Unterschätzte Tiere

Warum man Fliegen lieben muss

Makroaufnahme einer Fliege.
"Dieses Metallic!" Fliegenforscherin Erica McAlister findet Fliegen schön. © EyeEm/ana
Von Joachim Budde |
Sie machen Lärm, sie stechen und übertragen Krankheiten. Entsprechend unpopulär sind Fliegen. Völlig zu Unrecht, findet die Fliegenforscherin Erica McAlister. Fliegen seien überwältigend schön - und nützlich. Zum Beispiel gäbe es ohne sie keine Schokolade.
Fliegen haben die schlechteste Presse überhaupt. Niemand mag Fliegen.
Niemand? Erica McAlister schon. Mehr noch: Die britische Wissenschaftlerin und Museumskuratorin kann diese Abneigung gegen Fliegen überhaupt nicht verstehen. Um das wiederum zu erklären, streift sie durch das Wäldchen und über die Wiese zu dem kleinen Tümpel, der eingeklemmt zwischen der Asphaltwüste der Cromwell Road und dem prächtigen viktorianischen Altbau des Londoner Naturkundemuseums etwas verloren wirken. Dort sucht Erica McAlister ihre Fliegen, die sie übrigens Diptera nennt, Zweiflügler.
"Eine Fliege ist eine Fliege, wenn die ausgewachsenen Tiere Mundwerkzeuge zum Saugen haben, ein Paar Flügel und ein Paar Halteren", erklärt sie.
Gemeint sind also Fliegen wie die Stubenfliege, aber auch Mücken – Stechmücken, Zuckmücken oder Gnitzen – alles Insekten, die keiner mag. "Weil alle übersehen, was sie leisten. Oder es übersehen wollen", bedauert die Fliegenforscherin. "Wir nehmen Fliegen nur wahr, wenn sie auf Fäkalien sitzen oder Krankheiten übertragen – zwei Sachen, von denen wir gelernt haben: Bleib da weg."

"Ihre Lebensweise ist beeindruckend"

So wie die blau schillernde Schmeißfliege, die auf einer Blüte sitzt. Die kennt jeder. Sie ist besonders gut darin, die Hinterlassenschaften von Mensch und Tier zu beseitigen. Hier am Teich bedient sie sich am Nektar.
"Das ist die archetypische Fliege. Sie erbrechen Verdauungsenzyme auf ihre Nahrung, zersetzen sie damit und schlecken sie auf. Mit denen kommen die Leute ständig in Kontakt."
Nicht besonders sympathisch. Was soll daran schön sein?
"Wie Sie gerade sehen, sind sie auch Bestäuber. Man kann sie also nicht abschreiben. Ihre Lebensweise ist einfach beeindruckend. Sie können ihre Eier in kleinste Spalten legen und sich so ganz unterschiedliche Nischen erschließen. Die Erwachsenen sind überwältigend schön. Dieses Metallic! Und sie können vergammelnde Kadaver aus bis zu zehn Kilometer erschnüffeln."
Etwas weiter sieht sie eine gelb-braun getigerte Schwebfliege: "Die sind wichtige Bestäuber wie Bienen oder Hummeln. Denen gegenüber haben Fliegen aber einen Zusatznutzen: Auch die Fliegenlarven sind aktiv. Bei Bienen hängen die Larven nur im Stock herum und lassen sich füttern. Fliegenlarven töten Blattläuse, klären Abwässer, bringen Schädlinge um – alles Mögliche. Den Großteil ihres Lebens verbringen sie als Larven! Da merken Sie auf einmal, wie wichtig Fliegen sind."
Viele tote Fliegen kleben am 13.02.2003 an einem Fliegenfänger in einem Kuhstall in Wolmirsleben.
Zwei der biblischen Plagen bezogen sich auf Fliegen: erst Stechmücken, dann Stechfliegen.© picture-alliance / dpa / Jens Wolf
Ohne Fliegenlarven im Wasser würden viele Fische und Vögel schlichtweg verhungern. Den Nutzen von Fliegen und Mücken übersehen viele Leute. Denn für Jahrhunderte oder eher noch für Jahrtausende stand für die Menschen im Vordergrund, dass Fliegen auf Exkrementen saßen.
"Die ersten, die bei einer Katastrophe auftauchen, sind Fliegen. Die ersten, die bei verdorbenem Essen auftauchen, sind Fliegen."
Dieses Bild dominierte die Wahrnehmung. Gleich zwei der zehn biblischen Plagen, die Ägypten heimsuchten, waren Zweiflügler: erst Stechmücken und dann Stechfliegen. Überträger von Seuchen.

Die Fliege als Sinnbild für Hartnäckigkeit

Aber das Image der Fliegen war nicht immer nur negativ besetzt, sagt Erica McAlister:
"Die alten Ägypter verliehen Fliegen als Orden für Hartnäckigkeit. Denn Fliegen kehren immer wieder zu ihrem Ziel zurück. Darum erhielten die Soldaten kleine Fliegen-Broschen. In Kunst und Literatur steht die Fliege dafür, unser Begleiter durchs Leben zu sein."
Im Mittelalter und der frühen Neuzeit mogelten Maler Fliegen in ihre Bildnisse als Symbole für Vergänglichkeit, als Makel. Und zugleich als dezenter Hinweis auf ihr eigenes Können: dass sie die Perspektive beherrschten, dass sie das Auge des Betrachters täuschen konnten, indem sie die Insekten so malten, als säßen sie auf dem fertigen Bild. Wie viele Betrachter haben wohl schon die Hand nach ihnen erhoben, um sie von der Leinwand zu scheuchen?
"Es wird besser. Weil es viele Leute wie mich gibt, die über ihre Schönheit schwärmen und – ich hasse es, das zu sagen – über ihren Nutzen. Denn wir setzen voraus, dass Lebewesen nur leben, um eine Rolle für uns zu spielen. Wenn es so ist: Wir brauchen Fliegen für so viel! Und wir beginnen, das zu verstehen."
Das Foto zeigt das Naturkundemuseum (Natural History Museum) in London (Großbritannien), aufgenommenam 02.04.2014. 
Knapp vier Millionen Fliegenproben beherbergt das Londoner Naturkundemuseum, in dem Erica McAlister arbeitet.© dpa / Philip Toscano
Im gläsernen Anbau des Londoner Naturkundemuseums steht ein sechs Etagen hohes eiförmiges Gebilde aus hellem Sichtbeton: Der Kokon. Tatsächlich erinnert die Form an eine Insektenpuppe. So wie die Puppenhülle die Schmetterlingslarve vor Widrigkeiten der Außenwelt schützt, behütet der fensterlose Betonmantel eine der größten Insektensammlungen der Welt: Unvorstellbare 22 Millionen Insektenproben lagern dort. Manche Exemplare sind 300, 400 Jahre alt. In langen Reihen von Rollregalen lagern hier in rund 9000 Schubladen, auf Objektträgern und in Flaschen mit Alkohol.
Annähernd vier Millionen Fliegenproben, schätzt Erica McAlister. "In dieser Schublade ist ein ganzes Spektrum von Fliegen zu sehen. Diese hier zum Beispiel ist fast so groß wie meine Hand. Das ist eine Schnake."
Anderswo sagt man auch Schneider zu diesen Langbeinern, die so zappelig fliegen. Manche Leute halten sie sogar für Spinnen mit Flügeln.
"Gleich daneben, was aussieht wie eine winzige plattgedrückte Spinne: Das ist eine Fliege ohne Flügel. Ein Fledermausparasit. Die gebären lebendige Junge und säugen sie. Und hier unten ist Drosophila melanogaster, die Taufliege oder Fruchtfliege, wie die meisten Leute sie nennen, aber es ist keine Fruchtfliege, sie gehört zu einer anderen Fliegenfamilie."

Ohne Fliegen keine Schokolade

Und dann holt die Herrin der Fliegen im Londoner Naturkundemuseum ein Fläschchen mit winzigen Mücken aus dem Regal, Gnitzen, die im Alkohol aussehen wie grober Kaffeesatz. Schokoladen-Gnitzen.
"Die Leute sagen: Ich liebe Schokolade. – Wenn ich antworte: Wissen Sie, dass eine Fliege Kakao bestäubt?, kann man ihnen die Enttäuschung vom Gesicht ablesen, den Gedanken: Oh Gott, jetzt muss ich eine Fliege mögen. Und damit nicht genug: Das sind Stechmücken. Also ein Doppelschlag nach dem Motto: Mein Universum hat sich gegen mich verschworen. – Ja. Willkommen in unserer Welt."
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