Die allerwenigsten Gewalttäter sind psychisch krank
Wann immer ein Attentat passiert, stehen die Fragen im Raum: Was sind das für Menschen, warum manchen sie das, woher kommt ihr Fanatismus, sind sie einfach krank? Fachleute meinen, dass psychische Krankheiten eher selten eine Rolle spielen.
"Der Nutzen, den man persönlich von einer Radikalisierung hat, ist, dass man sich auserwählt fühlen kann. Es gibt so eine Führer-Schüler-Einheit. Man bekommt eine moralische Absolution vermittelt. Und alle Unzulänglichkeiten und Ambivalenzen, die man selber aushalten muss im Leben und mit denen wir in der Gesellschaft konfrontiert werden, werden bereinigt durch dieses Modell der Radikalisierung."
Nahlah Saimeh ist Direktorin der Forensischen Psychiatrie in Lippstadt. In ihrer Klinik sind Menschen untergebracht, die aufgrund ihrer psychischen Krankheit Gewalttaten verübt haben. Außerdem arbeitet die Psychiaterin als Gutachterin in Gerichtsprozessen, um die Strafmündigkeit des Angeklagten festzustellen. Und sie betont: Die allerwenigsten Gewalttäter sind psychisch krank. Das gilt auch für terroristische Attentäter.
"Es gibt die ganz kleine Gruppen, der richtig psychisch kranken Leute. Das sind vorwiegend Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung oder ganz ausgeprägten wahnhaften Störung, die sind richtig psychisch krank. Das ist eine kleine Gruppe. Einzeltäter, die fühlen sich zu einer Ideologie hingezogen und ziehen das dann allein durch."
Wenn Fanatismus und Wahnsinn nah beieinander liegen
Es gibt aber Fälle, in denen sich Fanatismus kaum von Wahnsinn unterscheiden lässt. Im Juli 2012 erschoss Anders Behring Breivik in Norwegen 77 Menschen. In einem später aufgetauchten Manifest erklärte er seine Tat damit, den Multikulturalismus, den Nationalsozialismus, den Kommunismus und den Islam bekämpfen zu wollen. Das klingt verrückt. Zwei in Auftrag gegebene psychiatrische Gutachten kamen dann auch zu zwei völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Am Ende urteilte das Bezirksgericht Oslo, dass Breivik psychisch gesund sei und damit voll schuldfähig.
"Beim Thema der Fanatisierung da ist die Grenze zwischen einem extrem ausgeprägten Fanatismus und einem Wahn ein bisschen fließend. Also da kommt man scharf an die Grenze einer psychopathologischen Symptomatik."
Der amerikanische Psychiater Marc Sageman hat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Lebensläufe von Hunderten von islamistischen Terroristen untersucht und ist zu einem überraschenden Ergebnis gekommen: Sie stammten überwiegend aus der Ober- und Mittelschicht, sie wuchsen in intakten, kaum religiösen Familien auf und ganz wichtig, in ihren Reihen gab es weniger Menschen mit psychotischen Symptomen als in der Allgemeinbevölkerung.
Der ehemalige Gangsta-Rapper Denis Cuspert – alias Deso Dogg – schloss sich 2013 den Dschihadisten in Syrien an und betrieb von dort Propaganda für die Terrormiliz IS. Seit Oktober 2015 gilt er als tot, doch seine Internetvideos laufen bis heute weiter. Videos, in denen er zum Dschihad aufruft und das Leben als IS-Kämpfer verherrlicht:
"Wir sind Gleichgesinnte. Wenige, von Wenigen, von Wenigen. Die alles geben, Allah, nach oben zu halten und nach vorne zu tragen, koste es was es wolle, koste es unsere Familien, koste es unsere Kinder, koste es unsere Eltern…"
Terrorismus ist kein medizinisches Problem
Bei gewaltbereiten Extremisten unterscheidet Nahlah Saimeh zwei Gruppen: Menschen, die vor ihrer Radikalisierung ein scheinbar ganz normales Leben geführt haben und während einer Lebenskrise mit einer radikalen Ideologie in Kontakt kommen. Und Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung, die schon früh auffällig geworden sind, zu Kriminalität neigen und die mit einer politischen oder religiösen Ideologie ihrer Gewaltbereitschaft einen Rahmen geben.
Eine dissoziale Persönlichkeitsstörung ist laut dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation gekennzeichnet durch "eine Missachtung sozialer Verpflichtungen" und "herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen für andere". Eine solche Störung gilt jedoch nicht als psychische Krankheit im engeren Sinne.
"Also eine dissoziale Persönlichkeitsstörung würde, zumindest aus psychiatrischer Sicht, nicht dazu führen, dass eine Schuldfähigkeitsminderung, eine reduzierte strafrechtliche Verantwortung zu beschreiben ist. Es ist eine Hinwendung zu einem bestimmten Lifestyle, zu einer bestimmten Ansicht über die Gesellschaft, über Männer und Frauen, über die Art und Weise sich durchzusetzen. Das ist ein Lifestyle, der Denken und Handeln prägt."
Und so ist Terrorismus in den allermeisten Fällen kein medizinisches Problem. Nahlah Saimeh warnt sogar davor, dass durch vereinfachte Erklärungsversuche alle psychisch kranken Menschen stigmatisiert werden könnten. Die Hinwendung zu radikalen Ideologien, für die Menschen sogar bereit sind zu sterben, ist und bleibt ein gesellschaftliches Problem.