Schwerins Kampf gegen das Siegel "Hochrisikogebiet"
10:44 Minuten
In Schwerin spricht der Bürgermeister in Corona-Verwaltungsstab plötzlich über Versicherungen, Demonstrationen werden mit Flatterband abgeschirmt und 163 kann dort unter Umständen eine sehr positive Zahl sein: Schweriner Pandemiealltag.
Wenn die Schweriner etwas von ihrer Stadt wollen und dafür auf's Amt müssen, gehen sie ins Stadthaus, ein modernes Bürogebäude in Bahnhofsnähe. Seit März darf nur eintreten, wer zuvor per Internet einen Termin vereinbart hat. Im jetzigen harten Lockdown achten zeitweise bis zu fünf Wachleute darauf, dass niemand durchmarschiert. Corona eben.
Doch letztlich funktioniert der Bürgerservice auch in Pandemiezeiten, und wesentlich dafür verantwortlich ist Hartmut Wollenteit. Er ist seit dem Jahr 2000 Hauptamtsleiter der Schweriner Stadtverwaltung. Corona durchdringt sein Arbeitsleben freilich noch in vielen anderen Bereichen. "Ich würde sagen: werktags 50 Prozent. Am Wochenende natürlich 100 Prozent", sagt der 61-Jährige auf die Frage, wie viel seiner Arbeitszeit die direkte Pandemiebewältigung verschlingt.
Mal sind die Helfer für die Kontaktverfolgung bei Infizierten zu koordinieren, mal sind Angestellte aus der derzeit geschlossenen städtischen Schwimmhalle ins Gesundheitsamt zu versetzen, um in Quarantäne befindliche Schweriner zu betreuen, dann sind Telefonhotline und Impfzentrum aus dem Boden zu stampfen, oder es sind Schüler für den Distanzunterricht mit Laptops auszustatten. Auch diese Fäden laufen bei dem Schweriner Verwaltungschef zusammen.
Schwerin rutscht in die "Zone Rot"
Donnerstag, 3. Dezember, kurz vor 14:30 Uhr. Der Corona-Verwaltungsstab schaltet sich zusammen. "Krisenstab" will sich der Kreis um Oberbürgermeister Rico Badenschier nicht nennen. Immerhin hat Schwerin mit seinen knapp 96.000 Einwohnern bis zu diesem 3. Dezember noch nie den kritischen 50er-Inzidenzwert gerissen. Eine von nur noch wenigen Ausnahmen bundesweit.
"Unterm Strich sind wir von der Pandemie im Vergleich zu anderen relativ verschont geblieben. Den aktuellen Stand erfahren wir gleich." Gleich zu Beginn der Telefonkonferenz entschuldigt sich die zuständige Amtsarzt dafür, "eine Minute zu spät" zu sein. "Aber wir haben eine große Lage mit 19 neuen Fällen."
Damit rutscht Schwerin erstmalig von der "Zone Orange" in die "Zone Rot". Die gute Nachricht: Die Ausbrüche fanden wieder vor allem in eingrenzbaren Einrichtungen statt: in einem Pflegeheim und in der Schweriner Erstaufnahmestelle für Asylbewerber. Nur ein Obdachloser, in der Notaufnahme positiv getesteter Rumäne, werde noch gesucht, erfährt der Oberbürgermeister und lenkt dann den Blick auf den bevorstehenden Samstag.
Fünf Demo-Areale mit Flatterband abgetrennt
Es geht um einen angemeldeten Autokorso und eine anschließende Kundgebung gegen die staatlichen Pandemie-Schutzmaßnahmen. Die Genehmigungsentscheidung landete auf dem Tisch von Hartmut Wollenteit, und der Chefjurist der Schweriner Stadtverwaltung befand nach gründlicher Abwägung: nicht verbieten, sondern unter Auflagen genehmigen. Die Polizei werde auf dem geräumigen Berta-Klingberg-Platz fünf getrennte Areale mit Flatterband kenntlich machen. Darin dürfen sich dann jeweils höchstens 500 Demonstranten bewegen.
"Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich in meinem langen Beamtenleben noch mal so tief in den Grundrechten waten werde. Hätte ich mir nicht träumen lassen. Bei jeder Versammlung, wir haben ganz viele Versammlungen hier, ist wirklich die Frage: Infektionsschutz versus Versammlungsfreiheit. Wir müssen immer genau auf die Schweriner Situation schauen: Mit wem haben wir es als Anmelder zu tun? Wie berücksichtigt der dann infektionsschutzrechtliche Belange? Keine schematische Lösung möglich!"
"Wir sind laut, weil man uns die Freiheit raubt
Samstag, 5. Dezember 2020, 16 Uhr. Die Schweriner Kundgebung gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen beginnt. Auch Hauptamtsleiter Hartmut Wollenteit schlägt sich diesen Samstagnachmittag in der Kälte um die Ohren.
"Weil das auch häufig ein Thema ist, was uns im Nachgang noch juristisch beschäftigt. Und da möchte ich für mich auch einen persönlichen Eindruck gewinnen. Ich sehe hier ein ruhiges Geschehen mit deutlich weniger als erwartet Teilnehmern."
Knapp 300 Menschen sind gekommen. Reichsfahnen sind nicht zu sehen. Viele tragen Transparente, Pappschilder oder Kerzen, und die meisten auch eine Corona-Maske. Sprechchöre zu hören wie "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Freiheit raubt" und irgendwann ein Redner, der sich von der kleinen Tribüne aus an die umstehenden Polizisten und andere staatliche Entscheider wendet:
Redner: "Jeder, der nötigt, wird zur Verantwortung gezogen werden. Jeder, der anordnet, wird zur Verantwortung gezogen."
Wollenteit: "Da fühle ich mich schon angesprochen, ja. Ich denke, er meint es in der Richtung zu sagen: 'Wenn wir mal politische Verantwortung haben, dann werdet ihr keine mehr haben.' Ich finde das trotzdem ein bisschen bizarr. Dass man unterschiedlicher Meinung sein kann, in Ordnung. Aber, dass hier die Polizisten, oder sei es sonst wer, hier ihre Pflicht tun, das ist doch offensichtlich."
Reporterin: "Und sonst der Eindruck vom Ablauf der Demonstration?"
Wollenteit: "Geordnet, ruhig. Die Menschen üben hier ihr Demonstrationsrecht aus und dagegen habe ich keine Einwände. Es muss auch möglich sein, Dinge zu sagen, die die Mehrheit nicht gern hört."
Wollenteit: "Da fühle ich mich schon angesprochen, ja. Ich denke, er meint es in der Richtung zu sagen: 'Wenn wir mal politische Verantwortung haben, dann werdet ihr keine mehr haben.' Ich finde das trotzdem ein bisschen bizarr. Dass man unterschiedlicher Meinung sein kann, in Ordnung. Aber, dass hier die Polizisten, oder sei es sonst wer, hier ihre Pflicht tun, das ist doch offensichtlich."
Reporterin: "Und sonst der Eindruck vom Ablauf der Demonstration?"
Wollenteit: "Geordnet, ruhig. Die Menschen üben hier ihr Demonstrationsrecht aus und dagegen habe ich keine Einwände. Es muss auch möglich sein, Dinge zu sagen, die die Mehrheit nicht gern hört."
Die örtliche Maskenpflicht und ihre Verwaltungshürden
Donnerstag, 17. Dezember. Zwei Wochen nach unserem ersten Treffen wieder im Stadthaus im Büro von Hauptamtsleiter Wollenteit. Der erhält in der 14:30-Telefonkonferenz die Bitte von Oberbürgermeister Badenschier, nun doch das vor Wochen eingegangene und zunächst abschlägig beschiedene Angebot für auswärtige Hilfskräfte anzunehmen. Gerade hat die Runde die neuen tagesaktuellen Infektionszahlen für Schwerin gehört.
"Zahlen, die in unserem Kosmos gerade exorbitant hoch sind. Also wir haben heute 55 neue Fälle. Das ist ein absoluter Höchststand, doch weitgehend konzentriert auf ein Ausbruchsgeschehen in einer Betreuungseinrichtung."
Dennoch hat Schwerin seine 7-Tage-Inzidenz innerhalb von zwei Wochen mehr als verdreifacht. Da hält in Mecklenburg-Vorpommerns nur Deutschlands größter Landkreis Mecklenburgische Seenplatte mit. Obwohl dünn besiedelt, reagiert der dortige Landrat prompt mit einem weitreichenden Ausgangsverbot.
So weit ist man in der Landeshauptstadt noch nicht. Doch das kann sich schnell ändern. Vor zwei Wochen zum Beispiel hatte sich der Krisenstab noch dagegen entschieden, auf der sehr belebten Einkaufsmeile am Marienplatz das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckung zu verfügen. Das Land hatte eine entsprechende rechtliche Grundlage geschaffen. Doch eine Verfügung müsse immer so bestimmt formuliert sein, dass die Adressaten genau wissen, was sie wo und wann zu tun haben, so Hartmut Wollenteit noch Anfang Dezember: "Das hat sich in vielen anderen Orten als quasi unmöglich erwiesen. Verwaltungsrichter haben das reihenweise aufgehoben. Insofern: Danke für das Angebot. Wir haben eher Zweifel, ob wir das umsetzen werden."
Die Konsequenzen stehen unter römisch sechs
Mittlerweile gilt die Maskenpflicht in einem größeren Bereich der Schweriner Altstadt und damit auch auf dem vom harten Lockdown fast leer gefegten Marienplatz. Und mit Blick auf die aktuellen Zahlen und den geltenden Corona-Landeserlass gibt der Amtsleiter nun zu bedenken:
"Wir haben jetzt eine Inzidenz von über 170. Das hat nach römisch sechs dieses Erlasses für uns zwei Konsequenzen: Wir müssen über Ausgangsbeschränkungen nachdenken, wenn wir in der Stadt diffuses Infektionsgeschehen haben. Und wir können uns überlegen, ob wir über unsere Gemeindegrenze hinaus staatliche Hilfe anfordern. Ich spreche das an, damit wir uns nicht erst mit der Frage beschäftigen, wenn wir bei tatsächlich bei 200 sind. Weiter!"
"Ja, also '55' klingt dramatisch mit der Häufung im Augustenstift", sagt OB Rico Badenschier. Doch noch gehe das Virus nicht in der gesamten Stadt um. Also: Den Ernstfall bedenken, doch vorerst nur die Allgemeinverfügung für die betroffenen Infektionsherde nachschärfen. Der Auftrag geht an Hartmut Wollenteit.
Ein nagelneues Impfzentrum und viele Freiwillige
In der kurzen Pause bis zur nächsten Besprechung berichtet der Schweriner Verwaltungschef mit erkennbarem Stolz von dem nagelneuen Impfzentrum, das in der notgedrungen leer stehenden Sport- und Kongresshalle untergebracht ist. Bislang hätten sich rund 200 freiwillige Helfer gemeldet, darunter viele Ärzte.
Noch liegen einige Fragen auf seinem Tisch, etwa wer für einen möglichen Impfschaden haftet: "Das können sehr, sehr, sehr teure Schäden werden. Da gibt es eine Anfrage zu unserem Haftpflichtversicherer; noch keine Antwort. Es gibt die klare Forderung Richtung Land, dass sie das übernehmen. So was muss geklärt sein, und sie wollen auch wissen, wie viel Geld sie bekommen. Für Gottes Lohn will das dann noch niemand machen. Dafür gibt es seit heute offenbar Sätze. Das weiß ich aber nur vom Hörensagen. Die habe ich noch nicht gesehen."
Es fehlt nur noch der Impfstoff
Klar ist: Die Impfhelfer werden aus dem Landeshaushalt vergütet. Fehlt nur noch der Impfstoff. Mit ihm würde sich auch für die Schweriner Stadtangestellten und -beamten eine Rückkehr zum normalen Arbeitsalltag abzeichnen. Wobei, komplett zurück, sollte es besser nicht gehen, findet Hartmut Wollenteit, der die Geschicke der Verwaltung seit 20 Jahren leitet.
Corona habe jedenfalls viel Überraschendes in und mit dem tendenziell trägen Verwaltungsapparat ermöglicht: "Dass wir auch mit relativ wenigen Problemen den Bürgerservice auch unter Pandemie-Bedingungen fortsetzen können, das hätte ich in dieser Schnelligkeit des Umstellens so nicht erwartet. Neben ein paar Drückebergern gibt es auch viele Helden. Auch unwahrscheinliche Helden, die sich plötzlich zeigen und mehr schultern, als sie arbeitsvertraglich müssten. Wir finden auch, dass die Unterstützung der Landesregierung trotz allem Gemecker mal hier, mal da gut ist. Dass man Flexibilität zu Themen zeigt, wo ich das nie erwartet hätte: Vergaberecht, Kommunalverfassungsrecht und so weiter. Also es passiert eine Menge. Das ist ein Impuls, den wir auch nach der Pandemie nutzen müssen."
Die ist noch lange nicht vorbei. Für Hartmut Wollenteit begann die neue Arbeitswoche heute in dem Wissen, dass in den letzten sieben Tagen 156 Schweriner positiv auf Spuren des Sars CoV-2-Virus getestet worden sind. Macht hochgerechnet auf 100.000 Einwohner eine Inzidenz von 163. Und das ist die gute Nachricht: wieder etwas mehr Abstand zur Einstufung als "Hochrisikogebiet".