Wie die Deutschnationalen sich aus der Verantwortung stahlen
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Vor 100 Jahren wurde der Versailler Vertrag unterzeichnet - unter Duldung des Militärs, das sich zuvor aus der Verantwortung gezogen hatte. Von der deutschnationalen Rechten wurden die Unterzeichner im Anschluss als "Volksverräter" diffamiert.
Die Geschichte der Unterzeichnung des Versailler Vertrages hat eine Vorgeschichte. Deren Hauptfigur ist Erich Ludendorff, der Kopf der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg. Als er Ende September 1918 völlig überraschend der Reichsregierung in Berlin mitteilte, dass er den Zusammenbruch der Front für unvermeidlich halte und sie aufforderte, sofort Friedensverhandlungen mit den Alliierten aufzunehmen, landete er einen Coup: Er überließ es den Politikern der neuen Regierung, den bitteren Schlussstrich unter den Krieg zu ziehen.
"Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben!"
Die Feinde der Demokratie wurden leise
Ludendorff schiebt die Verantwortung für das vornehmlich von ihm zu verantwortende militärische Desaster einer zukünftigen Reichsregierung in die Schuhe. Und der SPD-Co-Vorsitzende Philipp Scheidemann ruft am 9. November 1918 mit zwei aufschlussreichen Sätzen die Republik aus:
"Die wirklichen inneren Feinde, die Deutschlands Zusammenbruch verschuldet haben, sind still und unsichtbar geworden. Diese Volksfeinde sind hoffentlich für immer erledigt."
Die Feinde der Republik waren still geworden – aber nicht für immer erledigt. Sie hielten sich still im Hintergrund, als am 11. November 1918 der Waffenstillstand unterzeichnet werden musste. Nicht die Vertreter der Obersten Heeresleitung, Hindenburg und Ludendorff, stellten sich hier ihrer Verantwortung – sondern der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger vollzog das Unvermeidliche:
"Die deutsche Regierung wird mit allen Kräften für die Durchführung der gestellten Bedingungen sorgen."
Diese Erklärung hatte ihm Friedrich Ebert geschickt, der sozialdemokratische Chef der Revolutionsregierung. Mit den Wahlen zur Nationalversammlung nahm die parlamentarische Demokratie dann Formen an, Deutschland hatte ab Januar 1919 erstmals eine demokratisch legitimierte Regierung – und die stand vor der Herausforderung, nach dem Krieg des Kaiserreiches den Frieden für die Republik zu schließen.
Ein Aufschrei nationaler Empörung
Nur einen Tag vor den Wahlen begannen in Paris die Verhandlungen zum Versailler Vertrag. Deutschland war von den Verhandlungen ausgeschlossen. Die ehemaligen Kriegsgegner gingen mit der Republik um, als würden noch der Kaiser und seine Militärs regieren, die verantwortlich für den Krieg gewesen waren.
Das war fatal. Denn als der deutschen Friedensdelegation am 7. Mai die Bedingungen für den Friedensvertrag überreicht wurden, reagierten die Deutschen mit einem Aufschrei nationaler Empörung. Philipp Scheidemann war Regierungschef, und er stellte in der Aula der Berliner Universität die rhetorische Frage:
"Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?"
Das Risiko eines erneuten Krieges
Mit dieser pathetischen Ablehnung des Vertrages konnten Scheidemann und seine Regierung am 20. Juni nur noch zurücktreten, als die Alliierten ernst machten: Sie bestanden ultimativ darauf, dass Deutschland den Friedensvertrag unterzeichnet. Die Regierung hatte 24 Stunden Zeit, den Vertrag anzunehmen.
Und sonst? Die Alternative wäre gewesen, die Wiederaufnahme des Krieges zu riskieren.
Ob das möglich gewesen wäre: Das war nicht nur eine Frage des Wollens, sondern auch des Könnens. Der Weltkriegshistoriker Gerd Krumeich meint provokativ, dass die Deutschen zwar keinen Krieg mehr hätten führen können, die Alliierten aber auch nicht mehr:
"Das ist auch in der Forschung gar nicht umstritten, dass man größte Schwierigkeiten gehabt hätte, die französischen Soldaten nach viereinhalb Jahren Krieg noch einmal für einen Eroberungskrieg in Deutschland zu mobilisieren. Es ist auch eine moralische Frage. Ich hätte auch nicht unterschrieben, genausowenig wie Max Weber, wie Ernst Troeltsch und andere Geistesgrößen der damaligen Zeit – ohne mich sonst zu vergleichen."
Hätte die damalige Regierung ein solches Wagnis eingehen können? Wäre die Antwort der Alliierten kalkulierbar gewesen? Oder hätte eine zumindest teilweise Besetzung Deutschlands gedroht?
"Der Friede muss geschlossen werden"
Reichswehrminister Noske, SPD, prüfte die militärischen Möglichkeiten, aber Generalfeldmarschall von Hindenburg teilte der Reichsregierung am 20. Juni mit:
"Wir sind bei der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten militärisch in der Lage, im Osten die Provinz Posen zurückzuerobern und unsere Grenzen zu halten. Im Westen können wir bei ernstlichem Angriff unserer Gegner angesichts der numerischen Überlegenheit der Entente und deren Möglichkeiten (...) kaum auf Erfolg hoffen. Ein günstiger Ausgang der Gesamtoperationen ist daher sehr fraglich, aber ich muss als Soldat den ehrenvollen Untergang einem schmählichen Frieden vorziehen."
Am 23. Juni rief Reichspräsident Ebert bei der Obersten Heeresleitung an und hatte General Groener am Apparat. Der verdeutlichte ihm die aussichtslose militärische Lage mit der abschließenden Empfehlung:
"Der Friede muss daher unter den vom Feinde gestellten Bedingungen abgeschlossen werden."
Damit hatte die Regierung nichts mehr in der Hand, um sich den Alliierten entgegenzustellen – es sei denn, sie wäre der Logik Hindenburgs gefolgt und hätte den Untergang des Staates riskiert.
Die Unterzeichner galten als "Vaterlandsverräter"
Scheidemann musste als Regierungschef zurücktreten, weil er sich mit seiner leichtfertigen Bemerkung die Hände gefesselt hatte. Ein anderer musste an seine Stelle treten und das Unvermeidliche vollziehen. So unterschrieben am 28. Juni Außenminister Hermann Müller, SPD, und Verkehrsminister Johannes Bell von der katholischen Zentrumspartei in Versailles den Friedensvertrag.
Die Nationalversammlung hatte sich zuvor mehrheitlich für die Unterschrift entschieden, mit 238 gegen 137 Stimmen. Die republikfeindlichen Deutschnationalen, die konservative Volkspartei und einige liberale Abgeordnete stimmten dagegen. Alle wussten, unter welchem Druck die Entscheidung zustande kam – und von den Deutschnationalen kam sogar ein versöhnliches Signal an die Sozialdemokraten:
"Meine Partei setzt als selbstverständlich voraus, dass jedes Mitglied der Nationalversammlung seine eigene Stellung nach bestem Wissen und Gewissen einnimmt", bekundete ein Mitglied der DNVP.
Wenig später spielte all das keine Rolle mehr. Die Unterzeichner des Waffenstillstandes und des Friedensvertrages wurden von der Rechten als Vaterlandsverräter bezeichnet.
Die Propagandalügen des Militärs
Am 18. November 1919 spitzte der im Juni zurückgetretene Reichswehrchef Hindenburg die von Ludendorff im Jahr zuvor schon insinuierte Dolchstoßlegende vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Kriegsschuldfrage noch zu:
"Ein englischer General sagte mit Recht: Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden. Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen."
Das war die Propagandalüge, mit der sich die militärische Führung aus ihrer Schuld an der Niederlage davonstahl. Aber sie war wirkungsvoll, weil die Frage, wie sich eine nationale verantwortungsvolle Regierung im Juni 1919 zum Versailler Vertrag verhalten musste, völlig in den Hintergrund rückte.
Die gleichen politischen Kräfte, die die Niederlage im Krieg zu verantworten hatten, machten sich in dessen Schatten daran, die erste demokratische Republik in Deutschland wieder zu Fall zu bringen.