Glühwein in der Grabstätte
Der November liegt hinter uns - ein Monat mit Totensonntag, Volkstrauertag, Allerseelen und Allerheiligen. Außerdem welkt alles, Laub verrottet, Leben vergeht - ein Monat der Friedhöfe. Beim Spaziergang über den größten Parkfriedhof der Welt, den Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg kann man sehen - natürlich unter sachkundiger Anleitung -, dass wir offenbar nicht einmal im Tod alle gleich sind.
Schwer und grau hängt der Himmel über dem Ohlsdorfer Friedhof, über den dichten, meterhohen Rhododendronhecken, den alten hochgewachsenen Kiefern, Eichen, Platanen. Über den nassen Asphalt der Cordesallee rollt langsam, fast bedächtig, der Autoverkehr, vorbei an der Bushaltestelle mitten auf dem Friedhof. Anna Götz kennt hier fast jeden Grabstein, ist begeistert von der Anlage, ihren verschlungenen Pfaden:
"Wir stehen hier jetzt hier vor so einer Rhododendrenwand. Mit so ein paar kleinen Ausbuchtungen. Und spannend wird es wirklich ab dem Punkt, wo man sich nicht mehr auf dem Gehweg befindet, sondern sich die matschigen Wege entlang bewegt. Und wir gehen jetzt noch ein Stück weiter nach vorne ... "
... und dann biegen wir ab auf die matschigen, schmalen Pfade durch das dichte Grün der Hecken. Im Sommer 1877 wurde der Friedhof eingeweiht, erzählt Anna Götz, die als Wirtschaft- und Sozialhistorikerin an der Uni Hamburg forscht.
Quer über Europas Gräber
Mit einer Hand hält sich die junge Frau den weißen Regenmantel zu, ihr kugelrunder Babybauch ist nicht zu übersehen. Für ihre Forschungen ist sie quer durch Europa gereist: zum Friedhof Père la Chaise in Paris, zum Wiener Zentralfriedhof, auf letzte Ruhestätten in Berlin, Zürich, Genua und München. Gerade erschien ihre Arbeit: "Die Trauernde - Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauer um 1900".
"Grabplätze lagen eigentlich bis ins 19. Jahrhundert direkt an den Kirchgebäuden. Und als der Platz innerhalb dieser Befestigungsanlagen zu eng wurde, hat man die Friedhöfe ausgelagert, vor die Stadtmauern oder vor die Wallanlagen. In Hamburg ist das vor allem auf dem Areal, wo heute die Messe liegt und zum Teil dort, wo heute der Hauptbahnhof liegt. Das hat es in mehreren europäischen Metropolen gegeben, dass der Hauptbahnhof dort liegt, wo es mal Friedhöfe gab. Weil es dann, für das 19. Jahrhundert, mit dem Bevölkerungswachstum so einen großen Wurf geben musste."
In Hamburg kaufte die Stadt das riesige Areal der Ohlsdorfer Feldmark, erzählt die Forscherin. 390 Hektar groß ist das Gelände heute, das Wegenetz erstreckt sich über 80 Kilometer. Eigentlich sah das Konzept der Planer vor, die Toten nicht mehr in Massengräbern, sondern einzeln beizusetzen.
"Es gibt von Foucault übrigens dieses schöne Zitat: 'Der größte Verdienst des Bürgertums ist, das jeder ein Recht auf seine eigene, kleine, private Kiste bekommen hat!' Jeder hat ein Anrecht auf sein eigenes Grab. Das identifizierbar ist, das beschriftet wird, das eine Nummer bekommt und das in einem Planquadrat wiederzufinden ist. Nur was das Bürgertum draus gemacht hat ... - ist eine elitäre Bestattungskultur."
Der kleine Trampelpfad zwischen den Hecken öffnet sich zu einem grasbewachsenen Platz, groß wie ein Volleyballfeld. Auf zwei Dutzend Gräbern liegen helle Kissensteine, vorn steht eine überlebensgroße Familie auf ihrem Sockel:
"Das konnte sich nicht jeder leisten: Das ist eine Figurengruppe aus weißem Marmor. Und das, was dargestellt ist, entspricht einfach absolut diesem bürgerlichen Habitus: vom kleinen Kind, vom Säugling über den standhaften, kräftigen, schönen Mann mit der Frau an seiner Seite bis hin zum Greis, der kurz vor dem Tod ist. Betont absolut Männlichkeit und entspricht auch diesem bürgerlichen Geschlechterideal."
Entschlossen schaut der marmorne Patriarch in die Ferne, der Greis kauert unten, wartet aufs Ende. Eine Arbeit des Bildhauers Arthur Bock, der in ganz Deutschland und in Frankreich Kunst für besondere Grabstätten lieferte. Einen Kilometer entfernt geht es noch weniger bescheiden zu. Nicht dicht an dicht, nicht versteckt hinter grünen Barrieren, sondern gut sichtbar thronen Mausoleen in der Rasenlandschaft. Geräumige Ruhestätten für tote Großbürger:
Kapital für die Adler über den Toten
"Ich finde, es sieht so aus, als könnte da direkt mal auch eine vierköpfige Familie einziehen. Lebend."
Die Luxusgruften sind aus Sandsteinblöcken gemauert, mächtige Adler wachen rechts und links der Kuppeldächer. Schwere, eisenbeschlagene Eichentore sichern die prächtigen Grabstätten, von denen einige langsam aber sicher verfallen, weil es an Nachkommen fehlt oder diesen am nötigen Kapital. - Um den Verfall zu stoppen, bietet die Ohlsdorfer Friedhofsverwaltung so genannte Mausoleums-Patenschaften an. Geklappt hat das beim Totenbau der Familie Hoefele. Der Großkaufmann Johannes Hoefele starb 1915, zehn Jahre später seine Frau Ines. Die schwarze, frischgestrichene Flügeltür des Mausoleums steht halb offen.
"Moin. Wollen Sie da mal rein?
"Ja, wenn das geht!"
"Ja, ja!"
Werner Carstens ist stolzer Pate des runden Baus. Bittet herein in sein Mausoleum:
"Ich bin ganz froh, dass man so ein Gebäude hat! Wer kriegt das schon? Wer hat schon mal so ein Gebäude? Ein hundert Jahre altes Mausoleum! Wer gibt so was her? Ich hatte Glück und dann habe ich die Patenschaft übernommen. Und wir haben das alles schön gemacht, nicht?"
Den Schimmelbefall hat Carstens in den Griff bekommen, die Wände sind in warmem Rot getüncht, ein Ventilator dreht sich unter der acht Meter hohen Kuppel. Die alten Särge wurden entfernt. Jetzt stehen drei Urnen als Dekoration in einem Alkoven. Schwarze Stoffrosen auf dem Tischchen in der Mitte, schwarzgepolsterte Gartenstühle drumherum. Dahinter sitzt, weißer Marmor, ein zartes junges Mädchen, das weinende Gesicht in den Händen verborgen. Carstens' Engagement kam gerade noch rechtzeitig. Denn ein paar Mal wurde die Gruft schon zweckentfremdet, erzählt er:
"Das Problem war: Hier waren die Grufties drin! War alles aufgebrochen, keine Scheiben drin ... Da haben die denn so Messen gefeiert. Mit Hühnerschlachten und so einem Blödsinn. Weiß angetünchte Menschen. Und denn in Schwarz. Und denn haben sie wohl den Teufel gespielt. Oder was weiß ich ..."
Ein Mausoleum nur für die Familie, aber dannkamen die Grufties
Die Grufties sind sie los. Dafür haben Werner Carstens und seine Frau durch ihr Mausoleum neue Freunde gefunden. Mit denen wird - ab und zu - der Familie Hoefele gedacht. Und - ab und zu - wird dort auch wieder gefeiert:
"Der Herr Baumann hat ein Mausoleum, Herr Strieahl hat ein Mausoleum, wir, und Dr. Uhlig hat ein Mauso ... Und wir sind alle zusammen und dann feiern wir Totensonntag, mache hier immer so eine kleine Party hier. Bauen wir ein Zelt auf, 's gibt Glühwein, eine Wurst oder Erbsensuppe. Und denn unterhalten wir uns hier und freuen uns, dass wir noch leben. Das ist das Schöne an der Sache! Nachher, wenn man hier erstmal drin liegt, dann ist alles vorbei ..."