Untertanen gegen Unternehmer
Der deutsche Antisemitismus speiste sich aus der Sehnsucht nach Gleichheit, sozialem Neid und der schieren Angst vor Freiheit, behauptet Götz Aly in seiner neuen, wiederum anregenden Studie. Die Juden seien in einer Zeit, die viele Verlierer kannte, als Gewinner wahrgenommen worden.
Die nationalsozialistische Zeit lässt Götz Aly nicht los. Nachdem der Historiker und Publizist der Forschung in brillanten Einzelstudien immer wieder neue Wege gewiesen hatte, wartete er 2005 in seinem Buch "Hitlers Volksstaat" mit einer fulminanten Analyse auf. Hitlers Herrschaft erklärte er zu einer effizienten Zustimmungs- und Gefälligkeitsdiktatur, die durch eine geschickte national sozialistische Verteilungspolitik die "Volksgenossen" an sich gebunden habe. Die Enteignung der Juden sowie die Raubzüge in den besetzten Staaten dienten nach Alys Lesart nicht zuletzt dazu, die "Volksgenossen" an der Heimatfront ruhig zu stellen und breite Bevölkerungsschichten zu Profiteuren von Ausbeutung und Mord zu machen.
Die Vorgeschichte des Holocaust treibt Aly weiter um. Ihm geht es aber heute nicht mehr um einzelne Entscheidungsprozesse oder Verantwortlichkeiten. Vielmehr stellt er sich die "Frage aller Fragen":
"Warum ermordeten Deutsche sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder, und das aus einem einzigen Grund, weil sie Juden waren? Wie war das möglich? Wie konnte ein zivilisiertes und kulturell so vielschichtiges und produktives Volk derart verbrecherische Energien freisetzen?"
Er beantwortet diese Frage in seinem schlüssig argumentierenden Essay, geht zurück bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts und untersucht die Spur des Antisemitismus, die sich durch öffentliche Stellungnahmen und Debatten, aber auch private Äußerungen zog. Dabei greift er auch auf Quellen des eigenen Familienarchivs zurück, sozusagen als beliebig ausgewähltes Beispiel der vox populi.
Götz Aly folgt seinen früheren Thesen, wenn er feststellt, dass die Deutschen mit dem Wert der Gleichheit immer mehr anfangen konnten als mit dem Wert der Freiheit. Zudem sei Deutschland nicht nur eine verspätete, sondern vor allem eine zutiefst verunsicherte Nation gewesen, mit sich selbst nicht im Reinen:
"Den Deutschen fehlte es an nationaler Integration, an gemeinsamem Rückhalt, an gewachsenen und akzeptierten Institutionen, um die massiven Veränderungen aufzufangen und abzufedern, die Industrialisierung, Weltmarkt und Volksvermehrung im 19. Jahrhundert mit sich brachten. Die zwischen 1800 und 1945 so auffällige Überbetonung des Deutschen entsprach dem Mangel an Selbstbewusstsein und Freiheitswillen."
Die Juden dagegen hätten gehabt, wonach sich die Deutschen sehnten:
"Sie besaßen, was die Deutschen so sehr vermissten – die aus christlicher Sicht bedeutendsten Mythen überhaupt. Juden berufen sich auf ihre jahrtausendealte, allein ihnen gehörende Sprache, Schrift, Tradition und Religion. Als wurzellos verschrien, hatten sie, wonach die Freunde des Germanismus so versessen gruben: tiefe, bedeutsame Wurzeln."
Der deutsche Antisemitismus habe sich aus einer Sehnsucht nach Gleichheit, sozialem Neid und einer schieren Angst vor Freiheit gespeist. Die Juden seien in einer Zeit, die viele Verlierer kannte, als Gewinner wahrgenommen worden, so Aly. Die Fortschrittsfreude der meisten Juden habe sich von der Fortschrittsscheu der meisten Christen abgehoben, die Freiheitslust der einen von der Freiheitsangst der anderen: Jüdischer Unternehmergeist versus christlicher Untertanengeist.
Schon früh bestanden die Innungen der Kaufleute und Handwerker auf Schutzklauseln vor Juden. Es herrschte die Auffassung vor, die Juden würden, wenn sie dürften, unverzüglich die wirtschaftliche und politische Macht übernehmen – in der NS-Zeit sollte daraus das Propagandakonstrukt der "jüdischen Weltverschwörung" werden. Es gab offenbar schon früh eine große Angst vor der wirtschaftlichen Dynamik, dem Fleiß und der Strebsamkeit deutsch-jüdischer Wirtschaftsbürger.
Für Antisemiten wie Adolf Stoecker, den Berliner Hof- und Domprediger, marschierten das Judentum und der Fortschritt Seit‘ an Seit‘: Stoecker vertrat die Auffassung, man könne "das Joch der Juden nur brechen, wenn man sich vom Fortschritt losmacht" und am Althergebrachten festhalte. Statt selber nach oben zu streben und die geistige Entwicklung ihrer Kinder zu fördern, so Aly, hockten die Antisemiten lieber im Hinterzimmer der Gaststätte "Deutsches Haus" und schimpften auf die Juden.
Wie sah es mit dem Antisemitismus im linken politischen Lager aus, das für sich in Anspruch nimmt, fortschrittlich zu sein? Der SPD weist Aly eine zumindest ambivalente Haltung nach. Sie habe zwar einerseits den Antisemitismus angeprangert, sei aber andererseits zur Gefangenen ihrer eigenen Theorien geworden und habe die besondere Rolle von Juden in der Wirtschaft als Erscheinung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung gesehen, die durch eine soziale Revolution zu überwinden sei.
Die KPD habe in der Spätphase der Weimarer Republik damit begonnen, den Arbeiter zu nationalisieren und damit auf das Dritte Reich einzustimmen, wie Götz Aly provokativ zuspitzt. Zudem habe sie zunehmend volkskollektivistisches Gedankengut gefördert. Er zitiert einen Text des Zentralkomitees aus dem Jahr 1932, der von den deutschen Juden die vollständige Assimilation verlangte und feststellte:
"Jüdisches und nichtjüdisches Kapital sind untrennbar miteinander versippt und verquickt, auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Jüdisches Geld nährt auch den Faschismus. Faschistische Streikbrecher stehen im Sold jüdischer Industrieller."
Entschlossener Widerstand gegen den nationalsozialistischen Antisemitismus hätte anders ausgesehen, stellt Aly völlig zu Recht fest.
Sehr überzeugend zeigt er, wie nach 1933 der seit langer Zeit und in allen Schichten der Gesellschaft gewachsene Neidimpuls in einen Rachefeldzug umschlug. Die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden befriedigte das wirtschaftliche Konkurrenzdenken der christlichen Deutschen. Und die NS-Propaganda nahm die alte Fiktion wieder auf, dass man sich gegen einen Angriff des Judentums zur Wehr setzen müsse. Heinrich Himmler etwa, der Reichsführer-SS, behauptete in seiner berüchtigten Geheimrede vor höheren SS-Führern im Oktober 1943:
"Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen."
Damit trieben die Nationalsozialisten die Neid- und Rachegelüste vieler Deutscher auf die Spitze.
Mit seinem Buch schreibt Götz Aly die Geschichte des deutschen Antisemitismus und damit die Vorgeschichte des Holocaust nicht völlig neu. Aber er macht sehr plausibel auf eine bislang nicht genügend beachtete Wurzel der Katastrophe aufmerksam: den Neid und die Sehnsucht nach Gleichheit. Damit gibt er der Antisemitismusforschung erneut einen wichtigen Impuls.
Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden?
Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 bis 1933
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011
Die Vorgeschichte des Holocaust treibt Aly weiter um. Ihm geht es aber heute nicht mehr um einzelne Entscheidungsprozesse oder Verantwortlichkeiten. Vielmehr stellt er sich die "Frage aller Fragen":
"Warum ermordeten Deutsche sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder, und das aus einem einzigen Grund, weil sie Juden waren? Wie war das möglich? Wie konnte ein zivilisiertes und kulturell so vielschichtiges und produktives Volk derart verbrecherische Energien freisetzen?"
Er beantwortet diese Frage in seinem schlüssig argumentierenden Essay, geht zurück bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts und untersucht die Spur des Antisemitismus, die sich durch öffentliche Stellungnahmen und Debatten, aber auch private Äußerungen zog. Dabei greift er auch auf Quellen des eigenen Familienarchivs zurück, sozusagen als beliebig ausgewähltes Beispiel der vox populi.
Götz Aly folgt seinen früheren Thesen, wenn er feststellt, dass die Deutschen mit dem Wert der Gleichheit immer mehr anfangen konnten als mit dem Wert der Freiheit. Zudem sei Deutschland nicht nur eine verspätete, sondern vor allem eine zutiefst verunsicherte Nation gewesen, mit sich selbst nicht im Reinen:
"Den Deutschen fehlte es an nationaler Integration, an gemeinsamem Rückhalt, an gewachsenen und akzeptierten Institutionen, um die massiven Veränderungen aufzufangen und abzufedern, die Industrialisierung, Weltmarkt und Volksvermehrung im 19. Jahrhundert mit sich brachten. Die zwischen 1800 und 1945 so auffällige Überbetonung des Deutschen entsprach dem Mangel an Selbstbewusstsein und Freiheitswillen."
Die Juden dagegen hätten gehabt, wonach sich die Deutschen sehnten:
"Sie besaßen, was die Deutschen so sehr vermissten – die aus christlicher Sicht bedeutendsten Mythen überhaupt. Juden berufen sich auf ihre jahrtausendealte, allein ihnen gehörende Sprache, Schrift, Tradition und Religion. Als wurzellos verschrien, hatten sie, wonach die Freunde des Germanismus so versessen gruben: tiefe, bedeutsame Wurzeln."
Der deutsche Antisemitismus habe sich aus einer Sehnsucht nach Gleichheit, sozialem Neid und einer schieren Angst vor Freiheit gespeist. Die Juden seien in einer Zeit, die viele Verlierer kannte, als Gewinner wahrgenommen worden, so Aly. Die Fortschrittsfreude der meisten Juden habe sich von der Fortschrittsscheu der meisten Christen abgehoben, die Freiheitslust der einen von der Freiheitsangst der anderen: Jüdischer Unternehmergeist versus christlicher Untertanengeist.
Schon früh bestanden die Innungen der Kaufleute und Handwerker auf Schutzklauseln vor Juden. Es herrschte die Auffassung vor, die Juden würden, wenn sie dürften, unverzüglich die wirtschaftliche und politische Macht übernehmen – in der NS-Zeit sollte daraus das Propagandakonstrukt der "jüdischen Weltverschwörung" werden. Es gab offenbar schon früh eine große Angst vor der wirtschaftlichen Dynamik, dem Fleiß und der Strebsamkeit deutsch-jüdischer Wirtschaftsbürger.
Für Antisemiten wie Adolf Stoecker, den Berliner Hof- und Domprediger, marschierten das Judentum und der Fortschritt Seit‘ an Seit‘: Stoecker vertrat die Auffassung, man könne "das Joch der Juden nur brechen, wenn man sich vom Fortschritt losmacht" und am Althergebrachten festhalte. Statt selber nach oben zu streben und die geistige Entwicklung ihrer Kinder zu fördern, so Aly, hockten die Antisemiten lieber im Hinterzimmer der Gaststätte "Deutsches Haus" und schimpften auf die Juden.
Wie sah es mit dem Antisemitismus im linken politischen Lager aus, das für sich in Anspruch nimmt, fortschrittlich zu sein? Der SPD weist Aly eine zumindest ambivalente Haltung nach. Sie habe zwar einerseits den Antisemitismus angeprangert, sei aber andererseits zur Gefangenen ihrer eigenen Theorien geworden und habe die besondere Rolle von Juden in der Wirtschaft als Erscheinung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung gesehen, die durch eine soziale Revolution zu überwinden sei.
Die KPD habe in der Spätphase der Weimarer Republik damit begonnen, den Arbeiter zu nationalisieren und damit auf das Dritte Reich einzustimmen, wie Götz Aly provokativ zuspitzt. Zudem habe sie zunehmend volkskollektivistisches Gedankengut gefördert. Er zitiert einen Text des Zentralkomitees aus dem Jahr 1932, der von den deutschen Juden die vollständige Assimilation verlangte und feststellte:
"Jüdisches und nichtjüdisches Kapital sind untrennbar miteinander versippt und verquickt, auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Jüdisches Geld nährt auch den Faschismus. Faschistische Streikbrecher stehen im Sold jüdischer Industrieller."
Entschlossener Widerstand gegen den nationalsozialistischen Antisemitismus hätte anders ausgesehen, stellt Aly völlig zu Recht fest.
Sehr überzeugend zeigt er, wie nach 1933 der seit langer Zeit und in allen Schichten der Gesellschaft gewachsene Neidimpuls in einen Rachefeldzug umschlug. Die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden befriedigte das wirtschaftliche Konkurrenzdenken der christlichen Deutschen. Und die NS-Propaganda nahm die alte Fiktion wieder auf, dass man sich gegen einen Angriff des Judentums zur Wehr setzen müsse. Heinrich Himmler etwa, der Reichsführer-SS, behauptete in seiner berüchtigten Geheimrede vor höheren SS-Führern im Oktober 1943:
"Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen."
Damit trieben die Nationalsozialisten die Neid- und Rachegelüste vieler Deutscher auf die Spitze.
Mit seinem Buch schreibt Götz Aly die Geschichte des deutschen Antisemitismus und damit die Vorgeschichte des Holocaust nicht völlig neu. Aber er macht sehr plausibel auf eine bislang nicht genügend beachtete Wurzel der Katastrophe aufmerksam: den Neid und die Sehnsucht nach Gleichheit. Damit gibt er der Antisemitismusforschung erneut einen wichtigen Impuls.
Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden?
Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 bis 1933
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011