Unterschlagene Wahrheit

Rezensiert von Elfie Siegl · 03.04.2011
Oksana Sabuschko analysiert am Beispiel individueller Biografien und Schicksale die bis heute weitgehend verdrängte oder tabuisierte jüngere Vergangenheit der Ukraine. Der Bogen reicht von den 30er-Jahren bis in die postsowjetische Gegenwart.
"Woher haben wir die ständige Überheblichkeit gegenüber der Vergangenheit, die unüberwindbare dumpfe Überzeugung, dass wir Jetzige entschieden klüger als die Damaligen seien - doch nur deshalb, weil wir ihre Zukunft kennen, weil wir wissen, wie sie alle enden werden."(S.9)
Oksana Sabuschko, Jahrgang 1960, hat Philosophie studiert. Vor einigen Jahren erwarb sie sich mit ihrem Buch "Feldstudien über den ukrainischen Sex" in ihrer Heimat den Ruf einer Feministin. Mit ihrem neuen Roman wird sie in der Ukraine in die Nähe von Dostojewski gerückt. Sie selbst allerdings sieht eher in Thomas Mann das Vorbild für ihren wortgewaltigen Erzählstil.

Eine endlose Kette von miteinander verflochtenen Geschichten, Zeitsprünge durch 60 Jahre unerzählter Geschichte und beschädigter Erinnerungen, Schachtelsätze, die ein ganzes Leben einfangen, Telefongespräche und Traumdeutungen, die sich über Dutzende von Seiten hinziehen - die Lektüre dieser Mentalitätsgeschichte eines bei uns immer noch recht unbekannten Landes erfordert vom Leser hohe Konzentration, Geduld und Aufnahmefähigkeit. Der Titel des Romans mutet seltsam an: "Museum der vergessenen Geheimnisse". Sabuschko erläutert, was er bedeutet:

"Geheimnis heißt ein Spiel, das bei kleinen Mädchen in der Ukraine meiner Kindheit beliebt war: Man buddelte ein Loch in die Erde, legte kleine Gegenstände, etwa Knöpfe, dort hinein, bedeckte sie mit Glas und schüttet das Loch wieder zu. Das Versteck war ein Geheimnis zwischen zwei Mädchen. Mit diesem Spiel wird das Konzept des Buches erklärt: die lang vergessenen Familiengeschichten, die unter der Oberfläche verborgen sind, aber, ohne dass wir das wissen, unser Leben gestalten. In ihrem Buch heißt es:

Mir war, als sähe ich all diese Geheimnisse, die wir einst hergestellt und dann vergessen hatten, wie sie so in der Erde liegen. All die verschworenen Freundschaften, Tränen und Flüche … Unsere kleinen Leben, bedeckt von Erdhügeln, wie Exponate im Museum. Ein riesiges Museum vergessener Geheimnisse." (S.481)

Sabuschkos Roman-Museum ist in acht Kapitel aufgegliedert, die sie Säle nennt, und in denen eine Vielfalt von Stimmen zu Worte kommt. Mal erzählt die Heldin Daryna, dann hält ihr Freund Adrian eine inneren Monolog, der Chronist historischer Ereignisse berichtet, eingewebt werden Interviews, Audioaufzeichnungen und Archivberichte.

In Sabuschkos Buch haben Geheimnisse viele Deutungsmuster: Es sind nicht nur Kleinmädchenspiele, sondern auch vor den Bolschewisten versteckte und vergrabene Ikonen, von der offiziellen Geschichtsschreibung unterschlagene Wahrheiten, all das, was zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern nicht ausgesprochen wird.

Das Buch, von Alexander Kratochvil hervorragend ins Deutsche übersetzt, orientiert sich an den Schicksalen dreier Frauen, von denen zwei auf tragische Weise umkommen und die dritte versucht, die Umstände dieser Todesfälle aufzuklären. Die Lebensgeschichten werden verknüpft mit der Beschreibung und Deutung tragischer Kapitel der ukrainischen Geschichte: die Hungersnot der 30er-Jahre, die Geheimdienstbespitzelungen in der Breschnew-Zeit, die politischen Wirren am Ende der Sowjetunion und das politische Chaos der postkommunistischen Jahre.

Sabuschko: "”Es geht in meinem Buch um ungelernte Lektionen der Geschichte, es geht um die Schmerzen der Erinnerung, es geht um die Verantwortung des Gedächtnisses, es geht um das 20. Jahrhundert, um die Ukrainer. Nach unserer Unabhängigkeit 1991 hatten wir noch nicht mal Lehrbücher zur ukrainischen Geschichte, eine ganze Nation war ihrer eigenen Geschichte und ihres Gedächtnisses beraubt.""

Eine literarisch-publizistische Aufarbeitung der Vergangenheit also, deren Traumata sich ihren Weg suchen durch Gegenwart und Zukunft. Zu den vergrabenen Geheimnissen der Geschichte gehören immer wieder auch Szenen der Kämpfe von Ukrainern um ihre Emanzipation, Versuche einer Befreiung von der russischen Vorherrschaft.

"Und als die Sowjets begannen, uns öffentlich auf dem Marktplatz aufzuhängen, gab uns jedes verlorene Leben nur noch mehr Energie, mit stolz erhobenem Haupt bestiegen wir das Schafott und mit unserem letzten Atemzug riefen wir der versammelten Menge zu "Es lebe die Ukraine" und das Menschenmeer wogte dumpf, explodierte fast vor Wut.

Doch in der Nacht gingen Dutzende neue Freiwillige in die Wälder, um einen ebensolchen Tod zu verdienen - den Tod freier Menschen. Und wir wussten, gegen jede Kraft, die die Menschen versklavt, findet sich stets eine größere Kraft. Doch die größte Kraft ist die der Freiheit, es gibt keine größere: sie ist gleich für alle Völker und Nationen auf der Erde." (S.435f.)

Die Toten ins rechte Licht zu setzen, sie zu rehabilitieren und ihren eine Stimme zu geben, ist das wohl wichtigste Anliegen dieses Buches.

Oksana Sabuschko: Museum der vergessenen Geheimnisse
Deutsche Erstausgabe, Droschl Verlag/2010