Süchtig in Teheran
Jeden Dienstagabend verteilt die NGO "Toloo bi-neshanha" 2000 Portionen Reis in Teheran - an Obdachlose und Süchtige. Denn die Drogen sind eines der größten Probleme Irans und betreffen alle Schichten der Gesellschaft. Die Regierung tut viel, steht aber wegen der Todesstrafe für Drogendelikte in der Kritik.
Ein rechteckiger Innenhof im Südwesten von Teheran. Es ist neun Uhr abends, und es riecht nach gekochtem Reis. 20 Frauen und Männer stehen an zwei langen Tischen und verpacken warmes Essen. Es ist Fließbandarbeit, humanitäre Hilfe im Akkord und bestens organisiert.
Ganz vorne in der Kette stellt ein Mann Styroporschachteln auf den Tisch. Der nächste gibt eine Kelle Reis in die Schachtel - aus einem Metallkessel von mehr als einem Meter Durchmesser. Danach eine Kelle Gheyme, das ist heißer Eintopf mit Tomate und Fleisch.
Am nächsten Tisch stehen sechs, sieben Frauen: Sie schieben die Schachteln in Plastiktüten und dann acht Schachteln in eine große Tüte. Der Stapel am Eingang wächst. Es werden bald 2.000 Portionen sein.
Zwei bis vier Prozent der Bevölkerung im Iran sind süchtig
Toloo bi-neshanha bedeutet "Der Aufstieg der Namenlosen". Toloo ist eine Nicht-Regierungsorganisation, die von Spenden lebt. Ehrenamtliche Helfer und ehemalige Drogensüchtige kümmern sich um Menschen in Teheran - vor allem um Obdachlose, von denen die meisten auch süchtig sind.
Mindestens 1,5 Millionen Iraner sollen abhängig sein, vielleicht sogar drei Millionen - die Zahlen sind nicht eindeutig, aber betroffen sind alle Schichten. Bei etwa 77 Millionen Iranern macht das zwei bis vier Prozent der Bevölkerung.
Die Organisation verteilt nicht nur Essen. Die NGO sieht sich als Gemeinschaft, als Familie, und das ist nicht rührselig gemeint. Drogenabhängige verlieren oft den Kontakt zu ihrer leiblichen Familie, sie werden ausgegrenzt und geächtet. Im Iran trifft das besonders die Frauen. Toloo kümmert sich um alle Abhängigen - auch um Kinder und Jugendliche.
Daniel trägt ein pinkfarbenes T-Shirt und lacht viel. Er ist seit 3 Jahren und 18 Tagen clean. Alle hier wissen auf den Tag genau, wann sie aufgehört haben.
"Ich war elf Jahre lang süchtig und ein Jahr lang obdachlos", sagt Daniel. Was war der Grund? "Es gab in meinem Leben einen Mangel", sagt er.
"Es fehlte an allem, und ich fing mit den Drogen an. Ich nahm alles, was es gibt. Irgendwann verlor ich meine Wohnung und schlief auf Kartons. Dann kam Toloo. Sie haben mir zu Essen gebracht, genau wie heute Abend, und ich hab gesagt: Mein Problem ist nicht das Essen. Ich brauche einen Platz und die Voraussetzungen dafür, dass ich mich ändern kann. Und sie meinten: Wir können dir helfen."
Wenn es um Drogen geht, unterscheidet sich die Situation im Iran erheblich von der in Europa - gesetzlich, gesellschaftlich, geografisch. Der Iran hat eine mehr als 900 Kilometer lange Grenze zu Afghanistan und ist eines der wichtigsten Transitländer für Opium und Heroin.
Afghanistan, Iran, Türkei, Europa: Die Route heißt "Balkanroute", wie bei den Flüchtlingen. Die iranischen Behörden und die Justiz greifen nicht nur an der Grenze kompromisslos gegen Schmuggler durch und beschreiben ihren Kampf gegen den Drogenhandel als wirkungsvoll. 3.700 Polizisten sollen seit der Islamischen Revolution 1979 im Kampf gegen die organisierte Kriminalität getötet worden sein. Das ist auf der Internetseite der iranischen Drogenkontrollbehörde nachzulesen.
Die Hilfe hat auch eine religiöse Ebene
Der Abend bei Toloo, der iranischen NGO für Drogensüchtige und Obdachlose, beginnt mit einem Ritual. Die Helfer stehen neben den Reiskesseln im Kreis und halten sich an den Händen. Einer von ihnen ist Akbar Rajabi, dichtes schwarzes Haar, gekleidet in Brauntönen, ein emotionaler Mensch.
Er hat Toloo vor zehn Jahren gegründet und hält die Gemeinschaft zusammen. Für ihn hat die Hilfe für Bedürftige auch eine religiöse Ebene. Er spricht von Gott und vom Imam Hussein, der den Schiiten heilig ist. Mehrfach an diesem Abend beten alle Helfer zusammen. Es wirkt nicht gezwungen. Es ist Teil des Rituals.
"In unseren Häusern sind zurzeit 300 Leute in unserer Obhut. Im Jahr kümmern wir uns um 1.000 Menschen, die ihre Sucht loswerden wollen. Wir haben auch ein Fußballteam von ehemals Obdachlosen. Das ist die erste Mannschaft überhaupt von Süchtigen, die früher auch obdachlos waren." "Und, sind die gut?" "Heute laufen sie wieder 90 Minuten."
Toloo bi-neshanha bekommt kein Geld vom Staat. Die Stadtverwaltung von Teheran stellt nur die Häuser, in denen Toloo all jene betreut, die neu anfangen wollen. Den Rest zahlt Toloo selbst, zum Beispiel die 2.000 Portionen Reis jeden Dienstagabend.
"Wenn wir Geld brauchen, dann fragen wir die Menschen, und sie bringen uns Geld. Darum ist es gut, dass ich mich auch in einer Welt des Reichtums bewege, in der die Leute viel zu geben haben."
Dem Iran ist in der Drogenbekämpfung die Zusammenarbeit mit dem Ausland und den Vereinten Nationen wichtig. Immer wieder appelliert die Regierung, man möge das Land stärker unterstützen. Seit Jahren arbeitet der Iran mit der UNO-Drogenbehörde UNODC zusammen, und die lobt auf ihrer Homepage ausdrücklich das Engagement des Landes.
"Der Iran hat über die Jahre eine der wirksamsten Anti-Drogen-Kampagnen in der Region aufgebaut. Das Land investiert jedes Jahr Millionen Dollar in die Kontrolle der Grenzen zu Afghanistan und Pakistan und den Bau von Sperranlagen. Das Landesbüro der UNO-Drogenbehörde hat die nationale Drogenbekämpfung und die Grenzsicherung mit vielen - auch internationalen - Initiativen unterstützt."
Rund zwei Drittel der Hinrichtungen gehen auf Drogendelikte zurück
Doch genau deswegen steht die UNO in der Kritik, nicht nur bei Menschenrechtlern. Viele Länder zögern bis heute, dem Iran im Kampf gegen die Drogen zu helfen. Der Grund ist die Todesstrafe. Es gibt 17 Drogendelikte im iranischen Betäubungsmittelgesetz, die mit dem Tod bestraft werden konnten - schon der Besitz genügt: Unter bestimmten Bedingungen reichen fünf Kilogramm Opium oder 30 Gramm Heroin.
Die Kritik daran wurde zuletzt so laut, dass das Parlament eine Gesetzesänderung auf den Weg gebracht hat - mit dem Ziel, die Todesstrafe deutlich seltener zu verhängen, also nur noch gegen die Köpfe von Drogenkartellen, gegen Wiederholungstäter und im Falle von bewaffnetem Drogenschmuggel.
Denn gemessen an der Einwohnerzahl richtet kein Land auf der Welt so viele Menschen hin wie der Iran. Menschenrechtler berichten von knapp 1.000 Exekutionen im Jahr 2015, laut Amnesty International waren es deutlich mehr. Sicher ist nur: Rund zwei Drittel der Hinrichtungen im Iran gehen auf Drogendelikte zurück.
Es ist 22 Uhr in Teheran. 2.000 Reisportionen sind verpackt, der Stapel wird mit Wolldecken gewärmt. Die Helfer der NGO versammeln sich in einem Saal mit einer riesigen Iran-Fahne als Fototapete in grün-weiß-rot, darauf die Internetadresse: www.toloo.org.
Die Zahl der cleanen Tage wird gefeiert
In der Halle feiert die Organisation jeden Dienstag Geburtstag. Jedes Geburtstagskind bekommt eine kleine Torte mit einer Zahl als Kerze darauf. Die Zahl ist nicht das Lebensalter, sondern die Zahl der Jahre seit dem Entzug: So lange bin ich jetzt clean, heißt das.
Ibrahim tritt ans Mikrofon.
"Vor 22 Monaten wollte ich mich umbringen. Ich sah keinen Ausweg mehr. Ich dachte, wenn ich mich umbringe, dann wird meine Familie wieder Ruhe finden, vor allem meine drei Töchter. Sie werden eine Weile trauern und dann ihr normales Leben weiterleben. Gott sei Dank habe ich dann Toloo getroffen."
Die Zeremonie dauert mehr als eine Stunde. Ein Mensch nach dem anderen kommt nach vorn und berichtet. Zwischendrin gibt es Musik auf traditionellen Instrumenten - auch die Musiker waren früher süchtig. Eine Jugendliche tritt ans Mikrofon, sie ist modisch angezogen, trägt Sneakers und Kopftuch in pink.
"Im Namen Gottes", sagt sie, "ich bin Sahra, ich bin süchtig und seit 37 Tagen clean". Sahra war drei Jahre lang abhängig. Sie ist 15.
Sahra erzählt, dass sie ab und an bei ihrer Familie war, dort aber auf Ablehnung stieß und immer seltener hinging. Bei einem Ausflug ans Kaspische Meer lernte sie jemanden von Toloo bi-neshanha kennen. Sahra beginnt zu weinen. Zwei Frauen stehen auf, nehmen sie in den Arm.
Und Akbar Rajabi, der Gründer von Toloo, sagt ins Mikrofon: "Ich schwöre Dir, wenn Du durchhältst, dann feiern wir in ein paar Jahren Deinen Eintritt in die Uni".
Crystal Meth wird in Fitnessstudios angeboten
Die Zahl der süchtigen Frauen im Iran nimmt zu. Das räumt auch Shahindokht Molaverdi ein. Sie ist Stellvertreterin von Präsident Hassan Rohani, und zuständig für Frauen und Familie. Sie berichtet, dass zehn Prozent aller Süchtigen im Iran Frauen sind. Viele Frauen nehmen Crystal Meth - als vermeintlichen Schlankmacher, weil die Droge das Hungergefühl unterdrückt. Crystal Meth wird in Schönheitssalons und Fitnessstudios angeboten.
Viele Frauen nehmen Drogen, weil sie unter Depressionen leiden: Das Land bildet sie an den Hochschulen bestens aus, hat dann aber keine angemessenen Stellen für sie. Frauen aus ärmeren Schichten erzählen, dass ihre Männer sie unter Drogen setzen und als Prostituierte arbeiten lassen, um Geld zu verdienen.
Es ist fast Mitternacht in Teheran. Die Helfer von Toloo singen zusammen, dann beginnt die eigentliche Arbeit, und es regnet in Strömen. Die Helfer beladen die Autos mit Reispaketen und fahren zu den Brennpunkten, auch Akbar Rajabi fährt mit, der Gründer der Organisation. Viele der drogensüchtigen Obdachlosen leben im ärmeren Süden von Teheran.
Die Regierung ist sich der gesellschaftlichen Folgen der Drogensucht bewusst und tut viel - das ist bei aller Kritik an der Todesstrafe und den Gerichtsprozessen unbestritten. Neben der Drogenkontrollbehörde ist vor allem die staatliche Wohlfahrtsorganisation zuständig.
Es gibt hunderte Suchtzentren im Land, es gibt Methadon-Programme und HIV-Prävention, auch in den Gefängnissen. Aber einen Großteil der Arbeit leisten neben dem Staat die NGOs wie Toloo bi-neshanha.
Die Untergrundpartys sind fast schon ein Klischee
Es gibt im Iran keine Unterhaltungsindustrie, keine Infrastruktur zum Ausgehen für junge Leute, schon gar nicht für beide Geschlechter. Es gibt wenige Kinos, keine Discos, keine Clubs, keine Rockkonzerte.
Viele Jugendliche treffen sich in Parks und Cafés, fühlen sich aber nicht sicher, weil sie vielleicht doch beobachtet werden. Die Folge ist ein massiver Rückzug - aus einem kontrollierten öffentlichen Raum ins Private. Die Teheraner Untergrundpartys sind schon fast ein Klischee, und Drogen gibt es dort jede Menge. Viele junge Leute fahren zum Feiern raus aus den Städten, in die Wüste. Dort sind sie frei. Und unbeobachtet.
Akbar und die Helfer von Toloo fahren langsam über die Autobahn, es ist stockdunkel, die Autos haben die Warnblinkanlage eingeschaltet. Ein Halt auf dem Standstreifen, es schüttet wie aus Kübeln. Die Helfer tragen Stirnlampen, gebückt gehen sie hinein in ein gemauertes Gewölbe, drei Meter breit, nicht ganz so hoch - und mehr als 100 Meter lang. Es ist warm und trocken, die Luft ist rauchig, denn es brennen Lagerfeuer.
Es sind Menschen hier, viele Menschen, es müssen an die hundert sein. Sie sind alle obdachlos, die meisten sind süchtig. Ein paar Männer sitzen und liegen auf Kartons und Decken, einer von ihnen schläft.
Die Helfer von Toloo verteilen den warmen Reis, die Tüten rascheln, die Stirnlampen werfen Lichtkegel auf den Sandboden. Ein Junge läuft auf uns zu. Er ist keine acht Jahre alt, in der Hand hält er ein Smartphone. Auch er sucht Schutz vor dem Regen, es ist ein Uhr früh in Teheran.
Es gibt Anzeichen für ein Umdenken im Iran. Die Justiz hat schon mehrfach Todesurteile umgewandelt - in lebenslängliche Haft. Das Regime scheint begriffen zu haben, wie sehr die Todesstrafe dem Ansehen des Landes schadet. Auch prominente Politiker sprechen es deutlich aus: Die Todesstrafe führt nicht dazu, dass Drogenhandel und -konsum abnehmen. Mehrfach hat das Mohammed Javad Larijani gesagt, Chef des iranischen Menschenrechtsrates. Aber auch sein Bruder Sadegh, immerhin Chef der Justiz, hat sich in diese Richtung geäußert.
Es bleibt abzuwarten, ob die Gesetzesänderung im Parlament tatsächlich durchkommt und ob der einflussreiche Wächterrat sie danach billigt. Es wäre ein großer Schritt für das Land, die Todesstrafe künftig zumindest seltener zu verhängen.
"Ich würde sterben, damit ein anderer Mensch am Leben bleibt"
Es ist zwei Uhr morgens. Akbar Rajabi fährt zum "Haus der Hoffnung". Das ist eines der Zentren, das Toloo bi-neshanha betreibt. Hier leben rund 120 Männer, die neu anfangen wollen. In einem Raum im ersten Stock sitzen fünf, sechs Männer auf Teppichen, es läuft ein Fernseher. Das sind die Neuankömmlinge. Die, die einen Neuanfang versuchen wollen. Die Augäpfel der Männer sind hervorgetreten, sie werden mindestens eine Woche lang in diesem Raum bleiben, um zu entgiften.
Kurz darauf geht es mit einem Taxi zurück in die Innenstadt von Teheran. Die Fußballmannschaft von Toloo bi-neshanha hat in zwei Tagen wieder ein Spiel, am Tag darauf gibt es ein Sommerfest für Kinder.
Aber zwischendurch fährt Akbar Rajabi, der Gründer von Toloo, immer wieder rauf in die Berge. Er geht mit Freunden schwimmen und kommt etwas zur Ruhe, bevor er und seine Helfer wieder 2.000 Portionen Reis kochen und an die Obdachlosen und Süchtigen verteilen, an einem Dienstagabend, im Süden von Teheran.
"Ich würde sterben, damit ein anderer Mensch am Leben bleibt. Schau mir in die Augen, Du wirst sehen, dass ich nicht bluffe."