38 Stunden bis Euroland
Mit dem Linienbus kann man durch ganz Europa fahren. Nach Bulgarien dauert es fast zwei Tage. Wer fährt in das Billig-Urlaubsland der Deutschen und in eines der ärmsten EU-Länder? Reporterin Elin Rosteck hat Wanderarbeiter im Bus getroffen und sich Stunde um Stunde ihren Geschichten angenähert.
Ich lasse meinen Rucksack lieber auf dem Rücken, besser ist besser. Ich war noch nie in Bulgarien; denke aber sofort an Mafia, an Drogenhandel.
"Wer fährt? Er und .. alles klar."
Ich bin im Windschatten von Njazi Shatri unterwegs, der auf dem Bussteig 4 der deutschen Touring in Köln die Passagiere abklappert. Doch unter dem Dach des schäbbigen Bussteigs wartet nur eine kleine Familie. Vater, Mutter, Kind. Alle Dunkelhaarig. Mein Eindruck: Türken!
"Sie fahren dann weiter bis Istanbul? - Bis Sofia und dann Istanbul. - Später in Istanbul, aber nicht direkt, Sie müssen nicht am selben Tag, oder doch? "
In fünfzehn Minuten soll hier der Bus nach Bulgarien ankommen und Passagiere aufnehmen. Will da sonst keiner hin?
"In Sofia geht´s 20.30, 21.30 und 23.00 Busse nach Istanbul, also mindestens drei bis vier Busse sind nach dem Euer Bus da ankommt."
Njazi Shatri ist nett. Ob ich meinen Rucksack doch absetze und neben die türkischen Koffer stelle? Es ist eigentlich alles ganz entspannt, trotz der festgetretenen Kaugummis auf dem Pflaster und der Sticker, die irgend jemand auf jeden Mülleimer und die Plastik-Fahrpläne gepappt hat. Geleckte Bahnsteige und große Reinigungsmaschinen wie am Hauptbahnhof gegenüber gibt es hier nicht.
"Ich jedes Jahr Bus; Hin und zurück für 100 Euro."
Der Preis ist unschlagbar. Der sympathische Türke hält seinen Sohn fest an der Hand und strahlt mich an; die beiden fahren mit mir. Rund 2.000 Kilometer von Köln quer durch das östliche Europa bis nach Sofia, der Hauptstadt von Bulgarien. Billig-Tourismus-Land und eines der ärmsten EU-Länder. Auch dieser Bus: ausgebucht.
"Von Köln können Sie nicht, wo ist das Ticket?"
"Fahren, ich fahren…"
Passagiere ohne Tickets
Njazi Shatri diskutiert mit einer Frau, die plötzlich auch auf dem Bahnsteig steht. Sie hat blond gefärbte Haare, ist groß und kräftig gebaut, vielleicht Mitte fünfzig. Sie wirkt abwesend und doch in-sich-ruhend. Neben ihr steht die größte Reisetasche, die ich je gesehen habe.
"Muss haben Reservatia - Sofia-Burgas-Varna?... Sie gesagt, ich haben reservatia."
Njazi Shatri ist ungehalten. Passagiere, die kein Ticket haben, kommen ihm häufiger unter. Er wickelt die 30, 40 Busse pro Tag ab, die von Köln aus in alle Himmelsrichtungen weiter ausschwärmen. Diese Frau ist sich ganz sicher, dass auch sie noch heute unter ihnen sein wird. Sie will bis ans Schwarze Meer fahren.
"In Burgas fahren, zuhause. Was machen? Nicht bleiben in Bushaltestelle."
"Dann morgen, nächsten Tag."
Diese Verbindung gibt es siebenmal die Woche, für 128 Euro, einfache Fahrt.
Der Bus ist da; ein ziemlich neuer Reisebus mit bulgarischer Beschriftung. Zwei Fahrer steigen aus, in weißen Hemden und dunklen Hosen.
"Your tickets please, and passports."
Der ältere Fahrer hat die Seitenklappen geöffnet und geht mit Shatri die hier so kurze Passagierliste durch. Der jüngere, Andrej Mitkov, checkt das bisschen Gepäck ein. Er ist schlank, hat dunkle Haare und ein charmantes Lächeln. Ich reiche ihm meinen kleinen Reiserucksack rüber. Ein Aufkleber drauf, ein Abholschein für mich in die Hand und ab in die Tiefen des Busses damit.
"From Sofia, your number it´s this number. Ok, welcome!"
Andrej nickt mir lächelnd zu, er wird gut auf uns aufpassen; das strahlt er aus jedem gebügelten Knopfloch aus. Der türkische Vater und sein Sohn sind schon hinten eingestiegen; aber was ist mit der blonden Bulgarin?
"Große Spannung. Sie geprochen mit meinem Boss? - heute, heute ... "
Sie ist jetzt gar nicht mehr so entspannt. Zwinkert nervös mit den Augen, ihr grün-glitzernden Lidschatten ist perfekt auf ihr ärmelloses Top abgestimmt. Ist sie eine vielleicht eine Prostituierte? Jedenfalls scheint sie mächtig Druck zu haben. Was für ein aufregender Start in diese Reise, wir rutschen allmählich in eine Verspätung hinein; bewundernswert, wie beharrlich die Frau daran festhält, hier und heute mitzufahren. Was sie wohl vor hat in Bulgarien? Was hat sie hier in Deutschland gemacht?
"Gehen Sie jetzt rein, wir müssen jetzt - gute Fahrt!"
Shatri scheucht mich in den Bus. Über die Schulter kann ich gerade noch sehen, wie der Busfahrer alle Kräfte zusammen nimmt und die größtmögliche Reisetasche dieser Welt in die Ladeklappe wuchtet. Die Frau darf mitfahren. Sie heißt Saesa Stefanova.
Wir rollen durch Köln, ich in der dritte Reihe von vorne - hier hat Andrej mich hinkomplimentiert. Der Blick durch die großen Fenster ist prima, nur die Klima-Anlage bläst zu stark. Schräg hinter mir machen es sich Oos und Sabri bequem, die beiden Türken. Wenn ich mich umdrehe, kann ich Saesa sehen; sie telefoniert. Und Andrej steuert den Bus auf die Autobahn. Es sind 2.000 Kilometer bis Sofia, und noch einmal 400 nach Burgas. Zeit genug, sie kennen zu lernen.
"Next stop: Frankfurt."
Andrej deutet auf die Skyline von Frankfurt und wir gleiten durch die wohlgeformten Glitzerbauten der Finanzwelt, vorbei an blühenden Pflanzenkübeln und gutgekleideten Bankern. Dann biegen wir ab zur Südseite des ZOBs und sind in einer anderen Welt: Beton, Asphalt, Müll; und an der Wartebank unter Plexiglas: vier Leute mit abgewetzten Koffern und Taschen.
Fahrscheinkontrolle und Gepäckannahme wie zuvor, ein junger Mann in Militärhose und gemustertem Woll-Ersatz-Pullover hält eine Plastiktüte fest. Sein Handgepäck. Er sieht nach harter Arbeit aus, wenig Schlaf und schlechtem Lohn. Aus der Tüte lugt allerdings das Heck eines glänzenden Spielzeugautos hervor, BMW-Geländewagen, neuestes Modell. Ein Mitbringsel vielleicht.
Nächster Halt, Mannheim; ein neugebauter Busbahnhof, alles komplett überdacht, Ampeln regeln den Zufluss der Busse; langsam bekomme ich eine Idee von der wirtschaftlichen Bedeutung der innereuropäischen Busfahrt.
Langsam werden die Reisenden miteinander warm
Die Ladeklappen füllen sich, Andrej und sein Kollege haben alle Hände voll zu tun. Hier wollen zehn Leute auf einmal einsteigen. In Mannheim studieren viele Bulgaren, versucht sich Andrej mit einer Erklärung.
"Mannheim has many university school; many garden jobs; many people. "
Nach Gartenarbeiter oder Student sieht der Mittdreißiger neben Andrej nicht aus. Er trägt frisch gebügelte weiße Cargo-Hosen und ein zart-lila farbenes T-Shirt. Urlaubsklamotten; aber nicht der Hauch eines Lächelns. Versteinert ist sein Gesicht; Fragen streng verboten.
Der Bus füllt sich, die Reisenden kommen sich langsam näher. Schön für sie. Saesa schläft. Doch Andrej ist auf Empfang, er sitzt erhöht auf dem Beifahrersitz und lässt den Blick schweifen. Immer auf den Straßen Europas unterwegs. Deutschland gefällt ihm, sagt er, aber zu viel Verkehr.
"Every car is one person, I don´t understand."
Wie auf Kommando knubbelt es sich auf der Autobahn; wir kommen zum Stehen; Stau. Und wie es aussieht, ein richtiger.
"This is problem from police, I don´t know ..."
Andrej zuckt nur die Schultern. Stau und Unfälle wie diese erlebt er alle paar hundert Kilometer in Deutschland.
"This is big problem. We just wait. Wait; when it´s free, we go!"
Er greift zum Handy, um der Zentrale eine saftige Verspätung durchzugeben. Die anderen dämmern weiter. Oos und Sabri, Vater und Sohn, packen ihr türkisches Brot mit Schafskäse aus; als Bahnfahrer hätte man längst Angst um die Anschlusszüge; doch wer Bus fährt, braucht sich um nichts zu kümmern.
"Wieviel Stunden warten hier?"
Saesa ist aufgewacht. Mit verschlafenen Augen schaut sie um sich.
"2,3 Stunden bestimmt. - Aber was machen? Nicht kann fliegen."
Ich setze mich auf den Platz neben sie und wir kommen ins Gespräch, endlich.
Ich hole meine Landkarte raus; wo liegt dieses Burgas eigentlich, wo Saesa hin will, wo sie zuhause ist?
"Das ist meine Stadt; Burgas; ich bin Meerkind, Meerkind."
Meereskind, stimmt, Burgas liegt in der Nähe des berühmten Goldstrandes am Schwarzen Meer; ihre ganze Familie stammt daher.
"Da gibt es Diskotheken, Nachtclub, Piano-Bar; sehr schön, viele Touristen kommen, sehr schön. Noch zwei Tag, dann: schwarze Meer, schwimmen, Sonnenbaden!"
Einen Monat will sie bleiben, sagt sie. Und dann wieder zurück nach Deutschland, zum Arbeiten. Das Eis fängt an zu tauen. Und der Bus fährt wieder.
"Ich arbeite in Betreuung, ich pflege alte Leute; mit Demenz; mit unterschiedliche
Krankheit; zuhause, privat."
24-Stunden-Pflegerin ist sie. Für 800,- bis 1000,- Euro im Monat wohnt sie bei den alten Leuten, sie putzt, kocht, füttert und pflegt sie, das Rund-um-sorglos-Paket für die Angehörigen.
"Ich gerne pflegen alte Leute - unterschiedlich, alter Mann, keine Bedeutung für mich; oder alte Frau."
Zuletzt war sie bei einer Frau in der Nähe von Köln erzählt sie; aber sie hat dort wieder aufgehört. Ein Angehöriger hat sich an sie rangemacht; nicht das erste Mal ... Ich merke, dass sie nicht weiter sprechen will und trolle mich auf meinen eisigen Platz vorne in der dritten Reihe. Ist ja noch viel Zeit bis Burgas.
München naht, unser letzter Aufnahmebahnhof. Es ist dreiundzwanzig Uhr. Vor elf Stunden habe ich Köln verlassen und fühle mich Lichtjahre von meiner gewohnten Welt entfernt. Der Bus ist jetzt schon fast voll, und am Bahnsteig warten zehn, zwanzig weitere Personen. Schnell ziehe ich mit meinem Handgepäck noch nach weiter hinten um. Die Nacht im Kühlschrank da vorne, das überlebe ich nicht. Hoffentlich kann ich hier sitzen bleiben...
An den Gepäcklappen herrscht Gedrängel. Andrej diskutiert mit einer Frau; sie will einen xxl-Rollkoffer bei ihm aufgeben, den ein Bekannter in Sofia abholt. Andere möchten selbst noch mit, doch Andrej winkt ab. Der Bus ist voll.
"It´s full; we have 51 seats; 39 now; everybody is in."
Ein junger Mann drückt schnell noch ein kleines Mädchen an sich, dann steigt die Mutter weinend mit der Kleinen ein. Sie sind die letzten, die noch mit dürfen.
Es ist dreiundzwanzig Uhr fünfzehn. Die erste Nacht im Bus kann kommen. Eine Wolke Fußschweiß kommt bei mir an, der hinter mir hat die Schuhe ausgezogen. Sabri vorne rechts deckt seinen Jungen zu und stopft ihm was hinter den Kopf. Mein Kopf rollt die ganze Nacht hin und her, dazu noch "Harzer Roller" von hinten; aber ich schlafe wie ein Stein. Busfahren macht müde.
Pinkelpause in Straßburg; ein Uhr dreißig, keinem von uns ist groß nach Sprechen zu Mute. Ein dritter Fahrer steigt zu. Doch so was wie wach werden wir alle erst wieder um sechs.
"Die Nacht? Geschlafen, bisschen; ich bin schon müde."
Die Grenzer winken uns zügig durch, einzig Sabri mit seinem türkischen Reisepass braucht - als nicht-EU-Bürger - etwas länger durch die Kontrolle. Manchmal, sagt Andrej, sind sie richtig streng; die EU schirmt sich ab.
"When have people from Turkey - or country not European Union and don´t like to police - don´t like to see - have big control. It´s for sure-everything is for sure to European Union."
Kurz hinter der Grenze machen wir eine längere Pause und ich stelle fest: eine gemeinsame Nacht im Bus verbindet.
"Gut geschlafen, man kann sagen...."
Ein Fünkchen Hoffnung
Der Tourist mit der versteinerten Miene aus Mannheim taut auf: Javor. Mit ihm seine drei Kumpels. Sie haben in der Küche bei McDonald´s gearbeitet, erzählen sie; zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, für 700,- Euro; abzüglich der 200 pro Nase für das Zimmer, dass sie sich zu viert geteilt haben.
"... das war zu viel. Und wir haben keine Verbindung zur Welt, wir wissen nicht, was passiert in dieser Stadt, in Deutschland, im Ausland. Keine, keine Verbindung mit der Welt."
Richtig schön ausgenutzt. Der Geschäftsführer der Hamburger-Filiale hatte sie in Bulgarien beim Arbeitsamt extra angefordert; für ein ganzes Jahr, so hieß es damals. Aber jetzt wurde ihnen schon nach sieben Monaten gekündigt, zu wenig zu tun, angeblich. Georgi, der mit den Fußballer-Beinen und dem Käppi auf dem Kopf, zündet sich eine Zigarette an. Er wäre lieber noch geblieben; trotz der schlechten Bedingungen. Das Jahr bei McDonald´s hätte immerhin seine Familie ernährt.
"Meine Kind ... 20 Tage alt, wenn ich gehen nach Deutschland. Jetzt: sieben Monate alt; ich hab sie nicht gesehen ..."
Er zieht an seiner Zigarette und schaut in die Ferne.
"Jetzt ich weiß nicht, ich jetzt gucken, muss gucken."
Georgi hat Tourismus und Russisch studiert, erzählt er. Außerhalb der Saison findet er damit keine Arbeit.
"Ich wohne in Varna, dort gibt es diese Goldene Strand; große Komplex mit 100 Hotels; aber Ende September: alle zu; ich muss lernen Deutsch."
Ein Fünkchen Hoffnung hat er - auf eine gute Arbeit in Deutschland; deshalb will er in Varna einen Deutsch-Kurs besuchen.
"Ganze Leben muss etwas machen; ich bin 40 Jahre; aber ich habe noch Zukunft?"
Eigentlich ist ihm mehr nach Weinen zumute. Ich beginne zu verstehen. Deutschland, Land der Hoffnung für diese Bulgaren; aber auch Land der enttäuschten Hoffnungen.
"Es gibt keinen Respekt, keine Aufmerksamkeit für bulgarische Leute."
Bei uns sind sie Küchenhelfer, Autopolierer oder billige Pflegekräfte.
Es ist Nachmittag geworden; wir haben die Grenze nach Serbien längst passiert, die Sonne brennt vom Himmel. Wieder hat Andrej eine Raststätte angesteuert. Saesa sitzt an einem Tisch und knabbert an einem Brötchen. Was ist mit ihr? Gibt es für sie auch keine Arbeit zuhause?
"Ich hatte feste Arbeit. 35 Jahre gearbeitet. - Mit alten Leuten? - Nein, nein in opera - in der Oper?? - Ja. Orchestrant. Ich spiele Bratsche."
Ein Leben für die Oper; ich bin platt.
"Wenn gespielt, sieben Stunden pro Tag spielen; Übungen machen und lernen Material für Konzerte; Spektakel; wechseln Programm alle drei Tage."
Saesa ist professionelle Musikerin! Seitdem sie 19 ist.
"Schade, schade, mein Leben ist Musik. Mein Leben ist Musik.... Aber keine Zeit mehr für Kunst; arbeiten in Deutschland für Geld."
Fünf Opernhäuser leistet sich Bulgarien, erzählt sie; nur zahlen kann das Land nicht mehr so viel wie in Zeiten des Kommunismus. Sie hat ihre Lösung gefunden: Schluss mit der Geigerei. Andrej trommelt zum Aufbruch.
Die letzten Kilometer nach Sofia.
Am Rande der Stadt ein Zeltlager von Roma; in der City alte Plattenbauten und neue Wolkenkratzer im Wechsel. Javor, der versteinerte, starrt aus dem Fenster. Er muss sich arbeitslos melden.
"Es gibt zwei Punkte; sehr arme Leute, die können nicht wohnen und dieselbe Zeit sehr reiche; aber Mittelposten gibt es nicht."
Auf dem Bussteig Gewusel, jeder will schnell an sein Gepäck kommen. Die
Küchenhelfer liegen sich zum Abschied in den Armen.
Georgi macht ein wehmütiges Gesicht; sie waren eine eingeschworene
Gemeinschaft; nun kämpft jeder für sich weiter.
"Jetzt muss Ticket kaufen und muss wechseln Geld, ich habe nur Euro; jetzt muss Leva."
In Bulgarien gilt noch die Landeswährung. Mit den Euros, die Georgi in Deutschland verdient hat, kann er seine Familie gerade noch einen Monat über Wasser halten. Er muss sich kümmern. Er winkt noch mal und verschwindet in der Menge.
Andrej hat alle Hände voll zu tun, seine Restreisenden in den Anschluss-Bus zu bugsieren. Gleich hat er Feierabend.
"Bye and good luck."
So schnell endet eine Bekanntschaft. Busfahren reißt auseinander.
Jetzt sind wir nur noch eine Handvoll Passagiere auf dem Weg gen Osten, viele von ihnen Frauen mit türkischen Wurzeln. Saesa sitzt zwei Reihen hinter mir.
Die Straßen sind schlecht da draußen, wir werden durchgeschüttelt. Im Mondlicht da draußen kann ich erahnen, an welch endlosen Weiten wir vorüber fahren. Weizenfelder, Sonnenblumen, in der Ferne hohe Berge. Muss schön sein. Ich rücke vor zu Saesa.
"Sehr schön, romantisch, romantisch. Alles gegeben Gott."
Eine original verpackte Stehlampe
Nur das Geld hat er vergessen sagt sie und lacht nochmal. Das durchschnittliche Monatseinkommen in Bulgarien liegt bei 150 Euro. Saesa freut sich auf´s Ankommen. Plovdiv, Stara Zargova, Sliven, und dann Burgas; jetzt sind wir nur noch zu dritt, ich hätte die Ankunft glatt verschlafen. Es ist zwei Uhr.
Pechschwarze Nacht umfängt uns, als ich mit schwachen Beinen auf die Straße stolpere. Wie geht es jetzt weiter?
Es ist still; nur Saesa und ich stehen noch auf dem breiten Trottoir vor dem Bahnhof. Und ein Taxifahrer, der zwar gerne mich, aber nicht Saesa und ihre Riesentasche transportieren will. Die hatte ich ganz vergessen.
Wir überreden den Mann, ich fasse bei der Tasche mit an.
"Wie heißt du?"
"Elin"
"Suzie"
"Freut mich sehr."
Gemeinsames Schleppen verbindet. Nach einer kurzen Fahrt stehen wir vor Suzies Haus.
"Ich wohne hier, im fünften Stock."
Im Hausflur riecht es nach Schimmel. Der Taxifahrer ist weg. Die Tasche ist da. Sie wiegt 100 Kilo. Mindestens, um die Uhrzeit. Eine nackte Glühbirne beleuchtet unser nacktes Elend.
Suzie öffnet die Tasche; sie hat in Deutschland eingekauft, sehe ich; eine original verpackte Stehlampe kommt zum Vorschein, Bettwäsche, Kleidung und ohne Ende Kassenbons. Es hilft nichts, wir müssen das Zeug nach oben schaffen. Fünfter Stock.
Meine Beine zittern. Nach 38 Stunden Busfahrt jetzt noch 238 Treppenstufen.
Um 3 Uhr ist alles oben. Ich verabschiede mich von meiner neuen Freundin und lasse mich von einem Taxi in ein Hotel fahren.
Der nächste Nachmittag. Nach zehn Stunden Tiefschlaf und einem kleinen Spaziergang durch eine morbid-mondäne Stadt schaffe ich die Treppen fast schon wieder spielend. Die Sonne scheint durch die windschiefen Fenster hinein; das Haus von gestern - heute hat es Charme und Potential.
Suzie sieht hellwach aus.
"Och, nicht lang geschlafen! Nur eine Stunde, dann duschen und draußen gegangen - ja, viel Arbeit, Arbeit ja!"
Sie war schon beim Friseur; sie ist nicht mehr blond, sie ist jetzt feuerrot. Sie trägt grau-glitzernden Lidschatten und einen enganliegenden schwarzen Hosenanzug.
Jemand kommt herein; Suzie plaudert mit einem Mann: "Das ist Vasco; er ist Kollega von der Opera."
Suzies Ex-Kollege hält ein Stoffmusterbuch in der Hand; er war Bühnenbildner und soll jetzt die Sessel neu beziehen. Der Raum ist frisch gestrichen, das rote Sofa und die beiden Ledersessel neu und modern. Ein LED-Fernseher steht hinter mir, riesig. Ich verstehe. In Deutschland ist Suzie nur eine billige Arbeitskraft. Doch mit dem Geld, das sie da verdient, ist sie hier eine Königin.
Wenn alles schick ist, will sie wieder nach Deutschland, mehr Geld verdienen. Sie ist 56. Kein Mann, keine Kinder.
"Drei, vier Jahre noch; arbeiten. Und dann: Auszahlen meine Kredit. Hier vielleicht etwas finden Arbeit, für mich nur. Kann Gott wissen; Zukunft? Wer wissen Zukunft ... ?"
Sie wendet sich wieder den Stoffmustern zu. Zum Strand kann sie später noch gehen. Die Rote Zora von Burgas wird es einen Monat lang richtig krachen lassen. Bis sie wieder in den Bus steigt. 38 Stunden - bis Euroland.
Elin Rosteck: "Bulgarien ist ein Billig-Urlaubsland für Deutsche und es ist eines der ärmsten Länder in der EU. Ich hatte bislang keine Ahnung, was das im Einzelnen bedeutet. Im Bus habe ich das aber gelernt."