Unterwasserwelt

Die unterschätzte Intelligenz der Fische

Ein Schwarm Blauer Steuerbarsche vor den mexikanischen Revillagigedo-Inseln im Pazifischen Ozean.
Ein Schwarm Blauer Steuerbarsche vor den mexikanischen Revillagigedo-Inseln im Pazifischen Ozean © imago stock&people / Ocean Photo
Von Marko Pauli |
Fische sind dumm, stumm und ohne jede Empfindung - dieses Vorurteil hält sich hartnäckig. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Sie sind zu erstaunlichen kognitiven Leistungen fähig und können Freude als auch Schmerz empfinden. Ein Blick unter Wasser.
"Es war 1989, ich schnorchelte gerade gemächlich zurück zum Segelboot, das im kristallklaren Wasser vor der Küste Puerto-Ricos ankerte, als ich einen etwa einen Meter zwanzig großen Zackenbarsch erblickte - und er mich. Er war so nahe, dass ich ihn hätte berühren können. Seine linke Seite schimmerte im Sonnenlicht.

Fisch und Mensch erstarrten

Ich hörte auf, die Flossen zu bewegen, wir erstarrten beide. Unbeweglich standen wir auf der Stelle, etwa 30 cm unter der Oberfläche, und schauten uns an. Als die Strömung mich ein wenig davon trug, folgte mir sein großes Auge, weiterhin fest verbunden mit meinem Blick. Das Ganze dauerte nur etwa eine halbe Minute, die mir aber wie eine Ewigkeit vorkam. Ich weiß nicht mehr, wer zuerst weggeschwommen ist, als ich aber zurück ins Boot kletterte, wurde mir klar, dass sich eben ein Fisch und eine Frau gegenseitig bewusst wahrgenommen haben."
Der Erfahrungsbericht einer Hobbytaucherin, zu finden in dem US-Sachbuch-Bestseller "What a Fish Knows", in dem der Verhaltensforscher Jonathan Balcombe wissenschaftliche Erkenntnisse und Anekdoten zu Fischen zusammengetragen hat. Eine eher unscheinbare Geschichte, die doch viel über die Beziehung zwischen Mensch und Fisch aussagt.
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Bunte Unterwasserwelt, hier im Golf von Akaba: Fische als "Cousins" des Menschen© picture alliance / dpa / Stephan Jansen
Menschen sehen und beobachten kaum lebendige Fische, sie wissen nichts von ihnen - außer vielleicht, wie man sie fängt und wie sie schmecken. Wenn man aber wie diese Taucherin genauer hinsieht, dann verändert sich die Sicht auf unsere "Cousins unter Wasser", wie Jonathan Balcombe Fische nennt. Zwischen den wissenschaftlichen Fakten zu und der öffentlichen Wahrnehmung von Fischen bestehe ein Missverhältnis, beklagt Jonathan Balcombe.

33.000 existierende Arten

"Ich habe Leute mit speziellem Fachwissen befragt, die weitaus mehr Forschung betrieben haben als ich. Vieles von dem, was sie wissen, wurde in Fachjournalen veröffentlicht, hat es aber nicht ins öffentliche Bewusstsein geschafft. Mein Job mit diesem Buch ist es, diese Informationen für alle zugänglich zu machen."
Die Umwelt im Wasser stellt besondere und unterschiedliche Anforderungen an die etwa 33.000 existierenden Arten. In den Millionen Jahren der Evolution haben sich diverse hochspezialisierte Sinnesfähigkeiten und Kommunikationsformen entwickelt.
Erzähler:
Der Regensburger Zoologe Bernd Kramer ist einer der Wissenschaftler, dessen Forschungsergebnisse in Balcombes Buch zu neuer Blüte gelangen. Sein Spezialgebiet ist seit 40 Jahren das Thema Fische und Elektrizität. Dafür saß er zum Beispiel des Nachts in einem Ruderboot auf einem Nebenfluss des Amazonas. Mit einem präparierten Kopfhörer lauschte er in die unter ihm liegende Dunkelheit.
"Das war in der Nähe von Manaus am Rio Negro. Und unter den Hausbooten kann man feststellen, dass dort große Gruppen von Eigenmannien leben."
Eigenmannien sind Glasmesserfische, lang gestreckt und spitz zulaufend erinnern sie optisch an ein Messer. Sie besitzen ein Organ, das ein elektrisches Signal von sinusähnlicher Kurvenform aussendet, es dient der Orientierung und der Kommunikation.

Wie Fische belauscht werden

Bernd Kramers Kopfhörer ist so ausgestattet, dass er wie eine Radioantenne funktioniert, so werden die elektrischen Signale der Eigenmannien für ihn hörbar.
"Dort ist mir aufgefallen im Ruderboot auf dem Wasser, dass die in der Gruppe sehr harmonische Chöre bilden, und dass die sich in den Frequenzen auseinanderspreizen, ganz offensichtlich Rücksicht aufeinander nehmen, dass keiner mit der selben Frequenz entlädt wie der Nachbar."
Bernd Kramer hat in Laborexperimenten herausgefunden, dass die Eigenmannien Signale unterscheiden können, die für das menschliche Ohr absolut gleich klingen, tatsächlich aber andere Strukturen aufweisen - für den Menschen nur mit speziellen Messgeräten zu erkennen.
"Eine faszinierende Welt, die uns verschlossen war. Wie hat jemand mal so schön gesagt: Tropische Flüsse sind so unerforscht wie die Rückseite des Mondes."
Erzählerin:
Fische kommunizieren auf diverse Arten, produzieren dafür z.B. eine große Bandbreite an Geräuschen, wie Jonathan Balcombe weiß.
"Die meisten Fische erzeugen Geräusche mit der Schwimmblase, sie lassen sie vibrieren oder reiben sie an benachbarten Organen. Einige Arten produzieren sie mit den Zähnen oder den Gräten. Manche tragen die Geräusche, die sie erzeugen schon im Namen, so wie der Trommelfisch oder der Grunzer."
Letzterer grunzend in einem Fisch-Chor zu hören, gemeinsam mit einem Riesenzackenbarsch, der wie ein Nebelhorn klingt und den sanften, aufsteigenden Vokalisationen eines Fledermausfisches.

Ein blinder Wels beweist das Hörvermögen

Dass Fische überhaupt hören können, hat man ihnen bis in die 1930er Jahre nicht zugetraut, dann kam der österreichische Verhaltensforscher Karl von Frisch. Er brachte seinem blinden Wels Xaverl bei, auf ein akustisches Signal zu reagieren: Wenn der Wissenschaftler pfiff, kam Xaverl aus seinem Versteck, um das bald darauf ins Wasser gehaltene Futter in Empfang zu nehmen.
Fische empfangen Schallsignale über kleine flüssigkeitsgefüllte Röhrchen, die hinter den Augen liegen und über ihr Seitenlinienorgan. Die meisten Arten hören etwa in dem Frequenzbereich, in dem auch Menschen Schall wahrnehmen, es gibt aber auch welche, die wie Fledermäuse im Ultraschallbereich hören können und andere, wie z.B. Dorsche, die den für Menschen unhörbaren Infraschallbereich wahrnehmen.
Wellen, Strömungen und die Gezeiten erzeugen solche tieffrequenten Signale, aus denen die Fische wahrscheinlich Informationen für ihre Wanderung beziehen.
Menschen über Wasser bleibt die akustische Unterwasserwelt verschlossen, außer man geht vor, wie Fischer vor der ghanaischen Küste. Die halten ein Ohr an ihr im Wasser tauchendes Paddel und hören so das Knurren, Grunzen und Wimmern der Fische. Doch diese kommunizieren auch unhörbar, z.B. über Gerüche.
"Wasser ist für die Übertragung von Geruchsstoffen ein sehr gutes Medium. Wenn sie Angst haben, verbreiten Fische Stoffe, durch die Artgenossen schnell wissen, dass Gefahr droht."
Die Fähigkeiten zur Wahrnehmung von Geruch und Geschmack sind unter den meisten Fischarten hoch entwickelt. Die Geruchsfähigkeit von Haien ist etwa zehntausendmal sensibler als die des Menschen. Weil Fische von dem Stoff umgeben sind, in dem Geruch und Geschmack transportiert werden, können die Nerven dafür überall am Körper sitzen. Karpfen z.B. besitzen bis zu 300 Geschmacksnerven – pro Quadratzentimeter Körper.

Berührungen als Kommunikationsmittel

Eine weiteres Kommunikationsmittel unter Wasser sind Berührungen.
"Berührungen sind ein wichtiges Kommunikationswerkzeug unter vielen Arten. Der Putzerfisch z.B. unterbricht manchmal seinen Reinigungsservice beim Raubfisch und wedelt stattdessen sanft mit den Flossen gegen dessen Körper. Er tut das wahrscheinlich, um ihm zu gefallen, damit dieser "Kunde" zufrieden ist und beim nächsten Mal wieder ihn aufsucht, um sich putzen zu lassen."
Fische können gut sehen und die meisten dabei mehr Farben unterscheiden als Menschen. Einige Arten sehen und nutzen das für Menschen außerhalb des sichtbaren Spektrums liegende UV-Licht - Buntbarsche, Stichlinge und Guppys etwa, bei denen die Männchen durch UV-Licht attraktiver werden. Andere Arten nehmen polarisiertes Licht wahr. Doch es kann auch für alle sichtbar und sogar artübergreifend kommuniziert werden. So ist im Korallenriff beobachtet worden, wie sich zwei große Raubfische miteinander verabreden.
"Der Barsch gibt der Muräne manchmal ein Signal, eine Art Kopfschütteln, um sie einzuladen, gemeinsam mit ihm auf Jagd zu gehen. Wenn die Muräne Hunger hat, dann kommt sie mit. Dieses Kopfschütteln ist so besonders, weil es auf etwas verweist, das sowohl zu einem anderen Zeitpunkt als auch an einem anderen Ort stattfinden wird. Ein komplexes, hochentwickeltes, auch bei anderen Tierarten selten auftauchendes Signal."
"Diese Symbiosen zeigen die Kreativität der Fische ..."
Erzähler:
Der Biologe Guido Westhoff ist Leiter des Tropenaquariums Hagenbeck in Hamburg.

Makrelen jagen zusammen mit Seeschlangen

"Ein anderes Beispiel ist ja, dass Makrelen zusammen mit Seeschlangen jagen. Die Makrelen scheuchen die Fische in ein kleines Riff rein. Die Seeschlangen kommen und holen die aus den Löchern raus, und die anderen fliehen und oben stehen die Makrelen und sammeln die dann ab."
In einem Aquarium im Zoo könne jeder für sich selbst herausfinden, so Jonathan Balcombe, dass Fische über Bewusstsein verfügen. Er rät dazu, einfach ein paar Minuten genau ein einzelnes Individuum zu beobachten.
Ein Fisch und sein Besucher im Aquatis in Lausanne
Fisch und seine menschlichen Besucher im "Aquatis" in Lausanne© dpa / KEYSTONE
So lasse sich erkennen, dass das Verhalten des Fisches nicht zufällig geschieht, dass die Augen Aufmerksamkeit zeigen, dass die Nähe zu Artgenossen gesucht wird, dass sich Individuen tatsächlich individuell verhalten. Wer Glück hat, so Guido Westhoff, der Leiter des Tropenaquariums, der erhält Reaktionen.
"Es gibt viele Arten, die sofort auf Menschen reagieren, meistens sind's aber die Pfleger. Wir haben nen Kofferfisch, wenn da der Pfleger an das Becken ran tritt, dann steckt er seinen Mund aus dem Wasser raus und spuckt in dessen Richtung einen kleinen Wasserstrahl. Wahrscheinlich, um ihn zu animieren, gib mir mal ein bisschen Futter. Das ist natürlich sehr beliebt bei den Pflegern, weil es ne richtige Interaktion ist."
In dem Tropenaquarium können die Besucher von Zuschauerrängen aus durch eine 14 Meter breite Panoramaglasscheibe ins große Haiatoll schauen. Haie, Rochen, diverse Schwärme bunter Fische sind dort zu sehen. Die Haie sind immer ausreichend gefüttert, wohl auch deshalb schwimmen die Fledermausfische ganz ruhig an ihnen vorbei.

Fledermausfische sind neugierig

Die Tiere mit dem flachen, etwa schallplattengroßen Körper und dem kleinen Maul sind dafür bekannt, neugierig zu sein. Es wurde schon häufiger beobachtet, dass sie Tauchern nachschwimmen und an deren Ausrüstung oder den Fingern knabbern.
"Die erkennen sich ganz genau und wissen, wo sie was wann finden. Die Tiere zeigen einem mit jeder Faser: Ich bin absolut Herr meines Lebensraums, ich weiß, was für Gefahren lauern und wo ich hin muss, um das zu bekommen, um zufrieden zu leben."
Bevor er Leiter und Kurator des Tropenaquariums wurde, hat Guido Westhoff als Biologe an der Uni Bonn gearbeitet. Dort wurde ein Süßwasserbarsch trainiert, an einem Platz zu warten, bis eine kleine Kugel im Wasser vibriert. Es ging darum herauszufinden, wo die Wahrnehmungsschwelle des Fisches liegt.
"Und der stand vor dieser Kugel, rührte sich überhaupt nicht, wartete. Man konnte nichts sehen, dass die sich bewegt. Sobald die dann vibriert hatte, schoss der dahin, wo er die Belohnung kriegte. Da hab ich zum ersten Mal gesehen ... mein Gott, ich hätte nie gedacht, dass ein Fisch so aufmerksam ... der rührte sich nicht, um auch ja jede Vibration wahrzunehmen, das fand ich so irre, dass der kapiert hat, worum's ging und wartete, dass dieses Experiment losging, da krieg ich heut noch Gänsehaut."
Es existieren diverse Studien, die sich mit den kognitiven Fähigkeiten von Fischen beschäftigen.
"The cow thinks, the dog thinks, the fish doesn't think, the fish is mute, expressionless ... The Fish knows everything."
In einem Versuch mit Goldfischen an der British Columbia Universität hat man jeweils einem Fisch einen Schlauch in einer bestimmten Farbe mit Nahrung zugewiesen, man wollte eigentlich nur ihre Farbwahrnehmung testen. Als der Versuch ein Jahr später wiederholt wurde und Fische aus dem ersten Durchgang wieder mit dabei waren, wählten diese sofort wieder ihre Schläuche in ihrer Farbe, erinnerten sich also an sie.
Es gibt auch Werkzeugnutzung unter Fischen. Bekannt ist das z.B. für verschiedene Lippfische. Ein Taucher filmte, wie ein Großzahn-Lippfisch zunächst eine mit Sand bedeckte Muschel freilegt, indem er Wasser drauf bläst, wie er dann diese Muschel mit dem Maul aufpickt und zu einem etwa 30 Meter entfernten Fels trägt.
Ein Lippfisch schwimmt hinter der Panzerglasscheibe in einem Aquarium des Meereszentrums in Burg auf Fehmarn.
Lippfisch: Schlau bei der Nahrungsbeschaffung© picture alliance / dpa / Horst Pfeiffer
Mit schnellen Kopfbewegungen und dem Loslassen im richtigen Moment wirft er die Muschel gegen den Fels, wo sie nach mehreren Versuchen aufgeht. In den folgenden Minuten gelingt es dem Lippfisch auf diese Art, drei Muscheln zu öffnen und zu fressen.
Diverse Fische zeigen sich in Studien spontan lernfähig: Buntbarsche etwa, die seit Generationen in Gefangenschaft aufwachsen und ihren Sinn verloren hatten, Fressfeinde zu erkennen, konnte dies wieder beigebracht werden.
Rochen lernten in Versuchen, an Futter aus einem PVC-Rohr heranzukommen und erfanden dabei unterschiedliche Strategien: Die Weibchen erzeugten mit ihren Flossen eine Strömung, so dass das Futter im Rohr angesaugt wurde, die Männchen dagegen nutzten ihren scheibenartigen Körper als Saugnapf, um an das Futter heranzukommen.

Der Schützenfisch schießt Insekten ab

Der Schützenfisch schießt Insekten per Wasserstrahl von umliegenden Uferpflanzen herunter. Forscher haben herausgefunden, dass die Fische dazu erst in der Lage sind, nachdem sie etwa 1000 Versuche von Älteren beobachten haben.
Erinnerung, Lernen durch Beobachtung, Werkzeugnutzung, Kreativität – kognitive Fähigkeiten sind unter Fischen offenbar weit verbreitet. Wenn auch sicher nicht gleichmäßig unter der Vielfalt der Arten.
Je herausfordernder das Habitat, in dem der Fisch lebt, desto geistig flexibler scheint er zu sein. So schnitten in Flüssen lebende Fische bei Versuchen aus einem Labyrinth zu gelangen besser ab als Fische, die in stehenden Gewässern zuhause sind.
Ein Beispiel dafür ist auch kleine Frillfin Goby, ein sprungfähiger Fisch aus der Familie der Grundeln. Er schafft es, sich die Topographie einer Unterwasserlandschaft in der Gezeitenzone während des Darüberschwimmens zu merken.

Der Frillfin Goby hat Landkarten im Kopf

Wenn der Fisch während der Ebbe in einem der übriggebliebenen Wasserbecken von einem Feind attackiert wird, weiß er, ohne Sicht darauf zu haben, wo das nächste rettende Becken liegt, in das er von diesem aus springen kann, und vom nächsten ins übernächste usw. Die Fische wissen das allerdings nur, und zwar zu 97 Prozent, wenn sie zuvor bei Flut über das Gelände geschwommen sind. Die Fische, die das nicht taten, waren nur zu 15 Prozent erfolgreich. Der Frillfin Goby kann offenbar mentale Landkarten im Kopf erstellen - und das obwohl dieser sehr klein ist.
"Tiere können mit unterschiedlichsten Gehirnleistungen Anpassungsfähigkeit zeigen, die man vielleicht so nicht erwartet hätte. Man kann aus der Größe oder Struktur eines Gehirns nicht so einfach dessen Leistungsfähigkeit ableiten."
Jens Krause ist Professor für Fischökologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er untersucht das Schwarmverhalten, die kollektive Intelligenz von Fischen.
"Der einzelne Fisch hat verschiedene kognitive Möglichkeiten, aber wir sehen, dass diese Möglichkeiten extrem erweitert werden, wenn der Fisch schon mit einem oder zwei anderen zusammen ist."
Etwa wenn sich ein gefährlicher Raubfisch nähert.
"Da kann man sehen, dass der Einzelfisch nur mit 55-, 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit den Räuber entdeckt und dann in die sichere Richtung schwimmt. Befindet der sich aber in einem Schwarm von 16 Fischen, dann tut er das mit 85-90 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass er die sichere Richtung nimmt."

Im Schwarm wird schneller als allein entschieden

Erzählerin:
Im Schwarm wird noch dazu schneller entschieden als alleine. Um falschen Alarm zu vermeiden, erwarten die Fische für eine Entscheidung, der alle folgen, dass eine bestimmte Anzahl an Individuen zeigt, dass tatsächlich Gefahr herrscht.
"Da kann man sehen, dass die Tiere erst dann reagieren, wenn dieser Schwellenwert erreicht ist. Und dieser Schwellenwert liegt etwas höher als die normale Rate für einen Irrtum im Schwarm für den Einzelnen. D.h. wenn sich 20 Prozent der Fische häufig irren, dann würden die Fische erst reagieren, wenn mehr als 20 Prozent wegschwimmen wollen. Dann wäre das ein Anzeichen dafür, dass der Prozentsatz, der weg will, höher ist als die spontane Irrtumsrate in dieser Gruppe. Das ist ein relativ raffiniertes Verfahren."
Welches in ein mathematisches Modell übertragen werden konnte, das sich auch auf bestimmte Problemfelder beim Menschen anwenden lässt, Ärzteentscheidungen z.B., etwa bei der häufig nicht korrekten Vorhersage von Brustkrebs. Bei der Evolution der Intelligenz muss jedoch nicht der Mensch Maßstab sein:
"Dass wir immer denken, ein Tier ist umso intelligenter, desto ähnlicher seine Problemlösungsstrategien denen des Menschen sind. Das ist ne große Frage, ob das wirklich so ist. Ich fände es viel interessanter, zu fragen, welche Formen von Intelligenz, Problemlösungen, Kognition es bei Tieren gibt, die beim Menschen gar nicht existiert. Statt immer zu gucken, wie menschenähnlich sind Tiere. Ich glaube, dass viele dieser Ähnlichkeiten auch nur scheinbar sind."
Viele Menschen halten Fische immer noch für primitiv und unterentwickelt. Das liegt nicht nur an der fehlenden Mimik und dem unter der sichtbaren Oberfläche stattfindenden Leben, schreibt der Verhaltensbiologe Culum Brown in seinem Artikel zur Intelligenz von Fischen.
Fisch des Jahres 2018 - Der Dreistachlige Stichling
Gestatten: Der dreistachlige Stichling, Fisch des Jahres 2018© dpa/DAFV/Herbert Frei
Er vermutet eine veraltete Evolutionsidee, die immer noch in den Köpfen der Menschen feststecke. Derzufolge sind die evolutionsgeschichtlich ältesten Wirbeltiere, wie die Fische, vom Verhalten und der Gehirnentwicklung die primitivsten, während die jüngeren immer komplexer und besser werden konnten mit dem Menschen an der Spitze.
Doch diese Sichtweise ist überholt, in der Wissenschaft wird schon lange davon ausgegangen, dass die Evolution der einzelnen Gruppen von Wirbeltieren eher parallel verläuft und dass sich jede Gruppe auf ihre jeweilige Nische spezialisiert hat.
"Wir haben Fische bisher sehr unterschätzt, deshalb habe ich ja dieses Buch geschrieben. Es gibt viele Beispiele: Manche Fischarten sind z.B. sehr gesellig, haben Freunde, bevorzugen diesen oder jenen Partner. Fische fallen auf optische Täuschungen herein und sie machen auch Fehler, so wie wir es tun. Fische lernen durch Beobachtung, werden also besser in dem was sie tun, in dem sie andere Fische beobachten. Manche zeigen auch eine Art Publikumseffekt, wo das Verhalten beeinflusst oder verändert wird, je nachdem, wer zuschaut: Wenn ein männlicher Fisch um ein Weibchen wirbt und bemerkt, dass ein anderer Fisch dabei zuschaut, kann es passieren, dass er sich mit seiner Werbung auf ein anderes Weibchen konzentriert. Dies geschieht aber nur scheinbar und in der Hoffnung, das andere Männchen möge nun jenes Weibchen anstreben, damit er dann wiederum sich wieder um das eigentlich favorisierte kümmern kann. Fische haben viele kognitive Fähigkeiten, und sie können Schmerz empfinden, versuchen auch, ihn zu vermeiden, können sich an ihn erinnern und unternehmen Schritte, um ihn loszuwerden."
Ob Fische Schmerz empfinden können, darüber wird in der Wissenschaft immer noch gestritten, wobei die meisten Studien darauf hindeuten, dass Fische dazu in der Lage sind. Man weiß, dass Fische Nervenzellen besitzen, die für das Schmerzempfinden zuständig sind, und dass sie ein Zentralnervensystem haben, wo die Schmerzsignale verarbeitet werden können. Jonathan Balcombe hat da keine Zweifel:
"Die für mich überzeugendste Studie ist eine, die mit Zebrafischen veranstaltet wurde. In einem Aquarium wurde ein sehr hell ausgeleuchteter Bereich geschaffen - ein Areal, das die Fische normalerweise immer meiden würden. Als den Tieren Säure injiziert wurde, um ihnen bewusst Schmerz zuzufügen, schwammen sie freiwillig dorthin - aber immer nur dann, wenn dort Schmerzmittel aufgelöst wurden. Sie suchen also nach Schmerzlinderung und sind bereit, den Preis dafür zu zahlen."
Ist ein Tier leidensfähig, so darf ihm kein unnötiges Leid zugefügt werden, das ist der Verhaltensmaßstab unter Menschen, das ist aber auch so im Tierschutzgesetz festgehalten.

Das Tierschutzgesetz gilt auch für Fische

"Klar ist: Im Tierschutzgesetz sind sämtliche Wirbeltiere enthalten und damit auch die Fische."
Ursula Wolf ist Professorin für Philosophie an der Uni Mannheim und Expertin für Tierethik.
"Die Fische galten lange Zeit als nicht leidensfähig, und inzwischen würden die meisten sagen, dass alle Wirbeltiere, also auch Fische, leidensfähig sind. Wobei im Übrigen bei Balcombe ja auch deutlich ist: Da gibt es ganz verschiedene Arten mit sehr verschiedener physiologischer Ausstattung, und die einen mögen leidensfähig sein, die anderen vielleicht ganz wenig. Da gibt es gigantische Unterschiede innerhalb der Fischarten."
"Den Billionen Unbekannten", so lautet die Widmung, die Balcombe seinem Buch voranstellt. Und er meint damit die geschätzt 1000 bis 3000 Milliarden Fische, die jährlich den Gewässern entnommen und getötet werden. Kein Tier wird der derart rücksichtslos ausgebeutet wie der Fisch.
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Industrielle Fischerei: Der Appetit auf Fisch ist riesig© picture alliance / dpa / ITAR-TASS / Smityuk Yuri
Wenn die Fischereiindustrie so weitermache, so das Ergebnis einer Studie, sind die Meere bis zum Jahr 2048 leergefischt. Die Methoden der industriell betriebenen Fischerei sind fatal. Mit riesigen Ringwadennetzen werden z.B. ganze Thunfischschwärme dem Ökosystem entnommen, wodurch die Reproduktionsfähigkeit der ohnehin stark befischten Tiere weiter eingeschränkt wird; Treibnetze sind bis zu 100 Kilometer lang, mit ihnen wird nach dem Zufallsprinzip gefischt, alles was nicht interessiert, endet als Beifang, der tot oder schwerverletzt über Bord geworfen wird.
"Ich vergleich das oft: Wenn wir an Land sagen würden, ich möchte ein paar Rehe aus dem Wald fangen und ich hol'n Riesennetz und hau den ganzen Wald weg, und alle Tiere sind da drin zerquetscht und sterben qualvoll, hau' das alles auf'n Haufen und pick mir dann diese Rehe raus, die auch genauso furchtbar gestorben sind, und der Rest kommt in ne Grube, das gäbe einen unglaublichen Aufschrei. Und genau dasselbe passiert mit ner Schleppnetzfischerei, die so'n ganzes Riff mitnimmt oder was auch immer da lebt, und sich dann ihre 10% Zielart rauspickt, und da sagt keiner was dazu und isst den Fisch gemütlich."
Das kritisieren auch Wissenschaftler und Autoren wie Jonathan Balcombe und Culum Brown: Fische erhalten kaum das gleiche Maß an Mitgefühl und konkretem Tierschutz wie die warmblütigen Wirbeltiere.

Fische werden in Tonnen und Bestand gemessen

Bei Fischen wird auch immer noch von so und so vielen Tonnen Bestand gesprochen und nicht von einzelnen Individuen.
"Dieser Tierschutz ist in der Massenfischerei völlig ausgehebelt. Dass Tiere ersticken und lebend im Eis landen oder zerquetscht werden oder völlig umsonst getötet werden - auch das ist gegen das Tierschutzgesetz - all diese Dinge sind bei der Fischerei ausgehebelt. Ich versteh das nicht. Ist natürlich 'ne große Lobby."
Den Tierschutz tatsächlich auf Fische anzuwenden, das hätte so gewaltige Auswirkungen, schreibt Culum Brown in seiner Abhandlung, dass es die mächtigen Lobbyverbände derzeit kaum zulassen würden. Denn nicht nur die industrielle Fischerei müsste ihr Vorgehen ändern, auch die Angler - etwa vier Millionen gibt es hierzulande - müssten dies tun, Fische aus Freude am "Sport" zu angeln und zu töten, oder um sich mit anderen Anglern zu messen ist tierschutzwidrig. Was die Haltung angeht, seien Aquakulturen aus Sicht der Tierethik keine Alternativen, so Ursula Wolf.
Beliebt unter deutschen Anglern: der Barsch
Beliebt unter deutschen Anglern: der Barsch© picture alliance / dpa / Stefan Sauer
"Dann haben wir dasselbe wie bei den Säugetieren, nämlich Massentierhaltung. Und Massentierhaltung ist immer Leiden für die Tiere."
Auch die Haltung im Aquarium ist nicht unproblematisch. Guido Westhoff wird im Tropenaquarium auch darauf angesprochen.
"Ich bin oft gefragt worden, ach Mensch, der arme Fisch: Ist das groß genug hier, hat der genug Freunde? Dann sag ich: Genau dafür schwimmt der hier, behalten Sie sich die Empathie und möglichst auch an der Fischtheke. Wenn man einmal so ein Gefühl entwickelt hat, kann man eigentlich an der Fischtheke nur noch fragen, wie ist der gefangen worden, war das nachhaltig, was für ne Fangmethode usw."
Nur wenn sich das Bild von den Fischen in der Öffentlichkeit ändert, kann der nötige Druck entstehen, dass auch auf gesetzlicher Ebene größerer Schutz festgeschrieben und eingehalten wird, so Culum Brown in seinem Artikel zur Intelligenz von Fischen. Jonathan Balcombe zeigt in seinem Buch "What a Fish Knows" nicht nur Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, er interpretiert diese auch aus seiner Sicht, und er erzählt Anekdoten, die nicht wirklich überprüft werden können. Doch tatsächlich lässt sich wohl nur auf diesen Wegen Mitgefühl mit Fischen herstellen – durch Beobachtungen im Aquarium oder bei Tauchen, durch Filme wie "Findet Nemo" oder durch Geschichten wie der vom Diskusfisch Jasper:
"Die Frau, die mit ihm lebte, kam nach Hause. Sie spielten dann immer ein Spiel: Sie rannte vor dem Aquarium hin und her und Jasper darin tat es ihr dann nach, schwamm parallel mit ihr hin und her. Danach legte die Frau manchmal ihre zu einer Schale geformten Hände ins Wasser. Jasper schwamm dann auf die Seite und in diese Handschale hinein, blieb dann auf der Seite liegen und ließ sich von ihr mit dem Daumen streicheln. Diese Kommunikation zeigt den Spaß am Spiel, den Fische haben und die Freude an der Berührung. Ich hab mit vielen Aquarienbesitzern gesprochen und weiß, dass einige von ihnen enge Freundschaften zu ihren Fischen entwickeln. Ein Fisch ist ein Individuum, hat einen eigenen Charakter, Bedürfnisse, Wünsche, Überzeugungen und ein Leben, eine eigene Biographie."
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