Unternehmenskultur

Die Forderung nach Authentizität hat keinen Sinn

Illustration: Nachdenkliche Frau vor einem Spiegel im Spiegel im Spiegel.
Unternehmen wollen „Typen, nicht Stereotypen“ als Mitarbeitende, die „morgens noch in den Spiegel schauen können“: Was das soll, fragt sich Stefan Kühl. © imago / Ikon Images / Eva Bee
Ein Einwurf von Stefan Kühl |
Früher reichte es, den Job gut zu machen. Moderne Unternehmenskultur verlangt mehr. Beschäftigte sollen damit punkten, möglichst „authentisch“ zu sein. Das sei weder sinnvoll noch überhaupt möglich, kritisiert der Organisationssoziologe Stefan Kühl.
Die Forderung nach Authentizität ist im Managementdiskurs und in der Wirtschaftspresse kaum noch zu überhören. Organisationen wollen als Mitarbeiter „Typen, nicht Stereotypen“, „Leute, die sich treu bleiben“, „sich nicht verbiegen lassen“ und „morgens noch in den Spiegel schauen können“.
Angestellte sollen sich, so der Gedanke, als Erstes selbst erkennen, sich authentisch verhalten und auf diese Weise auch andere auf ihrem Weg zu einem authentischen Verhalten unterstützten.

Es kommt auf die Rolle im Unternehmen an

Was steckt hinter dieser auffälligen Zelebrierung von Authentizität? Es verlangt nach einer Erklärung, dass man bei – sagen wir mal – Fließbandarbeitern, Paketlieferanten oder Putzkräften in der Regel nicht auf den Gedanken kommt, ein „authentisches“ Verhalten zu verlangen, während die Forderung nach Authentizität bei Managern, Politikern oder Beratern selbst bei akuter Schwerhörigkeit nicht zu überhören ist.
Bei der Forderung nach Authentizität geht es offenbar um die Differenz von Rolle und Person in Organisationen. Von Fließbandarbeitern, Paketlieferanten oder Putzkräften scheint die Vorstellung zu herrschen, dass die Rolle so geringe Möglichkeiten zur persönlichen Selbstdarstellung beinhaltet, dass sich die Frage nach Authentizität im Verhalten gar nicht erst stellt.

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Derweil beinhalten die Rollen von Managern, Politikern oder Beratern so viele individuelle Optionen für die sie ausfüllenden Menschen, dass es durchaus möglich ist, persönliche Noten zu setzen.
Die Sorge der Authentizitätsanhänger scheint hier zu sein, dass sich Personen aufgrund der Rollenanforderung zu sehr verbiegen. Aber vielleicht sollte man an dieser Stelle das Loblied der „rollenangemessenen Kommunikation“ anstimmen.

Plädoyer für die Professionalität

Vieles spricht dafür, dass die Qualität der Arbeit in Organisationen nicht so sehr davon abhängt, wie authentisch und wahrhaftig die einzelnen Personen auftreten. Entscheidend ist vielmehr die Professionalität, mit der Mitarbeiter ihre Rollen ausüben.
Dazu gehört unter anderem die Fähigkeit, sein eigenes Verhalten den Anforderungen der Situation anzupassen. Die Chirurgin, der Geigenspieler oder die Polizistin können bei Einsätzen gezwungen sein, eine „dramatische Darstellung“ zu bieten, um ihre Rolle gut ausüben zu können.
Ein autoritärer Auftritt macht für eine Polizistin in einigen Einsatzsituationen Sinn, auch wenn ihr vielleicht in dem Moment im tiefsten Inneren dazu nicht zumute ist. Das mag in vielen Fällen zwar nicht authentisch sein, weil es nicht dem Charakter der Person entspricht. Für die Organisation ist diese Form der „Verstellung“ aber zweifellos funktional.

Ein gegenteiliger Effekt droht

Auch darüber hinaus hilft der an andere gerichtete Appell nach Authentizität nicht. Er treibt die Betroffenen lediglich in ein „Sei-authentisch-Paradox“. Wie auch beim „Sei-spontan-Paradox“ existiert beim „Sei-authentisch-Paradox“ das Problem, dass etwas eingefordert wird, das nicht auf Anforderung produziert werden kann.
Die Aufforderung, authentisch zu sein, oder auch nur das Wissen, dass man im Hinblick auf „Authentizität“ beobachtet wird, führt zu dem, was der Soziologe Erving Goffman als „Ich-Befangenheit“ bezeichnet hat. Man richtet seine Aufmerksamkeit immer mehr auf sich selbst und beobachtet sich daraufhin, ob man authentisch wirkt.
Damit entfremdet man sich immer mehr von der Interaktion und die Wahrscheinlichkeit, dass man authentisch wirkt, reduziert sich noch weiter. Kurz: Je mehr man versucht, authentisch zu wirken, desto weniger authentisch ist man.

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Uni Bielefeld. Demnächst erscheint von ihm „Der ganz formale Wahnsinn. 111 Einsichten in die Welt der Organisationen“ (Vahlen Verlag).

Prof. Dr. Stefan Kühl von der Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld
© Metaplan / David Maupilé
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