Unterwegs in Jerichow
Vor 75 Jahren wurde Uwe Johnson geboren. Immer wieder tauchen in seinen Büchern Beschreibungen seiner ehemaligen mecklenburgischen Heimat auf, unter anderem in den "Jahrestagen", der Geschichte der Gesine Cresspahl. Ein Vorbild für deren fiktiven Heimatort Jerichow könnte das Dörfchen Klütz gewesen sein, wo es jetzt ein Uwe-Johnson-Literaturhaus gibt.
Der restaurierte, alte Getreidespeicher mit seinen braunen Holzladen vor den Fensterluken ist ein Blickfang am Klützer Marktplatz. Seit drei Jahren beherbergt er das Uwe-Johnson-Literaturhaus. Von hier aus sieht man auf abgeblühte Rapsfelder, auf die restaurierte Mühle und die ziegelrote Bischofsmütze, die den Kirchturm von St. Marien krönt und sich erst recht ins Bild schiebt, wenn man sich von Wismar, Lübeck oder Boltenhagen kommend nähert. Der Klützer Winkel ist Uwe-Johnson-Gegend. Johnson hatte einen Onkel in Klütz, kannte die Gleise, die sich vom heute verwahrlosten Bahnhof gen Westen erstreckten:
"Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen ..."
Der Anfangssatz aus dem Roman "Mutmaßungen über Jakob" drängt sich auf, obwohl er nicht hierher gehört, sondern zu einem "großen Bahnhof an der Elbe". Sicher aber kannte Johnson den Fußweg zur Ostsee und das Anwesen mit viel Nebengelass im Thurow gleich nebenan. Gesine Cresspahls Mutter Lisbeth Papenbrock könnte hier aufgewachsen sein, ehe sie den Kunsttischlermeister Heinrich Cresspahl heiratete. Fiktion als Marschgepäck für einen Spaziergang auf Johnsons Spuren. "Manchmal benähmen sich die Jerichower als sein sie Klützer", schreibt Uwe Johnson. Seine Texte sind gesättigt mit Wegbeschreibungen und Schilderungen, die der Leser in der tatsächlichen Landschaft wieder zu erkennen glaubt.
"Hier sitzt er nun in New York und erinnert sich an was?"
An Mecklenburg? Uwe Johnson erbat für die Arbeit an den "Jahrestagen" per Brief von Bekannten und Freunden immer wieder Fakten und Geschichten aus seiner früheren Welt. Die verlassenen Orte seiner Kindheit waren ein "Verlust", der schmerzte.
Die literarischen Spaziergänger durch Klütz, die sich vom Literaturhaus aufmachen, kommen meist aus dem Westen. Wissend zitieren Sie die Stellen aus den "Jahrestagen", suchen das Gespräch über die späte Heimkehr des "verlorenen Sohnes". Dagegenhaltend fällt mein "Letztlich war Uwe Johnson doch nie ganz weg" auf skeptische Blicke. Seit er im Juli 1959 die DDR verließ, - er wechselte am Erscheinungstag seines Romans "Mutmaßungen über Jakob" bei Suhrkamp per S-Bahn von Ost nach West - erlebte er keine Veröffentlichung seiner Bücher im Arbeiter- und Bauernstaat. Deshalb wehrte er sich auch gegen das Etikett der Kritiker: Dichter beider Deutschlands zu sein.
"Das sind Erfahrungen, die ich gemacht habe, und ich habe in beiden Teilen Restdeutschlands gelebt, infolgedessen befassen sich diese Geschichten mit Leuten, die entweder auf beiden Seiten leben oder auf je einer Seite, aber mit der anderen Seite verbunden sind."
Und gelesen haben ihn östlich der Elbe einige dennoch in Westausgaben, haben geredet über den Johnson-Ton, über die moderne Schreibweise, Dokumentarisches und lebenspralle Geschichten, die vom Jahrhundert gezeichnet sind, zu verweben, beispielsweise an der Universität in Leipzig in den 70ern. Gegen alle offiziellen Verbote waren der Student und seine Professoren aus dem legendären Hörsaal 40 aus den Köpfen Leipziger Studenten nicht zu streichen. Auch die schwerfällige Stimme, die die Herkunft nie leugnen konnte, und spielerisch den sprechenden Tonfall seiner Figuren annahm, hatte sich eingeprägt. Seither war diese Stimme beim Lesen nicht mehr aus dem Ohr zu verbannen.
Johnson schrieb wie kein anderer deutscher Erzähler über die Auswirkungen der Teilung auf den Lebensalltag der kleinen Leute. Dabei geriet der junge Autor beim Start auf dem deutschen Buchmarkt zunächst ins Stolpern. Das Romanmanuskript "Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953” schickte der 22-Jährige an den Aufbau-Verlag. Ihm liege daran, schrieb er, "dass die Skripte ein Buch werden in der Demokratischen Republik". "Als Talentprobe nicht von besonderem Belang" hier abgetan, konnte er zuvor auch den Suhrkamp-Lektor Siegfried Unseld nicht überzeugen. Der Roman erschien schließlich erst postum. In seinem Debüt erzählt er von einer Abiturientin, die eine öffentliche Stellungnahme gegen die Junge Gemeinde verweigert, von der Schule fliegt und mit ihrem Freund Klaus Niebuhr in den Westen geht, obwohl diese Alternative "beide eigentlich als die falsche erachten". Große Geschichte drängt sich ins Leben von Abiturienten, Rangierern, Pfarrern, Staatssicherheitsmitarbeitern, Tischlern und der Fremdsprachensekretärin Gesine Cresspahl, die seit 50 Jahren zur Literaturgeschichte gehört.
"Jetzt könnten Sie gleich anfangen und sagen: Über eine solche Person aus Mecklenburg macht man doch nicht solchen Zimt, und ich würde sagen: Recht haben Sie. Und dann würd ich sagen: Also reich ist sie nicht, und jetzt könnten Sie mich noch fragen: Ist sie irgendwie besonders hübsch? Wissen Sie, nicht wahr, würde ich sagen, ich kenne sie ein bisschen und möchte mit ihr befreundet bleiben. Ich würde vielleicht sagen: apart, nicht."
"Die Jahrestage" - das Opus Magnum in vier Bänden - erzählen von dem Davor und dem Danach der deutschen Teilung, von der Weimarer Zeit, dem wirtschaftlichen Niedergang und dem "Tausendjährigen Reich", von den ersten Russen, die 1945 nach Jerichow kommen, von anonymen New Yorker Hochhauswohnungen, Vietnamkrieg und dem blutigen Ende des Prager Frühlings. Gesine war nach dem Studium in den Westen gegangen, arbeitete als NATO-Sekretärin, gelangte schließlich mit ihrer Tochter nach New York.
Auch Uwe Johnson wechselte von seinem Westberliner Wohnsitz nach Big Apple, lebte zuletzt im englischen Sheerness. Eine Reaktion auf das zerrissene Land. Schon Jakob Abs fühlte sich "im Westen fremd und im Osten nicht mehr heimisch".
Freunde und Feinde in Akademien und Vereinigungen schätzten und fürchteten sein schnelles, scharfzüngiges Urteil. Unerbittlich bis zur Selbstzerstörung war er auch gegen sich selbst, getrieben von existenziellen Nöten, Alkoholsucht und Verfolgungswahn. Erst im Jahr vor seinem Tod 1984 beendete er den vierten Teil der "Jahrestage".
"Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen ..."
Der Anfangssatz aus dem Roman "Mutmaßungen über Jakob" drängt sich auf, obwohl er nicht hierher gehört, sondern zu einem "großen Bahnhof an der Elbe". Sicher aber kannte Johnson den Fußweg zur Ostsee und das Anwesen mit viel Nebengelass im Thurow gleich nebenan. Gesine Cresspahls Mutter Lisbeth Papenbrock könnte hier aufgewachsen sein, ehe sie den Kunsttischlermeister Heinrich Cresspahl heiratete. Fiktion als Marschgepäck für einen Spaziergang auf Johnsons Spuren. "Manchmal benähmen sich die Jerichower als sein sie Klützer", schreibt Uwe Johnson. Seine Texte sind gesättigt mit Wegbeschreibungen und Schilderungen, die der Leser in der tatsächlichen Landschaft wieder zu erkennen glaubt.
"Hier sitzt er nun in New York und erinnert sich an was?"
An Mecklenburg? Uwe Johnson erbat für die Arbeit an den "Jahrestagen" per Brief von Bekannten und Freunden immer wieder Fakten und Geschichten aus seiner früheren Welt. Die verlassenen Orte seiner Kindheit waren ein "Verlust", der schmerzte.
Die literarischen Spaziergänger durch Klütz, die sich vom Literaturhaus aufmachen, kommen meist aus dem Westen. Wissend zitieren Sie die Stellen aus den "Jahrestagen", suchen das Gespräch über die späte Heimkehr des "verlorenen Sohnes". Dagegenhaltend fällt mein "Letztlich war Uwe Johnson doch nie ganz weg" auf skeptische Blicke. Seit er im Juli 1959 die DDR verließ, - er wechselte am Erscheinungstag seines Romans "Mutmaßungen über Jakob" bei Suhrkamp per S-Bahn von Ost nach West - erlebte er keine Veröffentlichung seiner Bücher im Arbeiter- und Bauernstaat. Deshalb wehrte er sich auch gegen das Etikett der Kritiker: Dichter beider Deutschlands zu sein.
"Das sind Erfahrungen, die ich gemacht habe, und ich habe in beiden Teilen Restdeutschlands gelebt, infolgedessen befassen sich diese Geschichten mit Leuten, die entweder auf beiden Seiten leben oder auf je einer Seite, aber mit der anderen Seite verbunden sind."
Und gelesen haben ihn östlich der Elbe einige dennoch in Westausgaben, haben geredet über den Johnson-Ton, über die moderne Schreibweise, Dokumentarisches und lebenspralle Geschichten, die vom Jahrhundert gezeichnet sind, zu verweben, beispielsweise an der Universität in Leipzig in den 70ern. Gegen alle offiziellen Verbote waren der Student und seine Professoren aus dem legendären Hörsaal 40 aus den Köpfen Leipziger Studenten nicht zu streichen. Auch die schwerfällige Stimme, die die Herkunft nie leugnen konnte, und spielerisch den sprechenden Tonfall seiner Figuren annahm, hatte sich eingeprägt. Seither war diese Stimme beim Lesen nicht mehr aus dem Ohr zu verbannen.
Johnson schrieb wie kein anderer deutscher Erzähler über die Auswirkungen der Teilung auf den Lebensalltag der kleinen Leute. Dabei geriet der junge Autor beim Start auf dem deutschen Buchmarkt zunächst ins Stolpern. Das Romanmanuskript "Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953” schickte der 22-Jährige an den Aufbau-Verlag. Ihm liege daran, schrieb er, "dass die Skripte ein Buch werden in der Demokratischen Republik". "Als Talentprobe nicht von besonderem Belang" hier abgetan, konnte er zuvor auch den Suhrkamp-Lektor Siegfried Unseld nicht überzeugen. Der Roman erschien schließlich erst postum. In seinem Debüt erzählt er von einer Abiturientin, die eine öffentliche Stellungnahme gegen die Junge Gemeinde verweigert, von der Schule fliegt und mit ihrem Freund Klaus Niebuhr in den Westen geht, obwohl diese Alternative "beide eigentlich als die falsche erachten". Große Geschichte drängt sich ins Leben von Abiturienten, Rangierern, Pfarrern, Staatssicherheitsmitarbeitern, Tischlern und der Fremdsprachensekretärin Gesine Cresspahl, die seit 50 Jahren zur Literaturgeschichte gehört.
"Jetzt könnten Sie gleich anfangen und sagen: Über eine solche Person aus Mecklenburg macht man doch nicht solchen Zimt, und ich würde sagen: Recht haben Sie. Und dann würd ich sagen: Also reich ist sie nicht, und jetzt könnten Sie mich noch fragen: Ist sie irgendwie besonders hübsch? Wissen Sie, nicht wahr, würde ich sagen, ich kenne sie ein bisschen und möchte mit ihr befreundet bleiben. Ich würde vielleicht sagen: apart, nicht."
"Die Jahrestage" - das Opus Magnum in vier Bänden - erzählen von dem Davor und dem Danach der deutschen Teilung, von der Weimarer Zeit, dem wirtschaftlichen Niedergang und dem "Tausendjährigen Reich", von den ersten Russen, die 1945 nach Jerichow kommen, von anonymen New Yorker Hochhauswohnungen, Vietnamkrieg und dem blutigen Ende des Prager Frühlings. Gesine war nach dem Studium in den Westen gegangen, arbeitete als NATO-Sekretärin, gelangte schließlich mit ihrer Tochter nach New York.
Auch Uwe Johnson wechselte von seinem Westberliner Wohnsitz nach Big Apple, lebte zuletzt im englischen Sheerness. Eine Reaktion auf das zerrissene Land. Schon Jakob Abs fühlte sich "im Westen fremd und im Osten nicht mehr heimisch".
Freunde und Feinde in Akademien und Vereinigungen schätzten und fürchteten sein schnelles, scharfzüngiges Urteil. Unerbittlich bis zur Selbstzerstörung war er auch gegen sich selbst, getrieben von existenziellen Nöten, Alkoholsucht und Verfolgungswahn. Erst im Jahr vor seinem Tod 1984 beendete er den vierten Teil der "Jahrestage".