönig", hat nur noch Augen für seine "Langen Kerls". Sie müssen 1,88 groß sein. Er sucht sie sich in ganz Europa zusammen. Als der "Soldatenkönig" stirbt, zählt die Armee über 80.000 Mann, ist die viertstärkste in Europa.
Die Familie ist entsetzt über den militärischen Ton am Hofe, vor allem sein Sohn, der spätere Friedrich der Große. Dessen Lieblingsphilosoph Voltaire, der lange in Potsdam lebt, nennt den König einen "Vandalen". Friedrich Wilhelm lacht über die schönen Künste und ernennt seinen Hausgelehrten Gundling zum "Lustigen Rat". Viele Wissenschaftler der berühmten Universität Viadrina in Frankfurt/Oder fliehen aus seinem Königreich. Da ist keine Luft mehr für die schönen Künste, schreibt ein Professor. Nur Drill, Disziplin, Gehorsam.
Aber das Königreich Preußen macht Karriere.
Fontane: "Denn ich muss doch den ‚alten Fritz’, obschon er König von Preußen war, auch noch nebenher als ‚Brandenburger’ fassen dürfen. Auch wenn er nur französisch sprach, er wusste sich seinem Volk verständlich zu machen."
Und kümmerte sich auch um die deutsche Sprache. Fontane weiß das. Eine Schrift Friedrich II. wird es auf den notwendigen Punkt bringen: "Über die deutsche Literatur, die Mängel, die man ihr vorwerfen kann, welches ihre Ursachen sind und mit welchen Mitteln man sie beheben kann." Kleinere Irrtümer inbegriffen, ein großer Wurf.
"Werfen wir noch einen Blick auf jene ersten Jahre nach der Trockenlegung des Oderbruchs. 1300 Kolonistenfamilien sollen angesetzt werden. Aber wo die Menschen hernehmen? Jede Familie erhielt neunzig bis zwanzig Morgen Ackers von dem entwässerten Boden. Jegliche Religionsausübung war frei. Der König ließ sechs neue Kirchen bauen, setzte vier Prediger, zwei reformierte, zwei lutherische, ein und gab jedem Dorf eine Schule."
"Ich bin der erste Diener meines Staates", sagt Friedrich II., den sie später den Großen nennen, als er sich die Tugenden des verhassten Vaters zueigen macht. Und: er hat eine profitable Idee. Alle Religionen sind gleich gut, sagt der – wenn überhaupt – Protestant, "und wenn Türken und Heiden kämen, und wollen das Land peupliren, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen."
Es spricht sich in Europa herum, dass man in Preußen nach seiner Facon selig werden kann. Während die absolutistischen Fürsten die Nase rümpfen, kommen 300.000 Flüchtlinge ins Land. Für Friedrich eher eine vernünftige, denn eine moralische Angelegenheit.
Friedrich II. heißt der Große, weil er ein erfolgreicher Kriegsherr ist. Er macht Preußen zu einer europäischen Großmacht, fordert von den Preußen "Staatsräson", auch auf dem Schlachtfeld.
Der Alte aus Sanssouci ist kein beliebter Mann in Europa. Die österreichische Kaiserin hasst ihn, die russische Zarin ebenfalls. Weil er so erfolgreich ist. "Preußisch" gilt als Schimpfwort in den Salons von Wien oder St. Petersburg. Preußisch bedeutet: Keine Leichtigkeit, keinen Prunk, keine barocke Lebensart.
Fontane: "Von Freiheit keine Rede. Und daran kranken wir noch. Aller gegebenen und gesetzlich garantierten Freiheit zum Trotz sind wir innerlich unfrei geblieben und teilen uns nach wie vor in Regierende und Regierte. Die Selbstständigkeit fehlt, die Initiative; wir erwarten nach wie vor alles von der Regierung. Wir finden es bequem und vorteilhaft, uns regieren zu lassen."
Fontane notiert dies in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" 1878. Manchmal zweifelt der Gesinnungspreuße an seinen Landsleuten.
"Es geht uns in Erscheinung und Auftreten etwas Freies, Sicheres, Weltmännisches dadurch verloren. Was sich davon zeigt, fällt dann leicht in die Übertreibung und nimmt Formen der Unbildung und Unsalonfähigkeit an, - wir werden verassessort und verreserveleutnantet!"
Preußens Glanz und Gloria. Dauert – streng genommen – von 1740 bis 1871. Von Friedrich dem Großen bis zur Gründung des deutschen Kaiserreiches. Vorher ist Preußen ein Nichts, danach ein Teil Deutschlands. Dazwischen eine Großmacht. 130 Jahre. Ein Emporkömmling unter den alten europäischen Reichen.
Mit einer magischen Anziehungskraft. Alle großen Namen sind keine preußischen. Der Staatsreformer Stein kommt aus dem Hessischen, Hardenberg aus Hannover. Die Feldherren Scharnhorst und Gneisenau sind keine gebürtigen Preußen. Preuße zu sein, ist eine Entscheidung.
Preußische Tugenden. Nicht alle finden sie positiv. Im Deutschen Reich des 19. Jahrhunderts spottet man über den Staat, der nur aus Beamten und Militärs zu bestehen scheint. Die Süddeutschen frösteln beim Anblick der "slawischen Bauern, die mit etwas französischer Firniss überzogen" sind. Der schwäbische Liberale Friedrich Theodor Vischer atmet Stubenluft in Preußen. So eng ist es, kein Vergleich zu Österreich, das die Luft des Himmels und des Meeres verströmt.
Man fährt nicht gern nach Preußen, es soll unwirtlich sein, hinter der Elbe, das "russische Deutschland", militärisch und autoritär.
Fontane: "Der König hatte nicht vergessen, dass es sächsische Truppen gewesen, die das Schloss Charlottenburg geplündert hatten, und voll Begier nach Revanche gab er beim Einrücken in Sachsen sofort Befehl, Schloss Hubertusburg zu plündern. Der Befehl zur Ausführung traf unseren Marwitz, der damals Oberst war. Dieser schüttelte den Kopf. Nach einigen Tagen fragte ihn der König bei Tisch, ob Schloss Hubertusburg ausgeplündert sei. ‚Nein’, erwiderte der Oberst. ‚Warum nicht?’ fuhr der König auf. ‚Weil sich dies allenfalls für Offiziere eines Freibataillons schicken würde, nicht aber für den Kommandeur von Seiner Majestät Gensdarmes’."
Fontane, der Bürger, würdigt am preußischen Offizier, was zu würdigen ist. In den "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" beschreibt er ausführlich das Gut des Johann Friedrich Adolf von der Marwitz, der sich Friedrich dem Großen zu widersetzen wagte. Auf dessen Grab, notiert Fontane, steht die Inschrift:
"Johann Friedrich Adolf. Er sah Friedrichs Heldenzeit und kämpfte mit ihm in allen seinen Kriegen. Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte."
Das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche: "Üb immer Treu und Redlichkeit, bis an dein kühles Grab." Es spielt von 1797 bis zum 15. April 1945. Dann stürzt es zusammen.
Es erklang auch am 21. März 1933, am "Tag von Potsdam". Hitler stellt sich in der Garnisonkirche in eine Reihe mit Friedrich II. und Bismarck. Der senile Reichspräsident von Hindenburg reicht ihm die Hand. Das Militär applaudiert.
"Üb immer Treu und Redlichkeit, bis an dein kühles Grab" ertönt auch am 11. April 1943. Zwei junge Burschen haben Konfirmation. Der Vater, Henning von Tresckow, einst vom Führer begeistert, ist nun einer der Köpfe des militärischen Widerstandes vom 20. Juli. In seiner Rede in der Garnisonkirche gibt er den Söhnen folgenden Worte mit auf den Weg: "Vom wahren Preußentum ist der Begriff der Freiheit niemals zu trennen. Wahres Preußentum heißt Synthese zwischen Bindung und Freiheit, zwischen selbstverständlicher Unterordnung und richtig verstandenem Herrentum. Ohne diese Verbindung läuft es Gefahr, zu seelenlosem Kommiss und engherziger Rechthaberei herab zu sinken."
Im Schlachtenlärm des II. Weltkrieges geht die preußische Idee endgültig unter. Der geflohene Preuße Sebastian Haffner schreibt nach dem Krieg in seinem Buch "Preußen ohne Legende": "Pflichterfüllung ist richtig und angebracht, solange der Staat, dem man diente, ordentlich und anständig blieb. Die Grenzen und Gefahren der preußischen Pflichtreligion haben sich erst unter Hitler gezeigt."
Fontane: "Einsamkeit auch hier. Sie klang wie ein Idyll aus alten Zeiten und schuf dem Herzen ein süßes Glück. Ich wurde des stillen Lebens, das aus diesen Bildern zu mir sprach, nicht müde. In Front des Hauses stand ein uralter Birnbaum, in der einen Hälfte abgestorben, aber in der anderen noch frisch und mit Früchten bedeckt."
Immer wieder findet Fontane in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" die Einsamkeit. Ein typischer Zustand für diesen Landstrich, notiert er. Keine liebliche Landschaft wie Bayern, sondern karg und – sandig. Wie geschaffen für nüchterne Pflichtmenschen.
"Das ist es, was mir imponiert. Immer da sein, wenn Not am Mann ist. Die wirklich Vornehmen, die gehorchen, nicht einem Machthaber, sondern dem Gefühl ihrer Pflicht.
Ich bin nun mal ein Preuße und freue mich, es zu sein."
Preußen ist von der Landkarte verschwunden. Ein "Eselstritt gegen den toten Löwen", meint der Dichter Golo Mann. Im Westen hat man panische Angst, dass das tote Preußen noch aus dem Grab nach der braven Bundesrepublik greift, wie der Verleger und Preußenfreund Wolf Jobst Siedler schreibt.
In der DDR sehen viele das "rote Preußen" – arm und gehorsam. Die Regierung lässt die Preußenschlösser in Berlin und Potsdam sprengen.
1990 formt sich aus der Konkursmasse der ehemals preußischen Territorien das Land Brandenburg mit der alten preußischen Residenzstadt Potsdam als Regierungssitz.
Das Land sucht seine Identität. Die Sachsen sind Sachsen, die Thüringer sind Thüringer. Alte Kulturlandschaften. Aber Brandenburg ist ein Kunstgebilde - wie Preußen. Doch letzteres hatte eine Idee.
"Wir brauchen Preußen, um unsere Identität zu finden und Mut zu machen!", sagt 2001 Ministerpräsident Manfred Stolpe anlässlich des 300. Jubiläums der Königskrönung. Stolpe will das alte Preußen aus der Schublade holen. Das gute alte Preußen.
Fontane: "Das Pflichtgefühl der Märker, ihr Lerntrieb, ihr Ordnungssinn, ihre Sparsamkeit – das ist ihr Bestes. Und das sind auch die Eigenschaften, wodurch sie’s zu was gebracht haben."
Fontane glaubt an seine Landsleute. Er schreibt nicht gerne schlecht über sie. Die "Wanderungen" über staubige märkische Landstraßen machen die Sicht klarer.
"Im Übrigen sind sie neidisch, schabernackisch und engherzig und haben den ridikülen Zug, alles, was sie besitzen oder leisten, für etwas ganz Ungeheures anzusehen. Ja, es sind tüchtige, aber eingeengte Leute."