Das Beste haben Sie noch nicht gesehen!
Man sieht nur die im Licht, die im Dunkeln sieht man nicht. Nach knapp 600 Filmen, die 2015 in die deutschen Kinos kamen, denkt man: Das Wichtigste und Beste war dabei. Falsch gedacht. Patrick Wellinski zählt einige Filmperlen auf, die noch auf ihren großen Auftritt in den Lichtspieltheatern warten.
"The Assassin" von Hou Hsiao-Hsien (Hong Kong 2015)
Es gab dieses Jahr einen einzigen makellosen Film. Ein Meisterwerk ohne Fehl und Tadel. Kein Suchen nach dem richtigen Bild oder der richtigen Einstellung: "The Assassin" des Taiwanesen Hou Hsiao-Hsien ist ein Schwertkampffilm, der fast ohne Schwertkampf auskommt. Eine tragische Familiengeschichte im antiken China. Eine verlorene Tochter, die zur Auftragskillerin trainiert wird, um ihre Familie umzubringen. Doch die Handlung ist sekundär. Viel wichtiger sind die überwältigend komponierten Bilder, die geniale Ausstattung, die Ruhe der Kamerafahrten, die Sehnsucht, die sich einstellt, wenn der Wind durch die Gerstenfelder geht ... Und man könnte noch stundenlang erzählen und schwärmen von einem absoluten Meisterwerk, das sich nur noch mit den Gemälden eines Diego Velazquez vergleichen lässt. Dass er dem deutschen Kinopublikum vorenthalten wurde, ist ein Skandal.
"Right Now, Wrong Then" von Hang Songsoo (Südkorea 2015)
Es ist kein Geheimnis, dass das asiatische Kino immer noch der wahre Kreativmotor der Kinokunst ist (nur für die deutschen Verleiher scheint das weiterhin ein Mysterium zu sein). Zu den wichtigsten Regisseuren zählt der Südkoreaner Hong Sangsoo, dessen Filme selbst von Martin Scorsese angehimmelt werden. Dieses Jahr gewann Hong den Goldenen Leoparden in Locarno für "Right Now, Wrong Then". Der Südkoreaner macht eigentlich immer den gleichen Film, stille Alltagskomödien über Männer und Frauen, die sich verlieben, die viel essen und trinken. So auch hier, wo die gleiche Konstellation zwei Mal erzählt wird, aber mit kleinen Variationen. Ein wunderbarer Film über die moderne Einsamkeit und heilende Gesten, die diese überwinden können.
"Happî awâ" von Ryusuke Hamaguchi (Japan 2015)
Versprochen, das ist der letzte Asiate in der Liste. Aber was für einer! "Happî awâ" dauert 5,5 Stunden und erzählt vom Verschwinden des Lächelns. Eine Gruppe von Freundinnen wird durch die Scheidung einer von ihnen aufgerüttelt. Alle beginnen daraufhin, ihr Leben neu zu sortieren. Der Film lässt sich dabei ganz viel Zeit. Das resultiert dann in seiner gigantischen Länge. Aber dafür kommen wir diesen Frauen sehr nahe und lernen sie bald so gut kennen wie unsere eigenen Freundinnen und Freunde.
"Jackson Hights" von Frederick Wiseman (USA 2015)
Vorsicht! Wieder ein sehr langer Film. 4,5 Stunden dauert diese Langzeitbeobachtung der amerikanischen Dokumentarfilm-Legende Frederick Wiseman. Diesmal hat er sich ein ganzes Viertel vorgenommen. Jackson Heights in New York, das kulturell diverseste Stadtviertel in Amerika. Und Wiseman nimmt uns mitten rein in diese Gemeinde, die jedes Problem mit großer Fairness in Angriff nimmt. Jeder Konflikt wird sofort basisdemokratisch gelöst. Dies ist eine Utopie, die uns zeigt, dass eine bessere Welt möglich ist.
"The End of the Tour" von James Ponsoldt (USA 2015)
Man würde meinen, dass gerade das amerikanische Kino auf unseren Leinwänden überrepräsentiert ist. Dennoch entgehen uns viele Perlen aus Übersee. Dazu gehört auch "The End of Tour", ein biographischer Film über den Ausnahmeschriftsteller David Foster Wallace. Basierend auf dem Buch "Although of course you end up becoming yourself". Im Film - wie im Buch - begleitet ein Journalist David Foster Wallace auf seiner letzten Buchtour für "Ein unendlicher Spaß". Toll besetzt mit Jesse Eisenberg und Jason Segal nähert sich der Film dem Geheimnis des Genies, und so erfahren wir auch etwas von den innerlichen Qualen dieses Ausnahmetalents.
"Chante d'hiver" von Otar Iosseliani (Georgien 2015)
Wer hätte gedacht, dass ein 81 Jahre alter Georgier den verspieltesten Film des Jahres gedreht hat. Es ist schwer Iosselianis' stark am Stummfilmslapstick angelehnte philosophische Komödie "Chante d'hiver" zusammenzufassen. In dieser tragikomischen Odyssee zweier älterer Herren, mischen sich rebellischer Widerstandgeist, melancholischer Liebestaumel mit einem magischen und märchenhaften Surrealismus, die nur eines wollen: Das Leben feiern. Großartig!
"Un jeune Poète" von Damien Manivel (Frankreich 2015)
Wer denkt, dass französische Kino bestünde vor allem aus Komödienblödsinn á la "Die Beliers" und "Willkommen bei den Sch'tis", der unterschätzt die Kreativität des Low-Budget-Kinos. Ein junger Stern an diesem Himmel ist Damien Manivel. Sein erster Spielfilm heißt "Un jeune Poète" und ist eine genial-lakonische Komödie, die einem 18jährigen Möchtegerndichter dabei zusieht, wie er in einer verschlafenen Küstenstadt versucht, von der Muse geküsst zu werden. Alles im Geiste eines Jarmusch oder Rohmer. Genialer Humor, klug komponierte Bildtableaus - und (ganz wichtig) eine lockere Sicht auf die großen Dinge des Lebens.
"Happy Hour" von Franz Müller (Deutschland 2015)
Auch wenn er selbst das nicht gerne hört, Franz Müller ist der deutsche Regisseur, der die Buddy-Komödie in Deutschland wieder salonfähig macht und ins 21. Jahrhundert transportiert. In seinem letzten Film "Worst Case Scenario" beobachtete er eine Gruppe von Deutschen, die an der polnischen Ostseeküste zu sich selbst fanden. Ähnlich geht er auch in "Happy Hour" vor, wo drei Männerfreunde nach Irland fahren, um einen von ihnen vom Trennungsschmerz zu befreien. Und plötzlich legt der Film zerbrechliche Männerbilder frei, spielt mit Unsicherheiten und Machoklischees. Alles zart und feinfühlig, lustig und intelligent. Es wird Zeit, dass Franz Müllers Filme auch einem regulären Kinopublikum bekannt werden.
"Der Nachtmahr" von Akiz (Deutschland 2015)
Dies ist der relevanteste deutsche Monsterfilm seit ... ja seit wann? Wann haben Fritz Lang und F.W. Murnau ihre Filme gedreht? In dieser expressionistischen Tradition steht dieses Techno-Horror-Märchen aus dem heutigen Berlin, in dem eine Teenagerin einem kleinen Monster begegnet. Dann verschwimmen Zeit und Raum und legen eine viel ältere Geschichte frei, die nicht von ungefähr an Goethes Ballade "Der Erlkönig" erinnert. So rhythmisch, dynamisch, kraftvoll kann das junge deutsche Kino sein. Warum ist dieser Film, der auf Festivals von Toronto, Locarno und München, gefeiert wurde, immer noch nicht in den deutschen Kinos zu sehen?