Das Ende einer Ära
Die Suche nach Nähe. Sie bewegt die meisten Menschen bis ihre Herzen aufhören zu schlagen: "Until Our Hearts Stop", so heißt auch das Stück der Choreografin Meg Stuart an den Münchner Kammerspielen. Es ist die fulminante letzte Premiere, mit der die Ära des bisherigen Intendanten Johan Simons endet.
Am liebsten, erklärt Meg Stuart in einem Einführungs-Film, den die Münchner Kammerspiele vor jeder Vorstellung zeigen, hätte Sie mit einer Big Band gearbeitet. Stattdessen steht nun ein Jazz-Trio neben den sechs Darstellern auf der weitgehend leeren, nur mit violettem Teppich und einem quadratischen, schwarz glänzenden Tanzboden ausgelegten Bühne (Doris Dziersk): Piano, Schlagzeug, E-Bass. Aber auch zu dritt bekommen die Musiker um Bassist Paul Lemp, der schon lange mit Stuart zusammenarbeitet, einen fetten Sound hin, der dem massiven Klang einer Big Band um nichts nachsteht.
Es beginnt allerdings mit schwebenden, fast konturlosen Klängen, zu denen die Performer in fast zeitlupenartiger Langsamkeit den Raum und vor allem einander erkunden. Annähern, Abtasten, Abstoßen. Sie legen sich auf- und übereinander, beklettern sich wechselseitig. Erst in Zweierkonstellationen, dann als Gruppe. Die Musik nimmt Fahrt auf, die Bewegungen werden schneller. Menschenpyramiden werden gebildet, stürzen aber in sich zusammen, ehe sie fertig sind. Zum zunehmend getriebenen, entfesselten Sound der Jazzer verbinden sich die sechs Darsteller zu einem Knäuel aus Begehren und Verzehren. Dann kehrt Stille ein. Ruhe. Nur ein atemloses Hecheln ist noch zu hören, dass langsam verflacht. Es ist dieser Rhythmus aus Aufwallung und Abebben, der diesen grandios getakteten Abend prägen wird bis zum Schluss. Ein Abend, ein Rhythmus, der die Zuschauer mitreißt, hineinzieht.
Nähe zum Publikum
Hineinziehen, einbeziehen – das will Meg Stuart, deren Akteure die Nähe auch zum Publikum suchen. In einem kleinen pantomimischen Moment von großer Komik rennt der hinreißende Kristof van Boven (einziger Schauspieler aus dem Kammerspiele-Ensemble unter lauter Damaged Goods-Akteuren, die Stuart für die Produktion mitgebracht hat) gegen die unsichtbare vierte Wand. Die freilich ist längst eingerissen. Das Ensemble ist ins Publikum ausgeschwärmt, verteilt Kuchen, Obst, Wohnungsschlüssel, Ton zum Kneten. Verstrickt einzelne Theaterbesucher in private Gespräche, intime Momente. Rückt ihnen auf die Pelle. So nahe kommt einem Theater selten. Auch das: eine Grenzüberschreitung.
Grenzen werden noch viele überwunden während der zweistündigen Aufführung. Die Grenze zur Blödelei. Die Grenzen des Wahrscheinlichen (dank Zaubereinlagen). Auch Schamgrenzen. Minutenlang umschlingen sich ringend Claire Vivianne Sobottke und Maria F. Scaroni nackt. Reiben Scham und Brustwarzen aneinander, kneten einander die Brüste, machen Handstand gegen die Wand gelehnt und dabei gymnastische Übungen.
Mit den Zehenspitzen an den Schamlippen kitzeln
Ihre ausgestellte Nacktheit, die wirklich alles sichtbar macht, wäre anstößig, wäre sie nicht von lustvollen Albernheiten begleitet, wenn sich etwa Sobottke und Scaroni mit den Zehenspitzen an den Schamlippen zwischen den gespreizten Schenkeln kitzeln. Es ist diese neckische Natürlichkeit, der Unernst solcher Situationen der darauf verweist, dass das Theater ein Raum ist, wo mit spielerischer Leichtigkeit Grenzen ausgelotet und auch zum Fallen gebracht werden können.
Mit Meg Stuarts "Until our Hearts Stop" als letzter Premiere der Ära Johan Simons hat der scheidenden Intendant der Münchner Kammerspiele nochmal ein Ausrufezeichen gesetzt: Seht her! Soweit sind wir in den letzten fünf Jahren mit der internationalen und interdisziplinären Öffnung des Hauses gekommen! Das Feld ist bestens bestellt für Nachfolger Matthias Lilienthal, der im Herbst übernimmt und Simons' Ansatz weiterentwickeln soll und will. Die Messlatte liegt hoch.